Im Land der brennenden Herzen

Proteste in Bagdad gegen die Ermordung eines Aktivisten; Foto: Ahmad al Rubayye/AFP via Getty Images
Proteste in Bagdad gegen die Ermordung eines Aktivisten; Foto: Ahmad al Rubayye/AFP via Getty Images

Die Schiiten im Irak sind zerstritten wie das nahöstliche Land selbst. Not, Korruption und erbitterte politische Machtkämpfe verschonen auch ihre heiligsten Pilgerstätten nicht. Und die Wut über den miserablen wirtschaftlichen Zustand des Landes ist groß. Eine Reportage von Christoph Ehrhardt aus Bagdad, Kerbela und Nadschaf

Von Christoph Ehrhardt

Jeden Tag spürt der Alte die Gegenwart seines toten Sohnes, als lebe er mit dessen Geist zusammen. "Harith ist noch immer unter uns, hier in diesem Haus", sagt Abid al-Sudani. Er ist ein einfacher Mann mit harten Gesichtszügen, der durch ausgedünnte Zahnreihen spricht. Sein Sohn Harith ist ein Held. Ein Meisterspion der "Falken", einer Eliteeinheit des irakischen Geheimdienstes. Als der "Islamische Staat" (IS) noch weite Teile des Iraks beherrschte und der Terror seiner Selbstmordattentäter in kurzen Abständen die Hauptstadt Bagdad erschütterte, infiltrierte Hauptmann Hartih al-Sudani die dschihadistische Organisation. Er verhinderte Dutzende Selbstmordanschläge, lenkte die Todessehnsüchtigen in die Fänge der Agenten, die dann Explosionen vortäuschten oder Falschmeldungen verbreiteten, damit Hariths Tarnung hielt.

Doch die Dschihadisten wurden irgendwann misstrauisch. Sie verwanzten in den letzten Tagen des Jahres 2016 einen mit Sprengstoff vollgepackten Pritschenwagen, den Harith am Jahreswechsel dann wieder einmal nicht an seinen Bestimmungsort steuerte. Harith flog auf, wurde in eine Falle gelockt. Im August 2017 veröffentlichte der IS ein Video, das die Enthauptung mehrerer Gefangener zeigte. Einer davon war Harith.

"Der Staat ist zerbrochen"

"Man sollte ihm auf einem der großen Plätze von Bagdad ein Denkmal errichten", sagt der Vater, der sich darüber empört, vom Staat im Stich gelassen zu werden. Es sei schon ein Kraftakt gewesen, einen Totenschein zu bekommen. Erst als die New York Times im August 2018 über Hariths Heldentaten berichtete, habe man seinen Beschwerden über die Untätigkeit der Behörde Beachtung geschenkt. "Die Politiker haben uns Hilfe versprochen, damit wir ein neues Haus für Hariths Familie bezahlen und sie versorgen können", sagt der alte Mann. "Aber bis heute ist nichts passiert."

Wie viele Iraker ist Abid al-Sudani voller Wut über den miserablen wirtschaftlichen Zustand seines Landes; auf den unfähigen, von Korruption zersetzten Regierungsapparat und die selbstsüchtigen Politiker, die von einem System profitieren, das die Gesellschaft über Jahre entlang konfessioneller Linien gespalten hatte. "Der Staat ist zerbrochen", zürnt er.

: Junge Iraker protestieren nach der Ermordung zweier Journalisten für die Pressefreiheit: Foto: AFP/H.Faleh
Junge Iraker protestieren nach der Ermordung zweier Journalisten für die Pressefreiheit. Viele Iraker sind "voller Wut über den miserablen wirtschaftlichen Zustand ihres Landes; auf den unfähigen, von Korruption zersetzten Regierungsapparat und die selbstsüchtigen Politiker, die von einem System profitieren, das die Gesellschaft über Jahre entlang konfessioneller Linien gespalten hatte,“ schreibt Christoph Ehrhardt in seinem Bericht aus Bagdad, Kerbela und Nadschaf.

