Genealogie des ägyptischen Frühlings

Die Ägypter galten lange als friedfertiges, duldsames Volk. Doch die jüngsten Proteste kommen nicht aus einem luftleeren Raum: Bereits 2004 bildete sich die Protestbewegung "Kifaya!". Ägypten ist weiter, als wir das wahrnehmen wollen, schreibt Stefan Winkler.

Junge demonstriert gegen das Mubarak-Regime in Kairo; Foto: AP
Die Nase gestrichen voll: Ägyptens Jugend will ihre Sorgen und Sehnsüchte offen artikulieren und sich nicht mehr von den Repräsentanten des Regimes gängeln lassen, schreibt Stefan Winkler.

​​ Das Ausmaß und die Intensität der Proteste in Ägypten haben viele überrascht, innerhalb und außerhalb des Landes. Waren die Ägypter nicht ein friedfertiges, ja fast schon "phlegmatisches" Volk, dessen letzte größere Rebellion 1919 gegen die Briten stattfand?

Wenn man die Ereignisse der letzten Jahre betrachtet und deren Folgen addiert, muss man sich aber eher die Frage stellen, warum die Lage nicht schon früher explodiert ist. Historische Ereignisse unterliegen eben der Kontingenz. Direkter Katalysator war sicher der Umsturz in Tunis. Vorbereitet wurden sie durch die Vernetzung im Netz, vor allem in Facebook.

Danach entwickelte sich eine Eigendynamik, vielfach verstärkt durch die mediale Verbreitung: Nahezu 1.000 Satellitenkanäle gibt es in der arabischen Welt, dazu soziale Netzwerke, Blogs, SMS und Videoclips von Handys, die man schnell auf YouTube veröffentlichen kann. Kein Wunder, dass das ägyptische Regime schnell mit einer fast kompletten Abschaltung dieser Systeme reagierte. Da war es aber bereits zu spät.

Massiver Vertrauensverlust in den Staat

Der ägyptische Frühling hat eine Genealogie, der Protest kommt nicht aus einem luftleeren Raum. Die Unzufriedenheit nahm in den letzten Jahren stetig zu: steigende Preise bei Grundnahrungsmitteln, verbreitete Korruption, Willkür und Polizeigewalt, fehlende Job-Perspektiven, mangelhafte Ausbildungssysteme, politische Unterdrückung, Wahlfälschungen sind die Motive der Proteste. Mehrere große Unglücke mit Zügen und Schiffen führten zu heftigen Diskussionen über die Verantwortlichen und deren Versäumnisse.

Wafdisten beschweren sich über Wahlmanipulation; Foto: AP
Massiver Vertrauensverlust in den autoritären Staat: Anhänger der liberalen Wafd-Opposition in Ägypten beschweren sich über Wahlfälschungen zugunsten der NDP-Einheitspartei Mubaraks

​​ Den Vertrauensverlust in die staatlichen Institutionen und die Zunahme der sozialen Spannungen hatte Khalil al-Anani, Experte für den politischen Islam, bereits im Juli 2008 in der Zeitung al-Hayat beschrieben.

Bei den letzten Wahlen im November/Dezember 2010 kamen angeblich 95 Prozent Stimmen für die Regierungspartei NDP zustande. Nachdem bei den Parlamentswahlen 2005 eine gewisse Öffnung zu beobachten war (die allerdings mit gewalttätigen Zusammenstößen einherging), wurde die Schraube 2010 wieder angezogen, die Oppositionsparteien gingen praktisch leer aus.

Aber schon 2005 kam es zu massiven Wahlfälschungen. Bei der Präsidentschaftswahl konnte Mubarak 89 Prozent Prozent der Stimmen auf sich vereinen, obwohl kaum öffentliche Unterstützung erkennbar war.

Die 6. April-Bewegung

Die Ägyptische Bewegung für Veränderung, "Kifaya" (Es reicht!), die sich nach ihrer Gründung 2004 zunächst gegen eine weitere, fünfte Amtszeit von Präsident Mubarak richtete, organisierte zahlreiche Proteste im ganzen Land.

2006 und 2007 nahmen im Gefolge von Privatisierungen von Staatsunternehmen Streiks zu, die dann am 6. April 2008 in einem groß angelegten Protest der Textilarbeiter in der Stadt al-Mahalla al-Kubra kulminierte. Daraus entwickelte sich die "6. April-Bewegung". Die Ägypter waren also an Proteste und Demonstrationen gewöhnt.

Soli-Demo für Khaled Said; Foto: AP
Opfer brutaler Polizeigewalt und Fanal für das ägyptische Regime: Der junge Alexandriner Khaled Said wurde am 8. Juni 2010 auf einer Polizeiwache in Alexandria zu Tode geprügelt.

