Grauzonen politischen Handelns

Ägyptens religiöse Hardliner führen seit langem eine Justiz- und Medienkampagne gegen kritische Intellektuelle, um sie zum Schweigen zu bringen. Der Staat mache sich zum Komplizen, wenn er dabei wegschaut, anstatt einzugreifen, kritisiert der Politikwissenschaftler Amr Hamzawy.

Symbolbild Unterdrückung der Pressefreiheit; Foto: dpa
Schlechte Aussichten für Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung: Der ägyptische Staat unternimmt zu wenig, um einen Missbrauch der Religion als Mittel zur Beschränkung der Meinungsfreiheit zu verhindern.

​​Die Religion wird in der öffentlichen Debatte in Ägypten vielfach als Mittel zur Rechtfertigung von Verboten, zur Einschüchterung und Unterbindung von Meinungsfreiheit missbraucht und damit auf diese Rolle reduziert.

So entfernt sie sich immer mehr von ihrem eigentlichen Sinn als Glaubens- und Wertesystem, das der Gesellschaft als Ganzes und ihren Bürgern als Individuen als Verhaltensrichtschnur dienen sollte.

Auch in diesem Jahr ist es bereits zu mehreren Vorfällen gekommen, die diese Tendenz bestätigen. Im April beschied zunächst das Verwaltungsgericht in Kairo, der vierteljährlich vom Allgemeinen Schriftstellerverband herausgegebenen Zeitschrift "Ibda'" (zu Deutsch "Kreativität") sei die Lizenz zu entziehen, weil sie das Gedicht "Leila Murads Balkon" des Lyrikers Hilmi Salem veröffentlicht hatte, das als Gotteslästerung empfunden wurde.

Religiöse Hardliner auf dem Vormarsch

Darauf folgte eine von Vertretern religiöser Gruppen angestoßene, bis heute anhaltende Justiz- und Medienkampagne, die das Kulturministerium schließlich dazu veranlasste, den Sayid al-Qimani und Hassan Hanafi im letzten Juni verliehenen staatlichen Ehrenpreis für Sozialwissenschaften wieder zu entziehen.

Die beiden renommierten Schriftsteller werden von den Initiatoren der Kampagne bezichtigt, wegen angeblich wiederholter Warnungen vor der Einmischung der Religion in Kunst, Literatur und Wissenschaft den "Islam" in Frage gestellt zu haben.

Dabei ging es den Beklagten lediglich darum, aufzuzeigen, dass im Namen der Religion als einzige und letztgültige Instanz Urteile und Gesetze gegen Werke erlassen werden, die freiem und schöpferischen Denken entspringen.

Dieser Umstand beschränkt sich keineswegs nur auf islamische Kreise, sondern zeigt sich auch am Beispiel der anhaltenden Proteste koptischer Institutionen und Würdenträger gegen literarische und andere künstlerische Werke, wie etwa gegen den Roman "Azazil" (Hebräisch für "Teufel" oder "Hölle") des Schriftstellers Jussuf Zidan oder diverse Spielfilme der letzten Jahre (z.B. die beiden Filme "Ich liebe das Kino" von Ossama Fawzi oder "1:0" von Kamila Abu Zekra).

Die Hintergründe und Ursachen dieses Phänomens sind vielfältig und würden eigentlich einen ruhigen und konstruktiven Dialog erfordern, um die Verflechtung von Religion und Meinungsfreiheit zum Schutze beider aufzulösen.

Im Konflikt mit der Verfassung

Offiziell heißt es zwar in Artikel 47 der ägyptischen Verfassung: "Die Meinungsfreiheit wird garantiert. Jeder Mensch hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift, Bild oder mit anderen Ausdrucksmitteln innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Rahmens öffentlich frei zu äußern. Selbstkritik und konstruktive Kritik sind Garanten für das Wohlergehen der Nation."

Parlamentarier während einer Abstimmung in Kairo; Foto: AP
Balanceakt zwischen gesellschaftlicher Säkularisierung und Modernisierung einerseits und Kollaboration mit einflussreichen religiösen Institutionen andererseits: Ägyptens Parlamentarier in Kairo

​​Und in Artikel 49 verbrieft der Staat seinen Bürgern "die Freiheit wissenschaftlicher Forschung, literarischen, künstlerischen und kulturellen Schaffens" und verspricht "die Bereitstellung notwendiger Mittel zu deren Förderung".