Die Familie lebt in einer Gegend, in der die Probleme des Iraks allgegenwärtig sind: Sadr City, jener verarmten und vernachlässigten schiitischen Vorstadt Bagdads, die in den Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 berüchtigt war für brutale Todesschwadronen, einen blutigen Guerillakrieg schiitischer Milizen gegen die amerikanischen Besatzer und für den Terror durch sunnitische Extremisten. Die langen, schnurgeraden Hauptstraßen der Vorstadt sind gesäumt von heruntergekommenen Zweckbauten. In den staubigen, verwinkelten Gassen der Wohnviertel leben die Leute in bescheidenen Häusern, die hinter hohen Mauern verborgen sind.

Lieber in die Miliz statt in die Armut

In Sadr City mangelt es an allem, nur nicht an Waffen und Milizionären. Als im Oktober 2019 in Bagdad Massenproteste gegen die Regierung und die politische Klasse ausbrachen, warfen sich Heerscharen junger Männer aus der Vorstadt in die blutigen Straßenschlachten. Sie haben es sehr schwer, Arbeit zu finden, und nicht wenige ziehen den Sold der Milizen der Armut vor.

"Die Politiker sollten sich alle ein Beispiel am Patriotismus und der Selbstlosigkeit meines Sohnes nehmen", schimpft Hariths Vater. "Man muss eine gute Atmosphäre für die Jugend schaffen." Er stellt sich darunter wohl anderes vor als viele der jungen Männer in der Nachbarschaft, die nicht nur Arbeit wollen, sondern auch mehr Freiheiten. Abid al-Sudani ist ein gestrenger Patriarch, der von seinen Kindern vor allem Strebsamkeit, Verzicht und Gehorsam verlangte, seinen Sohn Harith in eine arrangierte Ehe zwang und seinen Forderungen regelmäßig mit Schlägen Nachdruck verlieh.

Abid al-Sudani ist auch ein tiefgläubiger Schiit, der, wie er sagt, jeden Morgen um vier Uhr durch sein bescheidenes Haus schreitet und wie der Muezzin in der Moschee den Ruf zum Morgengebet intoniert. Zwei Bilder hängen in dem kargen, von Neonlicht erleuchteten Empfangsraum: Schlicht gerahmt das Bild von Harith in einer schwarzen Uniform, stechender Blick, im Hintergrund die irakische Flagge. Gegenüber, in glitzernden Plastikpomp gefasst, das Bild eines ebenso entschlossen dreinschauenden schiitischen Heiligen: Imam Hussein.

"Mein Sohn hat sich wie Iman Hussein geopfert"

Dieser ist der Enkel des islamischen Propheten Mohammed und Sohn des Kalifen Ali Ibn Ali Talib. In einem Machtkampf um den Herrschaftsanspruch über die Gemeinschaft der Muslime führte Hussein eine kleine Schar von Getreuen im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbela in den sicheren Tod. Die Kämpfer der "Partei Alis" (Schiat Ali) wurden von der übermächtigen Armee des umajjadischen Kalifen Jazid niedergemetzelt. Husseins Himmelfahrtskommando besiegelte ein Schisma, das die islamische Welt bis heute prägt: Aus der Partei Alis entwickelte sich die schiitische Richtung im Islam, die eigene Glaubensinhalte und politische Konzepte hervorbrachte. Und keine Gründerfigur wird in ihr so verehrt wie Hussein. Hariths Vater scheint tief beseelt, als er auf das Bild an der Wand angesprochen wird. Er verfällt in einen länglichen frommen Vortrag: "Mein Sohn hat sich wie Iman Hussein geopfert", sagt er.

