Der Aufstand der Mittelklasse

Durch die jüngsten Sparmaßnahmen der algerischen Regierung wird die bis dahin politisch eher unauffällige Mittelklasse des Landes zu Protesten getrieben, gegen die der Staat zunehmend mit Härte vorgeht. Eine Analyse von Idriss Jebari

Von Idriss Jebari

Am 2. Januar kam es bei Protesten gegen die steigenden algerischen Lebenshaltungskosten in Bejaia und Bouira im Ostteil des Landes zu Gewaltausbrüchen. Seitdem die Bevölkerung die Effekte der nachlassenden staatlichen Öleinnahmen zu spüren bekommt und die geplanten Sparmaßnahmen nicht ausbleiben, brodelt es gewaltig unter der Oberfläche der algerischen Gesellschaft. Die jüngsten Proteste werfen auch ein Schlaglicht auf die gewachsene Wut der Bevölkerung auf die politische Führung und die immer tiefere Kluft zwischen ihr und der algerischen Mittelklasse, deren Nöte im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs bislang kaum Beachtung gefunden haben.

Aufgrund der anhaltend niedrigen Ölpreise wurde das staatliche Budget nun schon das zweite Jahr in Folge erheblich gekürzt: 2017 wird es bei 63 Milliarden Dollar liegen, bei nur noch gut der Hälfte der 110 Milliarden aus dem Jahr 2015. In der Hoffnung, einen Kahlschlag der ausländischer Devisen und Währungsreserven noch abwenden zu können und keine neuen Auslandsschulden aufnehmen zu müssen, haben die Behörden bereits 2015 und 2016 diverse Maßnahmen zur Verringerung der Importe eingeführt, darunter beispielsweise Quoten für die Einfuhr von Fahrzeugen.

Ökonomische Abwärtsspirale

Die Gerüchte, internationale Finanzinstitutionen wie der IWF hätten es schließlich aufgegeben, Algerien zu tiefgreifenden Wirtschaftsreformen zu bewegen, halten sich nach wie vor hartnäckig. Und auch die Einschätzungen von Experten über die Reformaussichten des Landes gehen etwa in die gleiche Richtung: Ihrer Meinung nach stehen Hindernisse wie das tief verwurzelte Klientel- und Patronagesystem, die Vetternwirtschaft, der zu umfassende informelle Sektor sowie der zu schwache Privatsektor ernsthaften Reformen im Wege.

Diese Probleme schwächen nicht nur die Möglichkeiten Algeriens, Privatisierungen durchzuführen und die Abhängigkeit von Energieexporten zu verringern, sondern haben es auch notwendig werden lassen, dass das Land die Steuern erhöhen muss, um die Lücke sinkender Öleinnahmen zu schließen und den großen Staatsapparat am Leben zu erhalten.

Zentrum der algerischen Erdölindustrie in Hassi Messaoud; Foto: dpa/picture-alliance
Algeriens Rentierstaat und Bouteflikas Spiel mit dem Feuer: Sehr lebendig sind in Algerien noch die Erinnerungen an den 5. Oktober 1988. Nach dem Ölpreis-Crash von 1986 kürzte die Regierung Subventionen, was einen Aufstand schürte. Dieser trug auch dazu bei, Algerien in den 1990ern in einen blutigen Bürgerkrieg zwischen Regierung und islamistischen Gruppierungen zu stürzen. Geschätzte 150.000 Menschen starben. Eine Wiederholung will die politische Elite um Präsident Bouteflika ebenso wenig wie die Bevölkerung, die das "Schwarze Jahrzehnt" durchlebte.

Algerien ist nicht nur mit seinen Reformversuchen gescheitert, sondern leidet zudem unter erheblicher Inflation, die sich auch auf die Lebensmittelpreise auswirkt. So reagierte die Öffentlichkeit etwa wütend auf den Preisanstieg bei Sardinen, einer traditionell beliebten und leicht erhältlichen Fischart. Auch frisches Obst ist teurer geworden und wurde zu einer Art Luxusgut. Offizielle Statistiken vom Oktober 2016 zeigen, dass sowohl frischer Fisch als auch Obst seit 2001 um mehr als das Dreifache teurer geworden sind. Da die Algerier etwa 40 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel und Getränke ausgeben, die häufig importiert und sehr anfällig gegenüber Preiserhöhungen sind, spüren die einfachen Bürger die Belastung am stärksten.