In der Praxis sind diese verfassungsmäßigen Garantien der wissenschaftlichen, künstlerischen und publizistischen Freiheit jedoch durch vier gravierende Faktoren eingeschränkt:

Erstens umfasst die Verfassung selbst noch ganz andere Artikel, insbesondere Artikel 2, wo es heißt: "Der Islam ist Staatsreligion und die arabische Sprache Amtssprache. Die Prinzipien der islamischen Scharia sind Hauptquelle der Gesetzgebung."

Und Artikel 12: "Die ägyptische Gesellschaft ist der Achtung und dem Schutz der guten Sitten, der Stärkung originär ägyptischer Traditionen und der Wahrung eines hohen Niveaus religiöser Bildung, moralischer Werte und allgemeinen Wohlverhaltens verpflichtet."

Derartige Artikel wiederum haben sich bestimmte Kreise zu Nutze gemacht, um die Meinungsfreiheit im Namen des Schutzes der Religion mittels höchstrichterlicher Urteile stark einzuschränken.

Sie fordern den Staat mit seinen legislativen und exekutiven Organen lautstark auf, von Gesetzen, Verordnungen oder Erlassen abzusehen, die den Gesetzen der islamischen Scharia widersprechen oder Sakrosanktes angreifen. Der gerichtliche Lizenzentzug für "Ibda'" stützte sich ebenso auf eben diese beiden Artikel der Verfassung wie die Kampagne zur Aberkennung des Preises für al-Qimani und Hassan Hanafi.

Gesetze gegen die Meinungsfreiheit

Zweitens sorgen dafür eine ganze Reihe von entsprechenden Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. So zum Beispiel Gesetz Nr. 102 von 1985, das den Druck von Koranausgaben und Sammlungen der Aussprüche des Propheten Mohammad regelt, der Erlass des ägyptischen Staatsrates aus dem Jahre 1994 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten der renommierten al-Azhar-Universität und des Kulturministeriums im Umgang mit künstlerischen und audio-visuellen Werken zu islamischen Themen.

Erwähnenswert wäre auch der Erlass des ägyptischen Justizministers aus dem Jahre 2004, der den Inspektoren der al-Azhar als quasi außerordentlichen Gerichtsvollziehern zugesteht, religiöse Drucksachen, Tonaufnahmen und Predigten zu konfiszieren, sofern diese den Vorschriften der Scharia oder den islamischen Prinzipien und Werten widersprechen.

De facto verleiht dies der al-Azhar und deren Akademie für Islamische Studien das Recht, neben religiösen auch künstlerische, literarische und wissenschaftliche Werke allein mit dem Hinweis auf deren religionswidrige Aussagen zu zensieren und zu beschlagnahmen.

Tatsächlich ist es in den vergangenen Jahren auf Weisung der Akademie für Islamische Studien immer wieder zur Konfiszierung von Prosaliteratur über Lyrik bis hin zu geistes- und sozialwissenschaftlichen Veröffentlichungen gekommen.

Mit zweierlei Maß

Drittens bleiben Gerichtsurteile, insbesondere die der Verwaltungsgerichte, alles andere als konsequent: Mal verteidigen sie die Meinungsfreiheit, ein anderes Mal wird sie unterdrückt und beschnitten.

Amr Hamzawy; Foto: Carnegie Endowment for International Peace
Die juristische Grauzone prägt das gesamte politische Handeln des ägyptischen Staates, der stets hin- und herschwankt zwischen seiner Rolle als säkularer und religiöser Instanz, schreibt Hamzawy.

​​Zwei Beispiele machen das deutlich: Noch Ende 2007 hatte das ägyptische Verwaltungsgericht die Eingabe eines Richters zur Schließung mehrerer Internet-Seiten abgewiesen. In der Urteilsbegründung hieß es damals, die Meinungsfreiheit sei unbedingt zu schützen. Und jetzt tritt genau dasselbe Gericht eben jene Meinungsfreiheit, die es vorgab zu schützen, durch das bereits erwähnte Urteil gegen die Zeitschrift "Ibda'" mit Füßen.