Der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani; Foto: Ameer al-Mohammedaw/dpa/picture-alliance
Der schiitische Großayatollah Ali al-Sistani ist eine moralische Autorität im Irak. Im Juni 2014 hatte er die Iraker aufgerufen, zu den Waffen zu greifen und den taumelnden Streitkräften im Krieg gegen den "Islamischen Staat" zur Seite zu stehen. Heerscharen von Freiwilligen folgten seinem Ruf, und sie trugen maßgeblich dazu bei, dass das IS-Kalifat am Ende von der Landkarte getilgt wurde. Inzwischen sind die Kämpfer der "Volksmobilisierung" (Al-Haschd al-schabi) als paramilitärischer Dachverband in die staatlichen Sicherheitskräfte integriert. Nur agieren unter seinem Banner eben auch jene Brigaden, die sich nicht dem Staat oder Al-Sistani verpflichtet fühlen, sondern vor allem Chamenei und den skrupellosen und raffinierten Strippenziehern in den Reihen der iranischen Revolutionswächter.

Kerbela, einst Schauplatz jener schicksalhaften Schlacht, ist heute eine der wichtigsten schiitischen Pilgerstädte. Von hier überbringt die Nummer eins der irakischen Religionsgelehrten, der einflussreiche Großajatollah Ali al-Sistani, zum Freitagsgebet seine Botschaften. Kerbela, so heißt es von seinen Anhängern, sei al-Sistanis Sendemast. Es ist ein vergleichsweise wohlhabender Ort. Kerbela gilt als "Obstkorb" des Iraks, ist durchsetzt von üppigen Palmenhainen. Vor allem bringen Abermillionen Gläubige, die Jahr für Jahr zum goldverzierten Hussein-Heiligtum pilgern, Geld in die Stadt.

Unter glitzernden Kronleuchtern umrunden die Gläubigen die Grabstätte, küssen die silbernen Gitterstäbe des Schreins, der unter einer goldenen Kuppel im Herzen einer prächtigen Grabmoschee liegt. Väter heben Kleinkinder über die Köpfe anderer Pilger hinweg, damit auch sie den Schrein Husseins berühren können. Gläubige kauern auf den Teppichen, beweinen Husseins Märtyrertod, als wäre er erst gestern gefallen. Andere beten auf den tiefen Teppichen, daneben schlafen Tagelöhner, die in der Moschee für eine Weile Schutz vor der sengenden Hitze finden. Alte und Invalide werden auf Holzkarren zum Schrein geschoben. Schwarz verschleierte Frauen streifen durch die von buntem Neonlicht erleuchteten Marktstraßen. Die Händler bringen billige Importware unter die Leute, die von Plastikspielzeug in zweifelhafter Qualität bis zu bonbonfarbener Billigmode von zweifelhafter Ästhetik reicht.

Gedenken an den "Helden von Kerbela"

Hinter einem Kaffeestand unweit des Schreins zeugt ein Poster davon, dass auch Kerbela nicht von den irakischen Missständen verschont ist. "Wer hat mich getötet?", lautet der Slogan, der dort geschrieben steht - neben dem Konterfei eines ermordeten politischen Kommentators und Oppositionsaktivisten, der unter seinesgleichen als "Held von Kerbela" bezeichnet wird: Ihab al-Wazni.

Dieser war der führende Kopf der Protestbewegung, die im Zuge der Oktoberdemonstrationen von 2019 auch in Kerbela die frustrierte Bevölkerung mobilisierte. Wie überall im Land ist in der Pilgerstadt der Elan der Massen längst verflogen. Heute diskutieren Aktivisten im Erstsemesteralter an Kaffeehaustischen über Strategien, um dem Aufstand neues Leben einzuhauchen. Auch sie mögen tiefreligiös sein, aber sie interpretieren das Wirken des Imams Hussein anders als jene, die, getrieben von Heilserwartung, Husseins Tod und sein Opfer beweinen und den Schrein küssen. Für sie ist der Prophetenenkel ein Sozialrevolutionär, der trotz eines übermächtigen Gegners gegen die Ungerechtigkeit aufbegehrte. Sie wollen ihr Heil selbst in die Hand nehmen - in der Gegenwart.

