Recep Tayyip Erdogans Kontrolle über den digitalen Raum

Nach den traditionellen Medien will der türkische Präsident Erdogan nun auch die sozialen Netzwerke kontrollieren. Dazu hat er per Gesetz die Digital-Konzerne Twitter und Google an die Leine genommen. Der Versuch seiner Regierung, die Meinungshoheit zu behaupten, treibt aber auch skurrile Blüten, wie Ronald Meinardus aus Istanbul berichtet.

Von Ronald Meinardus

Es empfiehlt sich, die Worte des Präsidenten zur Kenntnis zu nehmen, um zu verstehen, was in der Türkei vor sich geht.

Soziale Medien sollten entweder verboten oder kontrolliert und reguliert werden, sagte Recep Tayyip Erdogan Anfang Juli letzten Jahres. Beleidigende Einträge auf dem Kurznachrichtendienst Twitter waren der Auslöser der Medienschelte. Zuvor hatte Erdogans Schwiegersohn Berat Albayrak, damals noch Finanzminister im Kabinett des Präsidenten, bekanntgegeben, er sei Vater geworden. Erdogan verurteilte die Tweets als „unmoralisch“ und „unmenschlich“ und kündigte Konsequenzen an: „Wir wollen, dass diese Art Medien vollständig beseitigt, kontrolliert werden“.

Es blieb nicht bei Worten: Am 28. Juli 2020 verabschiedete das türkische Parlament das „Gesetz über die sozialen Medien“, das Anfang Oktober in Kraft trat.

Das neue Gesetz hat weitreichende Bedeutung, die über die Medienpolitik im engeren Sinn hinausgeht. Im Kampf um die politische Deutungshoheit hat Erdogan die traditionellen Medien bereits weitestgehend unter seine Kontrolle gebracht. Über 90 Prozent der Zeitungen und TV-Kanäle gelten als abhängig von den Direktiven des Präsidentenpalastes.

Anders sieht die Situation bei den digitalen Medien aus: Sie sind das wichtigste Schlachtfeld im Informations- und Meinungskrieg. Das liegt auch daran, dass gerade die nachwachsende Generation den traditionellen Angeboten längst den Rücken gekehrt hat.

In punkto Digitalisierung ist die Türkei im internationalen Vergleich ein hochmodernes Gemeinwesen. Die Zahl der Internet-Nutzerinnen und Nutzer lag Anfang 2020 bei 63 Millionen. Laut dem staatlichen Statistikinstitut (TurkSat) loggen sich über 80 Prozent der Männer und knapp 70 der Frauen regelmäßig ins Netz ein. Der Informationsdienst Bianet berichtet, bei der täglichen Verweildauer im Internet liege die Türkei weltweit unter den 15 Top-Nutzern.

Auch in der Türkei hat es bei der Mediennutzung in den zurückliegenden Jahren tiefgreifende Veränderungen gegeben. Ein Ende der digitalen Transformation im Mediensektor ist nicht in Sicht. Die Entwicklung ist dynamisch – und wird durch die politische Situation angefacht. Nicht zuletzt wegen der weitreichenden Gleichschaltung der traditionellen Medien greifen immer mehr Türkinnen und Türken auf die digitalen Angebote zurück.

Dies erklärt den Drang des um den Machterhalt ringenden Präsidenten, auch die sozialen Medien unter Kontrolle zu bringen. Für Erdogan ist die Medienpolitik ein zentraler Baustein seiner Strategie für den Machterhalt. Das handlungsleitende Ziel dieser Strategie lautet, am Ende bei politischen Wahlen eine Mehrheit zu sichern. Erdogans Türkei ist alles andere als eine liberale Demokratie, gleichwohl kommt der zunehmend zur Alleinherrschaft neigende Präsident nicht umhin, seine Macht über politische Wahlen legitimieren zu lassen.

 

Wir fordern Bundesaußenminister Heiko Maas auf, in dem Gespräch mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu die prekären Arbeitsbedingungen von Journalist*innen in der #Türkei mit Nachdruck anzusprechen. https://t.co/TRrBeFrDFo #Pressefreiheit pic.twitter.com/yrsTt7qy8N

— ReporterohneGrenzen (@ReporterOG) May 6, 2021

 

In diesem Zusammenhang ist das neue Gesetz zur Regelung der sozialen Medien eine scharfe Waffe. Es verpflichtet die großen Online-Plattformen, in der Türkei Repräsentanzen einzurichten. Bei Nicht-Befolgung drohen zunächst hohe Geldstrafen, am Ende eines gestaffelten Prozesses über mehrere Monate gar die Abschaltung.

