Islam gegen Islam

Das religiöse Element der heute im Nahen und Mittleren Osten wütenden Konflikte ist ein Hauptgrund, warum deren Entschärfung so schwierig ist. Ein Essay von Shahid Javed Burki

Von Shahid Javed Burki

Weite Teile der muslimischen Welt sind von Unruhen erfasst. In Syrien hat ein brutaler Krieg bereits 250.000 Menschenleben gefordert, die Hälfte der 21 Millionen Einwohner des Landes vertrieben und eine Million Menschen auf der Suche nach Asyl in die Flucht nach Europa geschlagen. Im Jemen erhob sich das Volk der Huthi gegen die Regierung und ist nun mit Luftschlägen unter saudi-arabischer Führung konfrontiert.

Konflikte wie diese sind Ausdruck einer Reihe von Faktoren, doch vorrangig geht es um die Auseinandersetzungen zwischen den Glaubensrichtungen der Sunniten und der Schiiten sowie zwischen Fundamentalisten und Reformisten.

Das alawitische Regime des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad genießt die Unterstützung schiitischer Mächte, insbesondere des Iran, dessen regionaler Einfluss davon abhängt, dass ein schiitisches Regime im Amt bleibt. Und genau aus diesem Grund wollen sunnitische Mächte – allen voran Saudi-Arabien – dieses Regime auch stürzen.

Die sunnitisch geführte Regierung des Jemen hingegen genießt den Beistand Saudi-Arabiens, weswegen auch die vom Iran gestützten schiitischen Huthis bombardiert werden. Wenig überraschend haben sich die Spannungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien in letzter Zeit verschärft. Ihren Höhepunkt erreichte diese  Entwicklung mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern nach der Hinrichtung eines renommierten schiitischen Geistlichen durch Saudi-Arabien.

Das aufgrund dieser Konflikte geschürte Chaos – sowie die Instabilität in anderen Ländern der Region wie Afghanistan und dem Irak – ermöglichte den Aufstieg so mancher verabscheuungswürdiger Kräfte, beginnend mit dem "Islamischen Staat" (IS). Dieser hat bereits derart an Einfluss gewonnen, dass US-Generäle bei Präsident Barack Obama um die Genehmigung zusätzlicher Truppen im Kampf gegen die Organisation ansuchten.

Proteste in Teheran gegen die Hinrichtung des schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr in Saudi-Arabien; Foto: Getty Images/AFP/A. Kenare
Gewachsene Spannungen: Saudi-Arabien hatte Anfang Januar 2016 insgesamt 47 Menschen hingerichtet, darunter auch den oppositionellen schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr. Dies hatte zu schweren Verwerfungen in den Beziehungen des sunnitischen Landes mit dem schiitischen Iran geführt.

Überdies wird berichtet, dass die Vereinigten Staaten den Rückzug ihrer Truppen aus Afghanistan aufschieben könnten, wo ein zunehmend brutaler Krieg gegen die Regierung Territoriumsgewinne der Taliban ermöglichte und für den IS eine Basis für weitere Aktivitäten schuf. Außerdem ist der IS auch in Pakistan eingedrungen.

Die Wurzeln eines langen historischen Streits

Das religiöse Element dieser heute im Nahen und Mittleren Osten wütenden Konflikte ist ein Hauptgrund, warum deren Entschärfung so schwierig ist. Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten reicht zurück in das Jahr 632, als der Prophet Mohammed starb, ohne Angaben darüber zu hinterlassen, wie die rasch wachsende islamische Gemeinschaft seine Nachfolge zu regeln hätte.

Diejenigen, aus denen sich die Gruppe der heutigen Schiiten entwickelte, waren der Ansicht, der Nachfolger müsste aus der unmittelbaren Familie kommen, weswegen ihre Wahl auf Ali ibn Abi Talib, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten fiel. Die Gruppe der heutigen Sunniten unterstützte die Wahl eines hochrangigen Mitglieds der Gemeinschaft: nämlich Abu Bakr, der Mohammed als enger Berater gedient hatte.  

Bei der überwiegenden Mehrheit der 1,6 Milliarden Muslime von heute handelt es sich um Sunniten. Sie leben weit verstreut über ein riesiges Gebiet, das sich von Marokko bis Indonesien erstreckt. Nach jahrzehntelanger Migration nach Europa und Nordamerika bestehen auch in mehreren Ländern des Westens starke sunnitische Gemeinschaften.

