Der Mensch, eine Scherbe im Sand

Sherko Fatahs neuer Roman handelt von einem jungen Mann, der sich im Irak Gotteskriegern anschließt, sich von ihnen wieder abwendet und nach Deutschland flieht. Dort aber wird er von der Vergangenheit eingeholt. Volker Kaminski hat das Buch gelesen.

Wenn heute in einem deutschsprachigen Roman von gefährlichen Abenteuern auf hoher See, in Frachträumen versteckten blinden Passagieren oder Schiffbrüchigen auf einsamen Inseln erzählt wird, fühlen wir uns unwillkürlich ins Genre des historischen Abenteuerromans versetzt. So sehr prägt uns die Gewissheit der eigenen Sicherheit, des täglichen Komforts und nicht zuletzt die Gewohnheit jederzeit und überall vernetzt zu sein, dass wir uns kaum vorstellen können, auf einem zerbrechlichen Floß schutzlos übers Meer zu treiben.

Genau von diesen "unvorstellbaren" Dingen erzählt Sherko Fatahs Roman "Das dunkle Schiff" – und ist dennoch ein durch und durch heutiger Roman, angesiedelt in der aktuellen Gegenwart. In einer klaren, souveränen, episch fließenden Sprache beschreibt Fatah die Irrfahrt des jungen Irakers Kerim, dessen Flucht in den Westen eine Reise voller Abenteuer ist.

Zunächst scheint der dicke Junge, Sohn eines kurdischen Gastwirts, nicht zum Helden einer so waghalsigen Odyssee geeignet. Er sehnt sich zwar nach Abenteuern in seiner ländlichen, von der Welt abgeschnittenen Heimat, doch die Ereignisse, die sein Leben ändern und ihn schließlich aus der Bahn werfen, dringen zunächst nur sehr spärlich in sein Alltagsleben ein.

Kerim, Spielball stärkerer Mächte

Kerim wird – wie ein moderner Simplicius – in die Wirren eines immer wieder aufflackernden Kriegs verstrickt, der den Irak seit Beginn der 80er Jahre beherrscht. Er verliert seinen Vater, der von Schergen des Saddam-Regimes vor seiner Gastwirtschaft eines Tages ermordet wird. Kurz darauf wird Kerim von "Gotteskriegern" entführt und dazu gezwungen sich an blutigen Attentaten zu beteiligen; er flieht und landet auf einem großen Frachter, versteckt im dunklen Laderaum, wo ihm jederzeit droht entdeckt und bestraft zu werden.

Immer bleibt Kerim Spielball stärkerer Mächte; selbst als er in Berlin angekommen ist und sein Asylantrag bewilligt wurde, begreift er – wie Simplicius – nicht wirklich, was um ihn herum passiert; er vermag sein Leben nicht in die Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen.

"Ein Schicksal dieser Zeit"

​​Sherko Fatah, dessen Roman jüngst auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, benützt das Material eines kleinen Lebens, um glaubwürdig und eindringlich ein Schicksal dieser Zeit zu formen. Dabei geht es Fatah nicht um Kritik an den Kriegen dieser Welt oder an der menschenverachtenden Gewalt fundamentalistischer Terroristen.

Kerim ist eine Figur, die aus sich heraus verstanden werden will, sie gleicht eher dem Typus des Fremden, den Camus in die Literatur einführte.

Wie jener Meursault ist Kerim seinen Mitmenschen entfremdet und hat doch fatalerweise Schuld an verhängnisvollen Geschehnissen, er bringt Menschen - oft unbeabsichtigt - in Gefahr und handelt eigensüchtig. Er ist eine "Scherbe im Sand". Als solche bezeichnet sein "Lehrer", der Anführer jener "Gotteskrieger", den modernen "gottlosen" Menschen, und diese "Scherbe" kann durchaus verletzen und dem Vorübergehenden gefährliche Wunden zufügen.

Suche nach Gott und Sinn

Kerim, der im Irak einst laizistisch aufwuchs, wird im Roman mehr und mehr zu einem in sich verschlossenen Gott- und Sinnsucher. Ein fragiler einsamer Mensch -"befreit und versehrt zugleich", wie es im Roman heißt. Kerim sehnt sich zwar nach Gemeinschaft und Liebe und beginnt in Berlin eine Beziehung zu der Studentin Sonja, die ihm buchstäblich das Leben rettet, als er auf einem zugefrorenen See einbricht, doch diese Beziehung bleibt oberflächlich und ist nicht von Dauer. So ist es nicht verwunderlich, dass der einzige Halt in Kerims Leben fatalerweise jener "Lehrer" ist, der ihn in den Bergen Nordiraks zum Attentäter ausbildete.

​​Immer wieder werden jene Erlebnisse in Rückblenden eingeschoben, womit der Roman geschickt darauf verweist, dass Kerim nicht loskommt von der menschenverachtenden Ideologie, die ihn auch ganz real in Berlin einholt und auf tragische Weise in seinem neuen Leben scheitern lässt.

Die stärksten Passagen des Romans sind zweifellos jene Abenteuer auf Schiff und Floß; hier erinnert der Roman stark an Poes "Arthur Gordon Pym". Die präzise Schilderung beklemmender Augenblicke ist Fatahs große Stärke, er vermag uns zu fesseln, wenn es darum geht seltsame Geräusche oder Gerüche unter Deck, das Herannahen von Gefahren zu schildern; diese Details wirken ungeheuer plastisch und prägen sich ein, wohingegen die Berliner Passagen fast ein wenig verblassen, wenngleich wir uns bis zum Schluss die bange Frage stellen, was aus Kerim wird. Dass Kerim letztlich keine Chance hat, liegt in der Logik dieses unerbittlich ernsten, ergreifenden und – leider – grundtraurigen Romans.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2008

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