Die internationalen Digital-Konzerne hatten sich lange geziert, dem Gesetz Folge zu leisten. Anfänglich schien es, sie würden sich Ankaras Gebot widersetzen. Doch als nach anfänglichem Zaudern Facebook klein beigab, ist nun auch der letzte der großen Spieler, der im Land populäre Kurznachrichtendienst Twitter eingeknickt.

Das Gesetz schreibt vor, dass die Plattformen auf Wunsch von Beschwerdestellern, die sich in ihren Rechten verletzt sehen, Content innerhalb einer Frist von 48-Stunden löschen müssen. Auch müssen – so die Vorgabe – die Daten in der Türkei gespeichert werden. Twitter versichert, es werde „die Stimmen und die Daten“ der türkischen Nutzer schützen. Menschenrechtsgruppen treibt die Sorge um, dass dies nicht möglich sei.

Schon jetzt machen Ankaras Anträge auf Content-Beseitigung ein knappes Drittel der weltweiten Anfragen zur Löschung von Einträgen aus, die Twitter jährlich erreichen. Nicht weniger als 45.800 dieser Anträge erreichten das US-Unternehmen aus der Türkei, zitiert die Nachrichtenagentur Associated Press einen Firmensprecher; jeden dritten monierten Beitrag habe Twitter beseitigt, heißt es weiter.

Laut „Freedom of Expression Association“ haben die türkischen Behörden bis Oktober 2020, dem Monat des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, über 450 000 Domains, 120 000 Internet-Links und 42 000 Tweets blockiert.

 

 

Google bevorzugt Erdogan

Zum Bild einer in hohem Maße illiberalen Medienordnung passen die Ergebnisse einer aktuellen Studie des Internationalen Presse Instituts (IPI). Auf 68 Seiten dokumentiert der Bericht, dass die Google-Suchmaschinen bei der Kanalisierung der Informationsströme in der Türkei regierungsnahe Medien systematisch bevorzugen. Demnach habe die Google-Suchmaschine bei über 90 Prozent der Suchanfragen Inhalte aus regierungsnahen Zeitungen auf die vordersten Ränge gehoben. Nutznießer der – so der Tenor der IP-Studie – parteiischen Auswahl seien die Erdogan-hörigen Blätter Hürriyet, Milliyet und Sabah.

Auch die populäre Nachrichten-Suchmaschine Google News favorisiere pro-Erdogan Inhalte, so die IPI-Experten. Die Google-Algorithmen operierten alles andere als ausgeglichen, wenn es um die türkische Zivilgesellschaft und deren Anführer gehe, berichten die Forscher. So landeten Hasskommentare gegen den eingesperrten Philanthropen Osman Kavala laut dem IPI-Bericht bei der Google-Online-Suche auf den Top-Plätzen.

„Don’t be evil“, tue nichts Böses, lautete lange Zeit der Anspruch des Digital-Konzerns. In der Türkei wird Google diesem Anspruch nicht gerecht.

George Orwell lässt grüßen

Dogru Mu?“, zu Deutsch etwa „Ist es wahr?“ heißt eine neue App, mit der die User den Wahrheitsgehalt von Nachrichten überprüfen sollen. In der Türkei ist das so genannte Fact-Checking nicht neu. Neuartig und außergewöhnlich ist, wer hinter diesem Projekt steht.

„Diese Plattform, die wir sehr, sehr bald in Betrieb nehmen werden, wird eines unserer robusten Instrumente im Kampf um die Wahrheit sein“, sagt Initiator Fahrettin Altun.

Altun ist ein mächtiger Mann in Erdogans Türkei. Er leitet das Präsidialamt für Kommunikation und gebietet in hohem Maße darüber, was in den türkischen Medien veröffentlicht wird – und was dort in keinem Fall erscheinen soll. Erdogan hat es verstanden, Presse, Funk und Fernsehen weitestgehend auf Kurs zu bringen. Fahrettin Altun achtet darauf, dass sich hieran nichts ändert.

Im Weltbild des Fahrettin Altun bedrohen Feinde im In- und Ausland das Land. Die Beherrschung der Informationsströme sei „eine Frage der nationalen Sicherheit“, sagt der Erdogan-Vertraute. Als Hauptquellen der Bedrohung nennt Altun die kurdische PKK und die Gülen-Bewegung, die Ankara für den fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 verantwortlich macht.