Durch den neuen Staatshaushalt, der im November 2016 verabschiedet wurde, dürfte sich dieser Trend noch verstärken. Teil des Haushaltsplans ist eine allgemeine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozent. Weiterhin sind gezielte Preiserhöhungen für Produkte wie Benzin, Reifen, Alkohol, Tabak sowie für öffentliche Dienstleistungen wie das Ausstellen von Reisepässen vorgesehen.

Seit einigen Wochen klammern sich die Algerier an die Hoffnung, dass dieses Finanzgesetz doch noch in letzter Sekunde gekippt werden könnte. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Behörden diese schmerzhaften wirtschaftlichen Einschnitte für sie tatsächlich geplant haben.

Kurz nachdem Präsident Abdelaziz Bouteflika das Gesetz am 28. Dezember unterzeichnete, riefen unabhängige Gewerkschaften wie die "Nationale Vereinigung der Kaufleute und Kunsthandwerker" (ANCA) zu einer landesweiten Protestwoche "gegen steigende Preise" auf. Algerische Kaufleute wurden dazu aufgefordert, ihre Läden zu schließen und für eine Rücknahme der neuen Finanzgesetze auf die Straße zu gehen.

Insbesondere in der Kabylie-Region mit ihrer traditionell deutlichen Ablehnung des Zentralstaats war die Teilnahme der Protestierenden hoch, in den Städten Bejaia und Bouira kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die ANCA veröffentlichte jüngst eine Erklärung, in der sie sich von der Gewalt distanzierte und Behauptungen aus den sozialen Medien aufgriff, hinter diesen städtischen Unruhen steckten "Barone" der informellen Importwirtschaft. Deren Motiv für die Unterstützung dieser Unruhen sei, Druck auf den Staat auszuüben, damit dieser die geschäftsschädigenden Steuererhöhungen zurücknimmt.

Diffamierte Protestbewegung

Die Reaktion auf diese Proteste sagt viel darüber aus, in welchem Zustand sich das Land gerade befindet. Nach Ansicht des algerischen Journalisten Lakhdar Benchiba wollen die Behörden von den wirtschaftlichen und politischen Nöten der Demonstranten ablenken, indem sie die Proteste als Teil einer ausländischen Verschwörung abtun. Als die Protestaktionen auch die Hauptstadt des Landes erreichten, wandte sich Ministerpräsident Abdelmalek Sellal schließlich an die Medien. Er versuchte, die Demonstranten zu diskreditieren, indem er sie als eine Minderheit bezeichnete, die versuchte, "Algerien zu destabilisieren". In einer umfangreichen populistischen Medienkampagne riefen die Behörden die Algerier auf, in ihren Fenstern die Nationalflagge zu hissen – um so ihr Missfallen über das Chaos der Demonstranten zu bekunden.

Algeriens Präsident Präsident Bouteflika; Foto: Quelle: MOHAMED MESSARA/EPA/pa
Bouteflika – ein wankender Präsident: Die Mittelklasse hatte bislang über das dysfunktionale politische System hinweg gesehen, solange der Staat für die Sicherheit und eine immer bessere Versorgung mit Konsumgütern garantieren konnte. Dieses Bündnis steht heute immer mehr in Frage, nachdem die Erdöleinnahmen drastisch zurückgegangen sind und die Regierung mit drastischen Sparmaßnahmen die ihr bislang überwiegend loyal eingestellte Mittelklasse vor den Kopf stößt.

Dies lässt darauf schließen, dass Algeriens politische Führung ihre Einstellung in Hinblick auf soziale Proteste mittlerweile grundlegend geändert hat. Früher hatte die Regierung Forderungen nach einer ausgewogeneren Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums noch weitgehend toleriert. Zudem stellten diese Proteste bis dahin nur ein geringes Risiko für die politische Elite dar, da die Bevölkerung ohnehin politikmüde war und vor der Gewalt zurückschreckte – ein Erbe des langjährigen Bürgerkriegs der 1990er Jahre.

Viele Algerier betrachteten daher den Staat als legitimen Umverteiler, der die Öleinkünfte für Wohnungsbau, Infrastruktur oder wissenschaftliche Zwecke ausgab. Doch aufgrund der anhaltenden staatlichen Geldknappheit werden die Proteste nun gefährlich. Zudem gelangen nun erstmals auch Berichte über die Verschwendung öffentlicher Gelder der vergangenen zehn Jahre ans Licht sowie über die mangelhafte Verwaltung der Öleinnahmen, was dem Ansehen des Staates natürlich weiter abträglich ist.