Diese schwankende Haltung schafft eine juristische Grauzone, die wiederum Institutionen wie die Akademie für Islamische Studien sowie Vertreter religiöser Strömungen ausnutzen, um Beschlagnahmungen und Verbote weiter auszubauen und den Staat noch vehementer zu deren praktischer Umsetzung aufzufordern.

Viertens prägt diese Grauzone auch das gesamte politische Handeln des ägyptischen Staates, der ebenfalls stets hin- und herschwankt zwischen seiner Rolle als säkularer und seiner Rolle als religiöser Instanz.

Es ist offensichtlich, dass der Staat hier einen schwierigen Balanceakt zwischen zwei konträren Polen vollzieht, nämlich die Kollaboration mit gesellschaftlich einflussreichen religiösen Institutionen und Gruppierungen einerseits, sowie eine Politik der gesellschaftlichen Säkularisierung und Modernisierung andererseits.

Rückendeckung für die Gralshüter der Scharia

Es ist ein und derselbe Staat, der einerseits das Personenstands-, das Frauen- und das Kinderschutzgesetz reformiert, modernisiert und liberalisiert, in seiner neuen Verfassung nach den Änderungen im Jahr 2007 das Prinzip des Staatsbürgertums einführt und dessen Kulturministerium al-Qimani und Hanafi (sowie zuvor Hilmi Salem) staatliche Preise verleiht, jedoch anderseits keine Debatte über die Stellung der Scharia in der Verfassung duldet und die al-Azhar schalten und walten, konfiszieren und verbieten lässt, ja, ihr sogar noch ständig mehr rechtliche Rückendeckung bietet.

Dabei hatte der Vorsitzende des Allgemeinen Schriftstellerverbandes als Herausgeber von "Ibda'" aus Furcht vor religiösen Institutionen einen Teil des umstrittenen Gedichtes in vorauseilendem Gehorsam erst gar nicht veröffentlicht – nur, um nun doch per Gerichtsbeschluss der Lizenz beraubt zu werden!

Ich bin der festen Überzeugung, dass diese inkonsequente Haltung des Staates auf dem Mangel an einem klar durchdachten Plan für einen institutionalisierten, aufgeklärten Diskurs beruht.

Der Staat widmet sich diesem Projekt nicht genügend, um säkulare Organe in die Pflicht zu nehmen, dass ein Missbrauch der Religion als Mittel zur Beschränkung der Meinungsfreiheit verhindert wird.

Amr Hamzawy

© Qantara.de 2009

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

Amr Hamzawy ist Senior Associate beim US-amerikanischen Think Tank Carnegie Endowment for International Peace in Washington.

Qantara.de

Berufung von Richterinnen in Ägypten
Richteramt in Frauenhand
Die Berufung von 30 ägyptischen Frauen als Richterinnen hat im Land am Nil für politischen Wirbel gesorgt. Vor allem konservative und islamistische Kreise werten die Entscheidung als Affront für das "Traditionsempfinden der Gesellschaft". Aus Kairo informiert Nelly Youssef

Interview mit Nabil Abdel-Fattah
Zurschaustellung einer aufgesetzten Religiosität
Der ägyptische Kulturminister Farouk Hosni hatte jüngst erklärt, die zunehmende Zahl der Kopftuchträgerinnen in Ägypten sei ein Zeichen von Rückschrittlichkeit. Interview mit Nabil Abdel-Fattah über die Hintergründe des Kopftuchstreits

Zivilgesellschaftsdebatte unter Azhar-Gelehrten
Lasst uns nicht über Politik reden!
Die Gelehrten der islamischen Azhar-Universität begrüßen zivilgesellschaftliches Engagement - aber nur, solange es unpolitisch bleibt. Dieser Eindruck konnte jedenfalls entstehen, als in Berlin drei Azhar-Gelehrte über Islam und Zivilgesellschaft diskutierten. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Muslimischen Akademie Deutschland, der Berliner Humboldt-Universität und der ägyptischen Botschaft . Ein Kommentar von Lennart Lehmann