Das säkulare Vermächtnis Indiens

Der indische Schriftsteller Shashi Tharoor, von dem einige Romane auf Deutsch vorliegen, hat sich auf die Spuren des ersten indischen Premierministers begeben. Herausgekommen ist eine facettenreiche Biographie. Gerhard Klas hat das Buch gelesen.

Der indische Schriftsteller Shashi Tharoor, von dem einige Romane auf Deutsch vorliegen, hat sich auf die Spuren des ersten indischen Premierministers begeben. Herausgekommen ist eine facettenreiche Biographie, die viel über Nehru, aber auch einiges über die politische Haltung des Autors aussagt. Von Gerhard Klas

Der erste Premierminister Indiens, Jawaharlal Nehru; Foto: www.tamiloviam.com
Für "Machtpolitik" hatte Nehru nicht viel übrig. Wie Nasser einmal feststellte, betrachtete Nehru die Weltpolitik unter dem Aspekt von Interessen der Menschheit insgesamt, erklärt Gerhard Klas

​​Es gab einmal eine Zeit, da war Kaschmir, die blutige Grenzregion zwischen Indien und Pakistan, ein Hort des Friedens. Bis zum 18. Jahrhundert, schreibt der indische Schriftsteller Shashi Tharoor, hingen dort fast alle Muslime einer "Version des Glaubens an, die stark von der sanften Mystik der Sufi-Prediger geprägt war, und lebten in Eintracht und Frieden mit ihren hinduistischen Landsleuten".

Jawaharlal Nehru war ein Hindu, ein Kaschmir-Pandit, Abkömmling einer Gemeinschaft von Brahmanen aus dieser Region. Der erste indische Premierminister prägte neben Mahatma Gandhi die nationale Unabhängigkeitsbewegung Indiens.

Mit der Unabhängigkeit und Teilung der ehemaligen britischen Kolonie 1947 wurde der bekennende Agnostiker Zeuge der gewalttätigsten Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslime, die der Subkontinent jemals erlebt hatte.

Muslime flohen von Indien nach Pakistan, Hindus und Sikhs in die umgekehrte Richtung. Mit religiösen Parolen auf den Lippen töteten sie sich gegenseitig, vergewaltigten Frauen und verbrannten Häuser.

Den demokratischen Prinzipien treu

In Indien leben heute etwa 130 Millionen Muslime. Angesichts der erneut wachsenden Spannungen zwischen Religionen und Kasten in Indien zu Beginn des 21. Jahrhunderts hebt Shashi Tharoor, der seit 1978 für die Vereinten Nationen in New York tätig ist,
vor allem das säkulare Vermächtnis Nehrus hervor.

Sein unermüdlicher Kampf für ein laizistisches Indien war nicht immer einfach. Die Kongresspartei, die in ihren Anfangsjahren noch Hindus, Muslime und Sikhs für den indischen Unabhängigkeitskampf vereinte, zeigte spätestens in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erste Risse. Dazu hatte, worauf Shashi Tharoor zu Recht hinweist, auch die Politik des "teile und herrsche" der britischen Kolonialmacht beigetragen.

Als großes Verdienst Nehrus hebt Tharoor außerdem hervor, dass er als Präsident seinen demokratischen Prinzipien treu blieb, während viele postkoloniale Machthaber in Asien sich autoritären Regierungsformen zuwandten.

Wenig abgewinnen kann er allerdings Nehrus Vorstellungen von Internationalismus und Sozialismus. Zusammen mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito und dem ägyptischen Staatschef Nasser hatte Nehru die Bewegung der blockfreien Staaten ins Leben gerufen, die sich im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und sich für eine friedliche Koexistenz und für Abrüstung einsetzten.

Nehru kritisierte die Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch die Sowjetunion ebenso wie die Unterdrückung antikolonialer Befreiungskämpfe in der Dritten Welt durch den westlichen Imperialismus.