Die Schiiten zählen 225 Millionen Mitglieder und sie leben geographisch auf enger begrenztem Raum. Der Iran mit 83 Millionen Schiiten ist das größte schiitische Land der Welt gefolgt von Pakistan mit 30 Millionen und Indien mit 25 Millionen. Im "schiitischen Halbmond" – bestehend aus dem Iran und seinen unmittelbaren Nachbarn Afghanistan, Aserbaidschan, Irak, Pakistan und der Türkei -  leben 70 Prozent aller Angehörigen dieser Glaubensrichtung.

Infografik Glaubensrichtungen im Islam; Quelle: Pew Research Center
Die Schiiten zählen 225 Millionen Mitglieder und leben geographisch auf enger begrenztem Raum. Der Iran mit 83 Millionen Schiiten ist das größte schiitische Land der Welt gefolgt von Pakistan mit 30 Millionen und Indien mit 25 Millionen. Im "schiitischen Halbmond" – bestehend aus dem Iran und seinen unmittelbaren Nachbarn Afghanistan, Aserbaidschan, Irak, Pakistan und der Türkei - leben 70 Prozent aller Angehörigen dieser Glaubensrichtung.

Diese geografische Verteilung ist das Resultat einer Reihe historischer Ereignisse, bei denen es sich um eine Kombination aus Eroberungen und (vielfach erzwungener) Konvertierung handelt. Obwohl der Islam im Zuge von Eroberungen in den Jahren 637 bis 651 im Iran Einzug hielt, wurde der Schiismus erst beinahe tausend Jahre später offiziell eingeführt, als Schah Ismail I.  aus der Safawiden-Dynastie im Jahr 1501 die Konvertierung der sunnitischen Bevölkerung des Landes erzwang.

Als Folge wiederholter militärischer Einfälle persischer Herrscher in Afghanistan und Indien verbreitete sich der Schiismus in Südasien. Heute konzentriert sich die schiitische Bevölkerung dieser Gebiete in städtischen Zentren und umfasst im Wesentlichen die Nachfahren von Soldaten und anderen staatlichen Funktionären, die in den eroberten Gebieten geblieben waren.

Der sunnitische Islam seinerseits wurde in Südasien zunächst von Sufi-Heiligen verbreitet, von denen die meisten aus Zentralasien kamen und die eine Form des Islam predigten, die sich toleranter und einschließender präsentierte, als jene auf der arabischen Halbinsel. Doch der wachsende Einfluss Saudi-Arabiens nach den 1970er Jahren, als sprunghaft steigende Ölpreise für wachsenden Reichtum des Landes sorgten, trug zur Verbreitung des im Königreich vorherrschenden strengen Wahhabismus bei.  

Zusätzlich zu den Millionen muslimischen Arbeitskräften aus Südasien, die es nach Saudi-Arabien zog, finanzierte das Land auch wahhabitische Medressen entlang der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. Die Taliban (zu Deutsch "Studenten") in beiden Ländern sind ebenso ein Produkt dieser Religionsschulen wie die Milizen der "Laschkar-e-Taiba" und "Laschkar-e-Jhangvi", die Anschläge auf religiöse Stätten in Indien verübten.

Kampf zwischen theologischen und politischen Weltsichten

Die Unruhen von heute sind Ausdruck eines Kampfes zwischen theologischen und politischen Weltsichten. Konservative Sunniten wie die Anhänger des fundamentalistischen Wahhabismus favorisieren eine theokratische autoritäre Herrschaft, wohingegen gemäßigte Sufi-Sunniten liberale, inklusive politische Systeme bevorzugen würden. Das Gleiche gilt auch für die Schiiten.

Der Iran hat lange an einer theokratischen Herrschaft festgehalten, scheint aber mittlerweile in Richtung Reformen zu tendieren. Ob der Graben zwischen den Glaubensrichtungen jemals überbrückt werden kann, hängt höchstwahrscheinlich davon ab, ob die Reformisten in beiden Lagern ausreichend Einfluss erlangen können. Gelingt das nicht, wird der Konflikt weiter toben und den Zusammenbruch der regionalen Ordnung, wie wir ihn derzeit erleben, weiter beschleunigen.

Javed Burki

© Project Syndicate 2016

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier