Kairo zwischen Vision und Krise

Neben den wirtschaftlichen Problemen am Nil leiden vor allem viele von Armut betroffene Ägypter unter der verheerenden Wohnsituation in den Städten – insbesondere in der Megacity Kairo. Hierüber sprach Jenin Elena Abbas mit der Städtebauexpertin Franziska Laue.

Von Jenin Elena Abbas

Frau Laue, die ägyptische Hauptstadt Kairo kämpft seit Jahren mit einem immensen Bevölkerungswachstum und einer wachenden sozialen Ungleichheit. Wie hat sich die Stadt in den letzten Jahren entwickelt?

Franziska Laue: Wenn wir über die Zeit nach der Revolution 2011 sprechen, dann muss Kairo sich eigentlich schon seit Jahrzehnten mit dem natürlichen Bevölkerungswachstum und der Landflucht auseinandersetzen. Das natürliche Bevölkerungswachstum liegt ungefähr bei 2,5 bis 3 Prozent, wobei ägyptische Städte um 4 Prozent jährlich wachsen. Laut der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sind es alle acht Monate knapp eine Millionen mehr Menschen durch natürliches Bevölkerungswachstum. In Kairo spricht man von einer Bevölkerungszahl von ca. 18 bis 20 Mio. Einwohner im Großraum Kairo. Kairo gehört somit zu den sogenannten Megacities, Städte mit über 10 Millionen Einwohnern. Die Stadt hatte seit jeher als Hauptstadt eine Magnetfunktion und ist insbesondere zwischen den 1970er und 1990er Jahren enorm gewachsen und ist nun die größte Stadt des Landes.

Dieses enorme Wachstum führte unter anderem dazu, dass der reguläre Wohnungsmarkt die steigenden Bevölkerungszahlen nicht mehr absorbieren konnte. Informelle Siedlungen sind in diesen Jahren enorm gewachsen, so dass heute im Großraum Kairo laut GIZ geschätzt 80 Prozent des neueren Wohnbestandes informell ist. Laut GIZ sind es 9,5 Millionen Einwohner von den 18 bis 20 Millionen, die im Großraum Kairo in informellen Siedlungen leben.

Es gibt allerdings noch andere Dynamiken, die eine Rolle spielen. Dazu gehören mindestens drei parallele Entwicklungen: Zunächst ist es die offizielle Planung von Stadterweiterung, Stadtquartieren, durchgeführt durch die lokalen Planungsentitäten mit ministerieller Beteiligung. Eine besondere Aktivität ist die Neuplanung von ganzen Städten – Ägypten verfolgt die Politik von neuen Städten unter anderem als Antwort auf diese starken Verdichtungen und Problematiken in bestehenden Städten.

Als zweite Dynamik gibt es den lokalen und internationalen privaten Bausektor, der Wohnraum für die mittlere und obere Einkommensschichten errichtet. Hier sind insbesondere die "Gated Communities" außerhalb der Kernstadt von Kairo (wie z.B. 6th of October, Shourouk City oder New Cairo) zu erwähnen. Dieser Trend hält seit Mitte der 2000er Jahre weiterhin an. Die dritte Dynamik bezieht sich auf Bevölkerungsgruppen, die sich Wohnraum, angeboten auf dem formellen Markt, nicht leisten können. Dieser inoffizielle, parallele Wohnungs- und Bausektor wird auch als informeller Wohnungsmarkt bezeichnet. Hier geht es beispielsweise um junge Familien, zu einem wichtigen Teil auch um Menschen, die aus ländlichen oder strukturschwachen Gebieten nach Kairo kommen. Sie finden leichter Wohnraum in den nicht formell geplanten als in den formellen Gebieten.

Steht hinter der Stadtentwicklung Kairos eine langfristige politische Strategie bzw. ein Plan für die gesamte Infrastruktur?

Laue: Für Kairo gab es bereits in der Vergangenheit diverse Pläne, unter anderem den "Cairo 2050"-Plan, aus der Mubarak-Ära. Dieser Plan beinhaltet ja auch eine signifikante Umstrukturierung einiger zentraler und peripherer Gebiete von Kairo. Beispielsweise war darin von der Vision einer großen Stadtachse zu den Pyramiden die Rede, was signifikante Bereiche in Giza komplett betroffen hätte. Das hätte auch große Bereiche informeller Wohngebiete beeinträchtigt. Die Revolution von 2011 kann daher als eine wichtige Zäsur gesehen werden, zumal auch der Zivilgesellschaft eine größere Rolle zukam. Gerade zwischen 2011 und 2013 hat man gespürt, dass offizielle Stellen mit zivilen Akteuren und Vereinen und NGOs zusammengearbeitet haben. Ein Beispiel ist das Umweltministerium.

