
Gegen eine Kultur des Schweigens
„Er packte meine Haare und warf mich auf den Boden. Er knöpfte meine Hose auf […] ich versuchte zu schreien, aber nichts kam raus. Nachdem er getan hatte, was er wollte, sah ich Blut an meiner Kleidung, Ich geriet in Panik und alles, was er zu sagen hatte, war ‚Geh jetzt zu deinem Onkel, Hure!. Du bist nicht anders als die anderen Mädchen.‘ […] Ich ging, rief meine Mutter an und erzählte ihr alles. Sie unternahm nichts.“
Dies ist die Aussage eines der Opfer des 22-jährigen Studenten Ahmed Bassam Zaki. Als sich dieser Vorfall ereignete, war sie 19 Jahre alt. Nach der Vergewaltigung versuchte Zaki sie noch zu erpressen und drohte alles ihrer Familie zu erzählen, wenn sie nicht mit ihm schlafen würde. Ihre Mutter nahm ihr daraufhin ihr Handy und Laptop weg und zwang sie, alle ihre Social-Media-Konten zu löschen und ins Ausland zu gehen. Doch gegen Zaki selbst, den Vergewaltiger und Erpresser, wurde seitens ihrer Familie nichts unternommen.
Dass die ganze Last auf das Opfer gelegt wird und es dadurch doppelt bestraft wird, ist in Ägypten bei Sexualverbrechen kein Einzelfall, sondern die Regel. Die Täter dagegen bleiben in den meisten Fällen auf freiem Fuß.
Doch anders als im Fall der jungen Frau sprechen die meisten Opfer sexueller Gewalt aus Angst vor Schuldzuweisungen und Scham gar nicht erst mit ihren Familien über das Geschehene. Wie zahlreiche Aussagen von Ägypterinnen in sozialen Medien zeigen, erleben diejenigen, die über die Tat sprechen, zumeist Unglauben oder werden bezichtigt, selbst daran schuld zu sein. Warum aber ist das so? Und was führt dazu, dass die Täter ungestraft weitermachen können?
Die Rolle der Familie
Die Familie ist entscheidend bei der Sozialisierung eines jeden Menschen und prägend für das ganze Leben. In Ägypten ist die Familie nach wie vor das zentrale und wichtigste Element und kann zugleich in den meisten Fällen als Abbild der Gesellschaft gesehen werden.
Studien wie der Global Gender Gap Report, der Gender Inequality Index und die internationale Umfrage zur Gleichstellung von Männern und Frauen in Nordafrika und den Nahen Osten (IMAGES) zeigen, dass in Ägypten nach wie vor eine große Geschlechterungleichheit herrscht. So belegt Ägypten im Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschaftsforums Platz 134 von 153.

Dies äußert sich bereits in der Erziehung. Mädchen und Jungen werden größtenteils nach wie vor geschlechterspezifisch erzogen: Mädchen als häuslich und zurückhaltend, Jungs als stark und hart. Dieselben Handlungen und Charakteristika werden je nach Geschlecht anders gewertet und beurteilt. Von einem Mann wird nach wie vor erwartet, dass er die Familie versorgt, von der Frau, dass sie sich um das Haus und die Familie kümmert. Nur in diesen Rollen erfahren sie gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung.
„Unsere Gesellschaft muss ihre Denkweise ändern. Wir brauchen die Gleichstellung der Geschlechter. Wir brauchen Eltern, die aufhören, ihre Kinder nur aufgrund ihres Geschlechts anders zu erziehen“, meint die ägyptische Youtuberin und Aktivistin Sherine Arafa. Sie identifiziert die Geschlechterungleichheit als einen der Hauptgründe für ungesühnte, sexuelle Gewalt in Ägypten.