Religion auf Kosten der Bildung?

Das türkische Schulwesen steckt in einer Krise: Schüler rutschen mit ihren Leistungen ab. Kritiker machen die Erdoğan-Regierung für den Trend verantwortlich. Sie gründeten zuletzt Hunderte religiöse Imam-Hatip-Schulen. Informationen von Burcu Karakaş und Daniel Derya Bellut

Von Burcu Karakaş & Daniel Derya Bellut

In der türkischen Öffentlichkeit findet seit Wochen eine Debatte über die Mängel im Bildungswesen statt. Angestoßen wurde die Diskussion von einem Bericht, der vor wenigen Wochen vom Ministerium für Nationale Bildung herausgegeben wurde: Die ABIDE-Studie - in etwa vergleichbar mit der PISA-Studie in Deutschland - bewertet die Leistungsfähigkeit von türkischen Schülern. Das Ergebnis: Viele türkische Schüler haben verheerende Leistungsschwächen. Vor allem ihre Leistungen in Mathematik und Türkisch lassen zu wünschen übrig.

Viele Oppositionelle und Experten machen die sogenannten Imam-Hatip-Schulen für die Bildungsmisere verantwortlich. Das sind Schulen, deren Schwerpunkt auf religiösen Fächern liegen - der Koran und die Lehren des Propheten Mohammed haben im Unterricht große Priorität. Ursprünglich dienten solche Schulen zur Ausbildung von Imamen, doch die islamisch-konservative AKP-Regierung führte Schulreformen durch, um die Schulen gesellschaftsfähiger zu machen.

Hunderte von Neugründungen

Die Reformbemühungen führten dazu, dass in den letzten Jahren immer mehr solcher religiöser Schulen wie Pilze aus dem Boden schossen: Nach Angaben des Ministeriums für Nationale Bildung verdreifachte sich die Anzahl der Mittelschulen in den letzten fünf Jahren von 1.099 auf 3.286 Einrichtungen. Die Anzahl der Imam-Hatip-Gymnasien stieg ebenfalls stark: von 537 auf 1.605 - über 620.000 solcher Gymnasiasten gibt es mittlerweile in der Türkei. Um die vielen Neugründungen zu ermöglichen, wurden staatliche Schulen umgehend umfunktioniert - in häufigen Fällen ohne die Zustimmung von Eltern und Schülern.

Imam-Hatip-Schule in Kirklareli, Türkei; Foto: Creative Commons/Darwinek
Imam-Hatip-Lisesi in Kirklareli: Die Imam-Hatip-Schulen wurden in den letzten Jahren stark von der Regierung gefördert.

Perihan Özgün ist eine von vielen Müttern, die gegen diese plötzliche Umstrukturierung demonstrierte. Besonders empört ist sie darüber, dass es an der Istanbuler Schule ihres Kindes "60. Yil – Sarigazi" zu einer Benachteiligung nicht-religiöser Schüler käme. Während die Hälfte der Einrichtung ein gewöhnliches Gymnasium blieb, wurde die andere Hälfte zu einer religiösen Schule umfunktioniert. Die Klassen sind beim religiösen Teil kleiner und sauberer, zudem seien die Gebühren niedriger, klagt sie.

Religion auf Kosten der Bildung?

Kritiker sehen einen Zusammenhang zwischen der schlechten Leistungsfähigkeit türkischer Schüler und den vielen Neugründungen von Imam-Hatip-Schulen. Es wird häufig darauf hingewiesen, dass bei der türkischen Zentralprüfung - ein Test, den türkische Schüler bestehen müssen, um einen Hochschulzugang zu erhalten - Imam-Hatip-Schulen besonders schlecht abschneiden würden.

Angaben des Ministeriums für Nationale Bildung bestätigen den Vorwurf: Nur 38 Prozent ihrer Absolventen erhielten im Jahr 2018 nach Durchlaufen der Zentralprüfung einen Uni-Zugang, was im Vergleich zu anderen Schuleinrichtungen ein eher schlechter Wert ist.  

Auch die türkische Regierung selber sieht Verbesserungsbedarf. Das Bildungsministerium hat im Jahr 2016 das "Projekt Natur- und Sozialwissenschaften" ins Leben gerufen. "Es geht darum, die Erfolgschancen bei der Zentralprüfung von Imam-Hatip-Absolventen zu verbessern, aber auch darum, in den Lehrplänen mehr sozial- und naturwissenschaftliche Fächer zu integrieren", erklärt Özgenur Korlu von der Bildungsreforminitiative (ERG).

Özgenur Korlu von der Bildungsreforminitiative (ERG); Foto: privat
"Es geht darum, die Erfolgschancen bei der Zentralprüfung von Imam-Hatip-Absolventen zu verbessern, aber auch darum, in den Lehrplänen mehr sozial- und naturwissenschaftliche Fächer zu integrieren", erklärt Özgenur Korlu von der Bildungsreforminitiative (ERG).

Doch leider hätten sich die Erfolgsaussichten mit Hinblick auf die Zentralprüfung nicht unbedingt verbessert, lautet das skeptische Urteil Özgenurs. "Es sind nach wie vor die anatolischen (Anadolu Lisesi) und die naturwissenschaftlichen Gymnasien, die in den Rankings vorne stehen."

Ali Aydin, Generalsekretär der Gewerkschaft für freie Bildung, stört es, dass man sich in der Diskussion zu sehr auf religiöse Schulen fokussiere. "Bevor man über die Mängel von Imam-Hatip-Schulen redet, ist es doch wichtiger, zunächst die strukturellen Probleme unseres gesamten Bildungssystems auszuräumen", so Aydin.

Erdoğan möchte eine "religiöse Generation"

Der türkische Präsident Erdoğan war selbst in den 1960er Jahren als Kind auf einer Istanbuler Imam-Hatip-Schule. Damals waren Schulen wie seine ehemalige Grundschule eine Rarität. Doch seitdem er an der Macht ist, hat er die religiösen Schulen zum Mainstream gemacht - eine Herzensangelegenheit des Präsidenten.

In der Vergangenheit betonte er häufig, dass er eine "religiöse Generation" heranwachsen sehen mag. Durch Eingriffe in das Jugend- und Bildungswesen versucht er, konservativ-islamische Werte in der jüngeren Generation zu verankern. Daher ist anzunehmen, dass ihm die Religiosität der türkischen Schüler mindestens genauso wichtig ist wie ihre weltliche Bildung.

Burcu Karakaş & Daniel Derya

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