Der größte Erfolg des Arabischen Frühlings?

Seit einiger Zeit wird in arabischen Ländern unverstellter über Sexualität gesprochen, vor allem in den sozialen Medien. Und erstmals gibt es überhaupt Begriffe, um sich über diese Themen zu verständigen. Von Lena Bopp

Von Lena Bopp

Sandrine Atallah war im libanesischen Fernsehen in die Talkshow „A gheir kawkab“ eingeladen. Es sollte um sexuelle Aufklärung gehen. Das ist ihr Fachgebiet, denn Atallah ist eine der ersten Frauen, wenn nicht die erste Frau überhaupt in der arabischen Welt, die die Wissensvermittlung über Sexualität zu ihrem Beruf gemacht hat. Sie war fest davon überzeugt, dass es möglich sein würde, im Fernsehen über Sex zu sprechen, auch tabulos und unvoreingenommen, denn das ist sie gewohnt.

Doch dass man sie in der Show fortlaufend unterbrechen und lächerlich machen, dass man ihr abwechselnd vorwerfen würde, ihr Vokabular sei zu wissenschaftlich, ihre Stimme aber zu aufreizend, mehen, wie man im Libanon sagt, was eine üble Beleidigung ist, damit hatte sie nicht gerechnet.

Mit dem, was nach der Sendung geschah, allerdings auch nicht. In den sozialen Medien ging ein Shitstorm los – doch galt dieser nicht ihr, sondern dem Gastgeber der Show, Pierre Rabat, dessen misogynes Verhalten so viel Kritik auf sich zog, dass er schließlich auf Twitter etwas halbherzig um Verzeihung bat. Die Diskussion sei aus dem Ruder gelaufen, schrieb er. Entschuldigung angekommen, aber abgelehnt, antwortete sie ihm ebenfalls über Twitter. „Sie hätten sich informieren können, keine Falschmeldungen über meine eigenen Sendungen verbreiten dürfen und den anderen Gästen Einhalt gebieten müssen.“ Noch Tage später war Sandrine Atallah schockiert.

Religiöse Gruppen drohten ihr

Die Ereignisse zeigen, dass sich etwas verändert hat im Umgang mit einem Thema, das in der arabischen Welt seit Generationen tabuisiert wird, aber seit ein paar Jahren mehr und mehr an die Öffentlichkeit dringt. Es sind überwiegend Frauen, die sich in den sozialen Medien zu Wort melden und mit ihren Beiträgen, Videos, Fotos und Interviews rund um alle möglichen Fragen zur Sexualität eine Leerstelle füllen, die mangels institutionalisierter Aufklärung in so gut wie allen Ländern der Region riesig ist.

Shereen El Feki, die das Liebesleben der Araber schon vor Jahren in ihrem Buch „Sex und die Zitadelle“ (2013) vermessen hat, beobachtet heute, dass im Internet viele Fragen in den Vordergrund geraten, die noch vor zehn Jahren unaussprechlich waren. Manch andere, wie die ägyptische Schriftstellerin und Feministin Mona Eltahawy, sieht in diesen Veränderungen eine bemerkenswerte Folge, sogar „den größten Erfolg“ des Arabischen Frühlings.

Die Autorin Shereen El Feki wuchs als Tochter einer Waliserin und eines Ägypters in Kanada auf, heute lebt sie in London und Kairo. (Foto: Guillem Lopez/Photoshot/B540/picture alliance)
Kein Wandel in der arabischen Welt ohne sexuelle Aufklärung: Die Autorin und Journalistin Shereen El Feki betonte in ihrem Buch "Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt", dass den Islam eigentlich eine positive Haltung zur Sexualität auszeichnet, vertritt aber zugleich die These, dass ohne einen freieren, offeneren Umgang damit die politisch-soziale Entwicklung in den arabischen Gesellschaften weiterhin stagnieren wird.

Weil die arabischen Aufstände gegen uralte Regime viele Menschen erstmals erfahren ließen, dass es möglich ist, laut über jahrzehntelang erduldete Unzufriedenheiten zu sprechen, die natürlich politischer, aber eben auch privater Natur sind. Und weil mit dem Arabischen Frühling der Aufstieg jener sozialen Medien einherging, in denen die Gespräche über Sexualität seither bevorzugt ihre Räume finden.

Auf den Internetseiten mauj.me, marsa.me und niswa.org, um ein paar zu nennen, wird über alle Spielarten gesprochen. Ebenso auf den Social-Media-Kanälen von Sandrine Atallah, die als Pionierin gilt. In aller Öffentlichkeit spricht sie mit einer Selbstverständlichkeit über Sex, die man von arabischen Frauen nicht gewohnt ist. Schon vor mehr als zehn Jahren hatte sie eine eigene Sendung im libanesischen Fernsehen, in der es immer wieder um Sexualität ging. „Als wir damit anfingen, erhielt ich Drohungen aus dem halben Land, von allen religiösen Gruppen“, sagt sie.