​​ Die unabhängige Presse wurde oft drangsaliert, es kam mehrfach zu Verhaftungen und Geldstrafen für Journalisten und Zeitungsherausgeber. Der Blogger Kareem Amer aus Alexandria musste wegen Beleidigung der Religion und des Präsidenten für vier Jahre in Gefängnis, er kam erst kürzlich frei.

Zu einem Fanal für das Regime wurde Khaled Said. Der junge Alexandriner wurde am 8. Juni 2010 auf einer Polizeiwache in Alexandria zu Tode geprügelt. Sein schrecklich entstelltes Gesicht wurde über Facebook verbreitet. Tausende protestierten daraufhin gegen Polizeigewalt.

Doch Facebook hat nicht nur mitgeholfen, die Demonstrationen zu organisieren. Es hat tiefgreifenden soziokulturellen Veränderungen den Boden bereitet. Noch im Sommer 2007 waren nur 70.000 Ägypter in Facebook präsent, wenige Monate später waren es bereits 500.000. Heute sind es über fünf Millionen. Doch wie äußern sich diese Veränderungen konkret?

Das Internet als freier Raum

In einer Gesellschaft, in der es abweichende soziale und kulturelle Einstellungen schwer haben, bietet das Netz viele Möglichkeiten: Man erkennt, dass es Gleichgesinnte gibt, dass man nicht allein ist. Man kann sich mit diesen Gleichgesinnten in seiner Stadt, in seinem Land und international vernetzen und Gedanken austauschen.

Regierungsgegner auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
Freier Austausch mit politisch Gleichgesinnten lokal und global: Regierungsgegner auf dem Tahrir-Platz in Kairo fordern, dass die Blockade des Internets wieder aufgehoben wird.

​​ Die relative Anonymität bietet einem die Sicherheit, sich freier zu äußern. Man stößt auf andere Rollenmodelle oder sieht, wie es in anderen Ländern läuft. Und natürlich kann man sich auch virtuell oder real verabreden.

Das Netz ist inzwischen komplett arabisiert, so dass auch Menschen, die keiner Fremdsprache mächtig sind, daran partizipieren können. Die Nutzer spiegeln die demographische Situation Ägyptens: Über 50 Prozent der Bevölkerung Ägyptens sind unter 25 Jahre alt. Diese Generation macht sich Sorgen um ihre beruflichen Perspektiven und ist frustriert angesichts der unzureichenden Möglichkeiten zur Partizipation – politisch wie ökonomisch.

Entfaltung von Subkulturen

Durch den Prozess soziokultureller Veränderungen bildeten sich Subkulturen heraus, die sich vernetzen: ob Islamisten oder Säkularisten, Rapper, Breakdancer, Schwule, Emos, Heavy-Metal-Fans. Wer Ägypten noch aus den 1990er Jahren kennt, wird bemerken, wie sich die Gesellschaft ausdifferenziert hat.

Auch im kulturellen Bereich sind die Folgen spürbar: Junge Filmemacher, Musiker und Autoren nutzen die sozialen Netzwerke erfolgreich, um auf ihre Veranstaltungen und auf ihre neuen Werke aufmerksam zu machen.

Junge Literatur boomt: Sie bedient sich einer Sprache, oft im Dialekt und im Jugend-Slang, die den meist gleichaltrigen Lesern aus der Seele spricht: Sie behandelt Themen, die sich mit ihrer Situation auseinandersetzen.

Neue kulturelle Ausdrucks-Formen entstehen: graphic novels wie der Großstadtcomic "Metro" von Magey El Shafee oder Blogs, die als Bücher erscheinen, wie "Ich will heiraten!" von der jungen Bloggerin Ghada Abdelaal. Ein Roman, der auf Erfahrungen aus dem Drogenmilieu beruht, konnte nur im Selbstverlag veröffentlicht werden, wurde aber über das Internet beworben. Er wurde zu einem Bestseller und wird jetzt auch verfilmt.

Dies sind Beispiele für Werke, die Ausdruck einer Generation sind, die ihre Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte offen artikuliert und sich nicht mehr von den Repräsentanten des Regimes gängeln lässt. Sie haben die Nase voll.

Stefan Winkler

© Qantara.de 2011

Stefan Winkler war Leiter des Goethe-Instituts in Alexandria, arbeitet jetzt im Bereich Sonderaufgaben des Vorstands beim Goethe-Institut in München und ist Koordinator der Anna-Lindh-Stiftung in Deutschland.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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