Kein Machtpolitiker

Tharoor sieht in Nehrus Außenpolitik jedoch eine falsche Gewichtung. "Seine außenpolitischen Erklärungen nahmen die Gestalt eines ausführlichen und extrem moralisierenden Kommentars zur Weltpolitik an, was mehr zu einer Befreiungsbewegung als zur Regierung eines Staates passt", wertet Tharoor.

Es stimmt: Für "Machtpolitik" hatte Nehru nicht viel übrig. Wie Nasser einmal feststellte, betrachtete Nehru die Weltpolitik unter dem Aspekt von Interessen der Menschheit insgesamt.

Cover 'Die Erfindung Indiens - Das Leben des Pandit Nehru'
Shashi Tharoor zufolge fehlte es Nehru an strategischem Weitblick

​​Tharoor bedauert, dass "diese Einstellung wenig dazu beitrug, gute bilaterale Beziehungen mit Staaten zu fördern, die Indien nützlich sein konnten". Shashi Tharoor hätte sich statt der Gegnerschaft Nehrus zu den USA eine engere Bindung des jungen Indiens an diese Großmacht vorstellen können.

Noch schärfer geht der Autor mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen Nehrus ins Gericht, die sich stark am Sozialismus orientierten. Erklären kann sich Tharoor die Ablehnung des ersten indischen Premierministers gegenüber ausländischen Investoren mit den noch frischen Erinnerungen an die britische Kolonialzeit.

Dennoch sei die Haltung von Nehru falsch gewesen, dass zur politischen Unabhängigkeit auch die ökonomische Unabhängigkeit und Selbstversorgung treten müsse. "Dass eine solche Politik das indische Volk daran hinderte, sich von den Fesseln der Armut zu befreien, hat er nie eingesehen", klagt Tharoor.

Instrumentalisierung religiöser Konflikte

Angesichts der wachsenden Spannungen und Pogrome zwischen Religionen und Kasten im modernen Indien des 21. Jahrhunderts will Tharoor den säkularen, pluralistischen Nationalismus Nehrus in Erinnerung rufen. Gleichzeitig versucht er, dieses Vermächtnis Nehrus einer marktwirtschaftlichen Politik in Indien dienstbar zu machen.

Die steigende Bedeutung von Religion und Kaste in der modernen indischen Gesellschaft führt Tharoor auf die staatlich gelenkte Politik zurück, die eine Vetternwirtschaft hervorgebracht habe, die sich an partikularen Identitäten und Interessen orientiere.

Vom wirtschaftlichen Wachstum, das mit der Marktöffnung Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde, verspricht sich Tharoor hingegen eine Liberalisierung der Gesellschaft und eine Aufweichung der Kasten- und Religionsgrenzen.

Nehru bezeichnete die interreligiösen Konflikte kurz vor der indischen Unabhängigkeit als "Deckmantel für handfeste wirtschaftliche Interessen".

Und andere Nehru-Biographen wie Tariq Ali weisen darauf hin, dass die Briten sich die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen zwar zu Nutze gemacht hätten, die Kongresspartei jedoch den Forderungen Nehrus nicht zu genüge nachgekommen sei, um die letztendliche Spaltung des Subkontinents zu verhindern.

Nehru habe immer wieder betont, dass bloßer Nationalismus nicht ausreiche, um den säkularen Charakter der Kongresspartei langfristig zu festigen. In seiner Rede als Parteivorsitzender auf dem Parteitag 1936 in Lakhnau habe er deshalb von der Notwendigkeit gesprochen, Interessen entlang der Klassen- und nicht der Religionszugehörigkeit zu definieren. Dieses Vermächtnis Nehrus würde Shashi Tharoor sicher nicht teilen.

Gerhard Klas

© Qantara.de 2006

Shashi Tharoor: Die Erfindung Indiens – Das Leben des Pandit Nehru, Insel Verlag 2006, 312 Seiten, 19,80 Euro

Qantara.de

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