Auch sind im Bereich der Stadtentwicklung und der Architektur sogenannte "Community Architects", also engagierte Architekten, Planer und soziale Unternehmen stärker in einen Diskurs miteingetreten und sichtbar geworden. Zudem gab es Nachbarschaften wie Miit Oqba in Giza, die sich dann bemüht haben, selbst städtebauliche Lösungen zu finden. In der Planung spürte man also in dieser Zeit eine erste Umorientierung.

Allerdings könnte man vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche vom Sommer 2013 wiederum von einer Zäsur sprechen. 2011 bis 2013 gab es zwar vermehrt Kooperationen auf der akademischen und internationalen Ebene, man hat das Thema informelle Siedlungen in partizipativen Prozessen weiter vorangetrieben. Doch ab 2013 wurde dies erneut erschwert, d.h. Planungen jenseits der Masterplanung, die noch in der Umorientierungsphase waren, wurden wieder schwieriger. Dann wurde 2014 zunächst ein neues Ministerium, das sogenannte "Ministerium für Stadterneuerungen und informelle Siedlungen" ins Leben gerufen – ein Ministerium, das erstmals auf höchster Ebene für informelle Siedlungen zuständig war. Allerdings existierte dieses Ministerium nur 14 Monate. Nach einem Umstrukturierungsprozess im Jahr 2015 ging es im "Ministerium für Wohnen" auf.

Bis dahin gab es das ambitionierte Vorhaben des Ministeriums, den informellen Siedlungen zu mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit zu verhelfen. Man wollte nun wichtige Infrastrukturmaßnahmen einleiten und die Lebensumstände verbessern. Hierbei spielte auch das Thema Müllentsorgung eine Rolle und die schwierigen Bedingungen der "Zabaleen" sowie um ihren ökonomischen Status als informelle Müllsammler. Doch nach der Auflösung des "Ministeriums für Stadterneuerungen und informelle Siedlungen" ist der Fokus auf informelle Siedlungen und der politische Wille, mit den Bewohnern der informellen Siedlungen zusammenzuarbeiten abhanden gekommen bzw. nicht mehr so sichtbar wie zuvor.

Hat man bei der Planung neuer Städte im Großraum Kairo auch an die Lösung der gravierenden Verkehrsprobleme gedacht?

Staus an den Zufahrtsstraßen zum zentralen Tahrirplatz in Kairo; Foto: AFP/Getty Images/Khaled Desouki
Alltägliches Verkehrschaos im Moloch Kairo: "Letztendlich hat sich die Großstadt jahrzehntelang auf der Basis eines eher verkehrsfreundlichen Leitbildes weiterentwickelt. Wenn man also die Planungen für viele PKW auslegt, dann kommen auch immer mehr Autos hinzu - und somit gibt es keine stärkere Infrastruktur für den Schienenverkehr. Das ist ein Teil dieses Zeitgeistes und von Planungsrichtlinien, wie man sie auch aus Europa oder Nordamerika kennt", so Franziska Laue.

Laue: Die Kernstadt Kairo hat tatsächlich ein Verkehrsproblem, jedoch nicht allein aus baulichen und rein räumlichen Gründen, sondern auch wie Mobilität verstanden wird und was dafür getan wird. Bei der Planung von neuen Städten gehört es natürlich mit zu den strategischen Überlegungen beim Verkehr eine gewisse Erleichterung zu schaffen. Jedoch sind Stadtplanungen in Kairo ja nie einfach – selbst wenn der Regierungsdistrikt Kairo vorhat, lediglich die U-Bahn-Netze oder den öffentlichen Nahverkehr auszubauen.

Letztendlich hat sich die Großstadt jahrzehntelang auf der Basis eines eher verkehrsfreundlichen Leitbildes weiterentwickelt. Wenn man also die Planungen für viele PKW auslegt, dann kommen auch immer mehr Autos hinzu  - und somit gibt es keine stärkere Infrastruktur für den Schienenverkehr. Das ist ein Teil dieses Zeitgeistes und von Planungsrichtlinien, wie man sie auch aus Europa oder Nordamerika kennt. Wie reguliert man also diese ganze Frage des Verkehrs und wer agiert dagegen, wenn man die Intention hat, den motorisierten Verkehr zu verringern? Ist das überhaupt möglich? Und gibt es eine Lobby, die stark genug wäre, dass die Entwicklung gar nicht erst dorthin führt? An sich müsste es eine komplette Neustrukturierung des gesamten Verkehrssystems geben. Und es bedarf einer neuen Mobilitätskultur.

Das Interview führte Jenin Elena Abbas.

© Goethe Institut Kairo 2018

Franziska Laue forscht zum Thema Klimaanpassungsstrategien im urbanen ariden Kontext. Sie hat im Bereich Stadtentwicklung u.a. in Aleppo (2005,2007-2011) und Kairo (2013) gearbeitet.