Eine Weile verschwand sie dann von der Bildfläche. Sie baute in Beirut ihre Praxis auf, in der sie medizinische Beratung bei sexuellen Problemen anbietet. Lancierte einen Podcast, in dem sie jede Woche auf Arabisch über weibliche Lust, über die Auswirkungen von Covid-19 auf die männliche Sexualität oder vorzeitige Samenergüsse spricht. Und sie begann, ihre Kenntnisse als Medizinerin und Sexualwissenschaftlerin über Instagram, Youtube, Tiktok und Twitter zu verbreiten, wo ihr insgesamt fast eine halbe Million Menschen folgen.

Sorge um die Jungfräulichkeit

Die meisten Follower kommen aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, viele aus Ägypten und dem Irak, manche aus dem Jemen und aus Sudan. Sandrine Atallah öffnet ihnen ihre Kommentarspalten für anonym gestellte Fragen. Meistens gehe es um Normativität, sagt sie. „Online werde ich häufig gefragt: Bin ich normal? Mit meinen Bedürfnissen, meinem Körper, meinen Gefühlen.“

Auch Mitarbeiter von anderen Websites wie „Love Matters Arabic“, dem arabischen Ableger einer einst in Holland geborenen Initiative, berichten von Basisfragen, die täglich über alle möglichen Kanäle eintreffen, darunter am häufigsten: „Mein Penis ist soundso viel Zentimeter lang, ist das normal?“ Derweil plagen Frauen meist Sorgen um ihre Jungfräulichkeit: „Kann das Jungfernhäutchen beim Duschen beschädigt werden? Das sind die beiden Topfragen“, sagt Ramy Metwali, der das Projekt leitet.

 

Mittlerweile arbeiten zwölf Leute bei „Love Matters Arabic“, das nach den arabischen Aufständen mit nur zwei Mitarbeitern in Holland anfing, mit den Jahren wuchs und schließlich nach Kairo umzog. Mit dem Ortswechsel verlagerte sich der Fokus von allgemeineren Themen wie sexuellen Stellungen, Abtreibung und Heirat zu Fragen, die besonders in der ägyptischen Gesellschaft virulent sind. Seither geht es um weibliche Genitalverstümmelung, die seit 2008 zwar gesetzlich verboten, aber noch immer weit verbreitet ist. Und um sexuelle Belästigung, unter der Frauen gerade in Ägypten besonders heftig zu leiden haben, was sich auch an dem sprachlichen Umstand zeigt, dass das schamlose Nachstellen und Begrapschen auf offener Straße lange „Flirten“ genannt wurde.

Manche glauben, dass erst der große internationale Aufschrei nach den „Jungfrauentests“, mit denen das Militär nach dem Sturz von Husni Mubarak im Jahr 2011 etwa zwanzig vom Tahrir-Platz verhaftete Demonstrantinnen quälte, den Blick für die latente Gewalt gegenüber Frauen schärfte. So konnte sich der Begriff „Belästigung“ überhaupt erst verbreiten.

Neue Wörter für tabuisierte Dinge

Auch andere Wörter fanden danach ihre Wege aus den Tabuzonen des Unsagbaren an die Öffentlichkeit. Ramy Metwali erinnert sich noch, wie er von einem früheren Arbeitgeber angehalten wurde, lieber von „Reproduktion“ zu sprechen und nicht von „Sexualität“, weil sich das für Ägypter nicht zieme. „Heute sprechen wir von ,Sexualität‘“, sagt er. Und zwar auf Arabisch, nicht auf Englisch, denn mit der langsamen Enttabuisierung der Begriffe geht immer häufiger auch ihre sprachliche Aneignung einher. „Es stimmt, dass viele Leute, die in der Sexualberatung tätig sind, daran arbeiten, die Begriffe zu übersetzen. Vor Jahren beispielsweise gab es kein Wort für die LGBTQ-Gemeinde, heute nennen wir sie mujtamaa el-meem.“

Auch Metwali hat mit seinem Team schon eigene Begriffe kreiert oder andere Organisationen kontaktiert, um sich mit ihnen gemeinsam auf ein bestimmtes arabisches Wort zu verständigen. „Wir haben diese Wörter dann ganz normal benutzt, und heute tun das viele Leute, ob sie nun dafür sind oder dagegen. Die Begriffe sind jetzt da.“

Das ist ein bedeutsamer Schritt, denn ohne die Wörter existieren auch die Dinge nicht, die sie bezeichnen – der weibliche Körper vor allem, die Vagina, die Klitoris. Auch trans, bi und non-binär. Wenn die arabischen Wörter aber in der Welt sind, eignet man sich mit ihnen nicht nur die Dinge an, sondern lässt auch den uralten Einwand konservativer Kräfte ins Leere laufen, nach dem es sich bei Sexualität um ein westliches Konzept handele, das in arabischen Gesellschaften keine Heimat habe.