„Unser Land wird an der Spitze des Kampfes für die Wahrheit in der Kommunikation stehen, so wie es unter der Führung von Präsident Erdogan die Stimme der Sprachlosen und der Unterdrückten geworden ist“, zitiert die regierungsnahe Zeitung Daily Sabah den Kommunikationsdirektor.

Türkei: Symbolbild Presseausweis Pressefreiheit (Foto: Getty Images/AFP/O. Kose)
Türkisches Gericht ermahnt Erdogan: Eines der höchsten Gerichte der Türkei - der Staatsrat - hat jüngst in einem Urteil entschieden, dass die Präsident Erdogan unterstellte Behörde für Kommunikation Korrespondenten die Akkreditierung aus vagen oder willkürlichen Gründen nicht weiter verweigern darf. Nach einem Bericht von Reporter ohne Grenzen sind schätzungsweise 95 Prozent der türkischen Medien unter der Kontrolle der Regierung. Der erschwerte Zugang zu Presseausweisen stellt ein weiteres Hindernis für Journalisten dar. Weil Akkreditierungen von der Regierung eingezogen werden, auslaufen oder Anträge unbeantwortet bleiben, können viele Journalisten ihrer Arbeit nicht nachgehen.

Laut dem Informationsportal Al Monitor wird sich Ankaras amtliche Fact-Checking-App vor allem mit Online-Content beschäftigen. Das ist naheliegend, denn im Internet ist die Erdogan-Kritik in türkischer Sprache besonders verbreitet.

Mit einer Mischung aus Ablehnung und Sarkasmus kommentieren unabhängige Beobachter das „Dogru Mu?“-Projekt. In den sozialen Medien kursieren Vergleiche mit dem „Ministry of Truth“, jenem Institut, das in George Orwells Roman „1984“ für Propaganda, Desinformation und die systematische Verdrehung der Tatsachen verantwortlich ist. „Big Brother“ und die Partei haben immer recht, so die totalitäre Version, die Orwell in „1984“ akkurat und teilweise prophetisch beschreibt.

„Diese App wird voraussichtlich alles, was offizielle Quellen als richtig angeben als wahrheitsgemäß bezeichnen und alles andere als falsch“, kommentiert Faruk Bildirci, der früher als Ombudsmann für die Tageszeitung Hurriyet tätig war.

Gezielte Desinformation

Angesichts zunehmender Falschmeldungen und gezielter Desinformationskampagnen sind eine Reihe von türkischen Organisationen damit befasst, in Medien veröffentlichte Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen – und die Ergebnisse der Faktenchecks allgemein zugänglich zu machen. Unwahrheiten aufzudecken und zu dokumentieren ist auch der Auftrag der der 2016 ins Leben gerufenen, heute führenden Initiative Teyit.org (deutsch: Verifikation).

Es sei zu früh für ein Urteil über die Regierungs-App, sagt Can Semercioglu von Teyit.org. Aus grundsätzlichen Gründen lehnt er das Vorhaben ab. „Prinzipiell ist es eine beunruhigende Entwicklung, wenn staatliche Stellen sich mit der Prüfung von Fakten befassen.“

Für die Überprüfung journalistischer Inhalte auf ihren Wahrheitsgehalt – gebe es unterschiedliche Modelle - sowohl in den Redaktionen wie außerhalb. Eine Variante sei die Bestellung einer Ombudsperson. Ein anderes Modell sei – wie etwa in Deutschland – der Presserat. Diesen haben die Medien zur freiwilligen Selbstkontrolle selber eingerichtet; der Presserat wacht nicht zuletzt über die Einhaltung journalistischer Standards. Entscheidend sei die Staatsferne, sagt Can Semercioglu, Diese ist im Falle der geplanten türkischen App ausdrücklich nicht vorgesehen.

„Dogru Mu?“ ist ein weiterer – und womöglich der skurrilste – Versuch der Erdogan-Regierung, die Meinungshoheit in einem dynamischen Medienumfeld zu behaupten. Im illiberalen Instrumenten-Mix ist die App eine vergleichsweise milde Variante. Wenn sie wollen, können die User einfach wegschauen.

Diese Freiheit haben die 60 Journalisten, die laut IPI-Angaben in Erdogans Gefängnissen einsitzen, leider nicht.

Ronald Meinardus

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