In den letzten Jahren sind in Algerien einige Proteste eskaliert. Diese waren zwar lokal begrenzt oder drehten sich um sehr spezifische Streitthemen (Proteste gegen die Schiefergasförderung und gegen Fracking im Frühling 2015 sowie der Marsch der Vertragslehrer nach Algiers zwischen März und Juni 2016). Dennoch fanden sie auch landesweit Beachtung. Auf beide Protestbewegungen reagierte die Regierung mit Gewalt. Amnesty International warnte daher im Mai 2016 davor, dass sich die staatlichen Repressionen gegen Demonstranten und Oppositionell verschärfen. Viele dieser Proteste werden vom Staat delegitimiert, nichtsdestotrotz heizt sich das Klima sozialer Unzufriedenheit in Algerien weiter auf.

Der brüchige soziale Friede

Solchen Demonstranten, die gegen bestimmte Missstände protestieren – wie zum Bespiel gegen das Fracking –, vermag der Staat noch den Wind aus den Segeln nehmen. Das größere Problem für die algerische Führung ist die allgemein gewachsene Unzufriedenheit der Mittelklasse. Präsident Bouteflika kam 2001 an die Macht, und da er den Bürgerkrieg beenden konnte, ging es in der Folge der Mittelklasse zunehmend besser. Durch großzügige Sozialprogramme bekamen viele Algerier Zugang zu Leistungen für Gesundheits-, Ausbildungs- und Arbeitsförderung, wodurch das Land auf dem Index für menschliche Entwicklung des UNDP seine Nachbarn überholen konnte. Die Mittelklasse sah über das dysfunktionale politische System hinweg, solange der Staat für Sicherheit und eine immer bessere Versorgung mit Konsumgütern garantieren konnte.

Erdölraffinerie im Abendlicht; Foto: picture alliance/blickwinkel/P. Cairns
Absorbierter Schock dank finanzieller Rücklagen: Das Ölpreistief führte dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge in Algerien zu einem Einbruch der Öl- und Gaseinnahmen um 30 Prozent. Das Haushaltsdefizit erreichte mit 16,4 Prozent des Bruttoninlandprodukts bereits im Jahr 2015 den höchsten Stand aller Zeiten. Dass Algerien dies bislang weitgehend abfedern konnte, lag maßgeblich an seinem dicken Finanzpolster: Das Land hatte vor der Krise die achtgrößten Währungsreserven der Welt und geringe Auslandsschulden.

Aber durch den momentanen Druck auf den Staatshaushalt ist der Sozialvertrag mit den Bürgern in Gefahr. Im Oktober 2016 diskutierte das Parlament die Möglichkeit, die Rentengesetze von 1997 zu ändern, um das Mindestalter zu erhöhen, ab dem Regierungsangestellte eine Pension beziehen können. Djaouad Bourkaib, der Direktor des Nationalen Sozialversicherungsfonds, erklärte, das momentane Modell sei für künftige Generationen nicht mehr tragbar. Schnell organisierten die Gewerkschaften in Algiers Demonstrationen, die von der Polizei unterdrückt wurden.

Im vergangenen Dezember musste sich Präsident Bouteflika dem Druck der Öffentlichkeit beugen und schob die Anpassungen für zwei Jahre auf. Doch die Gewerkschaften schworen, weiterhin gegen seine Pläne mobil zu machen. Dies verstärkt natürlich den Eindruck, das Land kümmere sich nicht mehr um seine gewöhnlichen Bürger.

Die Proteste in diesem Monat veranschaulichen den gefährlichen Zwist zwischen dem Staat und einer Mittelklasse, die sich vernachlässigt fühlt. Klar ist aber auch, dass die algerische Regierung ohne die Unterstützung dieser Mittelklasse nicht als Repräsentantin der "schweigenden Mehrheit" auftreten kann, während sie weiterhin Demonstranten als eine Minderheit unpatriotischer "Vandalen" dämonisiert.

Idriss Jebari

© Carnegie Endowment for International Peace 2017

Idriss Jebari ist promovierter Forschungsdozent am "Arab Council for Social Sciences" und beschäftigt sich vor allem mit den gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungsprozessen in Nordafrika.