Schülerinnen tragen Gesichtsmasken und bilden eine Schlange vor einer Schule in der ägyptischen Hauptstadt Kairo am 10. Oktober 2021. (Foto: Ahmed Gomaa / Xinhua News Agency/ picture alliance)
Ende der Sprachlosigkeit nach der Arabellion: Die Begriffe sind jetzt jedenfalls da. Junge Mädchen in der arabischen Welt wachsen erstmals mit einer Sprache auf, die Wörter für Homosexualität oder Vagina kennen. Auch im Internet geraten viele Fragen in den Vordergrund, die noch vor zehn Jahren unaussprechlich waren. Einige Feministinnen wie die ägyptische Schriftstellerin Mona Eltahawy sehen in diesen Veränderungen eine bemerkenswerte Entwicklung, sogar „den größten Erfolg“ des Arabischen Frühlings.

Gleichwohl zeigt nicht zuletzt die Erfahrung, die Sandrine Atallah in der libanesischen Fernsehshow machen musste, als einer der Gäste angewidert sagte, wenn er das von ihr verwendete mahbal höre („Vagina“), wolle er am liebsten weglaufen, wie weit der Weg noch ist, bis das Sprechen über Sexualität tatsächlich zur Normalität gehört.

Auch Mitarbeiter der einschlägigen Online-Plattformen berichten, dass sie ihre Wortwahl anpassen, je nachdem, vor welchem Publikum sie sich wiederfinden. Über „das verheiratete Leben“ lässt sich oft noch immer leichter reden als über „Sex“. Und über Hetero- leichter als über Homosexualität.

Streitgespräche, die nicht totzukriegen sind

Das gilt wie in den meisten Ländern der Region auch in Ägypten, wo im vergangenen Sommer nicht nur sechs junge Frauen wegen „Anstiftung zur Unzucht“ zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, nachdem sie auf Tiktok kurze Tanzvideos veröffentlicht hatten. Und auch dort, wo Sarah Hijazi lebte, die nach Kanada floh, nachdem sie 2017 bei einem Konzert der libanesischen Rockband Mashrou’ Leila in Kairo eine Regenbogenflagge geschwenkt hatte, danach verhaftet und im Gefängnis schwer gefoltert worden war. Im vergangenen Juni beging sie Selbstmord. Der Artikel, den sie eine Weile vorher veröffentlicht hatte und in dem sie von Verhören schrieb, in denen man sie fragte, was den Sex mit einem gleichgeschlechtlichen Menschen von dem mit einem Tier unterscheide, ging um die Welt.

Der Rockband Mashrou’ Leila, deren Sänger Hamed Sinno offen homosexuell ist, wurden nach dem Konzert weitere Auftritte in Ägypten verboten. Ebenso in Jordanien. Und selbst im vermeintlich liberalen Libanon musste die Band im Jahr 2019 nach homophoben Attacken einen geplanten Auftritt absagen. Bereits ein Jahr zuvor war die zweite Ausgabe der „Gay Pride“ in Beirut abgebrochen worden. Deren Organisator saß kurze Zeit im Gefängnis.

Das schwulen Männern vorbehaltene Datingportal „Grindr“ ist offiziell seit ein, zwei Jahren verboten. Im Internet tauchten Fake-Accounts auf, denn auch im Libanon wird das Internet überwacht. Allerdings nicht ganz so konsequent wie in Ägypten und Saudi-Arabien, wo sich gerade erst wieder an dem unter Arabern enorm beliebten „Clubhouse“ beobachten lässt, wie schnell alle möglichen Tabus gebrochen werden, kaum öffnet sich online ein (noch) unkontrollierter Raum.

Aus dem ägyptischen „Clubhouse“ wurden unlängst Diskussionen über einen umstrittenen Gesetzentwurf gemeldet, von dem man befürchtet, er könnte die wenigen Frauenrechte weiter einschränken. In Saudi-Arabien soll gar über Homosexualität, Feminismus und Atheismus gesprochen worden sein.

In einem Raum, in dem es um die kürzlich freigelassene Frauenrechtlerin Loujain Al-Hathloul ging, brach ein Chaos aus, von dem sich manche an die guten, alten Zeiten erinnert fühlten, in denen das unter Saudis beliebte Twitter noch neu war, frei von Trollen, Falschinformationen und Überwachung. Und voller Streitgespräche über Dinge, die einfach nicht totzukriegen sind.

Lena Bopp

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2022

 

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