Das Haus von Ihab al-Waznis Familie liegt am Ende einer Seitenstraße. Hier schlugen die Mörder in der Nacht zum 9. Mai zu. Es sei gut eine halbe Stunde nach Mitternacht gewesen, als er erschossen wurde, sagt sein Bruder Marwan, ein Rechtsanwalt. Er weist auf einen Flachbildfernseher, auf dem die Bilder der Überwachungskameras flimmern. Sie fielen die Tage vor der Tat aus, weil die Stromversorgung unterbrochen war. Marwan sagt, ein Auto mit schwarz getönten Scheiben und zwei Motorroller seien in der Mordnacht im Viertel unterwegs gewesen.

Studenten in einem Seminar der "Hawza"-Hochschule in Nadschaf, Februar 2020; Foto picture-alliance/AP Photo/H.Mizban
Studenten in einem Seminar der "Hawza"-Hochschule in Nadschaf im Februar 2020. Nadschaf zählt wie Kerbela zu den wichtigsten schiitischen Pilgerstätten. Nur wenige Kilometer von hier entfernt wurde Ali Ibn Ali Talib, der vierte Kalif, ein Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, im Jahr 661 von einem Attentäter ermordet. Jetzt liegt er in Nadschaf im Imam-Ali-Schrein begraben.

Warum wird der Milizenführer auf freien Fuß gesetzt?

Er ist sich sicher, dass sein Bruder ermordet wurde, um der Protestbewegung "den Kopf abzuschlagen". Im Kreis der Weggefährten von Ihab al-Wazni wird auch darüber spekuliert, ob neben der Politik eine "persönliche Fehde" mit einem mächtigen Widersacher eine Rolle gespielt haben könnte. "Die Herzen der Mörder sollen brennen, wie mein Herz verbrannt ist", ruft al-Waznis Mutter. Für sie ist, wie für so viele andere sonnenklar, wer hinter dem Mord steckt: Milizen, die mit dem Nachbarland Iran im Bunde stehen und die auch in anderen irakischen Städten Aktivisten ermordet oder verschleppt haben.

Es sind Dutzende Fälle bekannt, und der Regierung in Bagdad gelingt es weder, ihr Treiben einzuhegen, noch die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Es hat Festnahmen von Tatverdächtigen gegeben, Ende Mai wurde sogar ein ranghoher Paramilitär namens Qasim Muslih festgesetzt, der aus Kerbela stammt und unter anderem mit dem Al-Wazni-Mord in Zusammenhang gebracht wird. Aber die Kraftprobe, die auf den Schlag der Behörden folgte, zeigt schon, dass der Arm des Gesetzes im Irak nur eine sehr begrenzte Reichweite hat. Prompt zogen schwer bewaffnete Milizionäre am Regierungsviertel auf. Am Mittwoch wurde Muslih wieder auf freien Fuß gesetzt. In einem Triumphzug von Gelände- und Pritschenwagen rollte er in seine Heimatstadt Kerbela ein und zog in einer fahnenschwenkenden Menschentraube zum Hussein-Schrein, immer wieder aufgehalten von Getreuen, die seine Wangen küssen oder stolz Selfies schießen wollten.

Der trauernden Familie müssen diese Bilder wie blanker Hohn vorkommen - und ein weiterer Rückschlag in ihrem Kampf gegen die Straflosigkeit. "Die Entscheidung, Qasim Muslih freizulassen, ist illegal", sagt Marwan, der aber weiß, dass es eine politische Entscheidung war. Womöglich, fürchtet er, werden jetzt Beweise vernichtet. Die Familien Muslih und al-Wazni kennen sich. Seit vielen Jahren, wie die Mutter der Ermordeten berichtet. Der Bruder von Qasim Muslih, ebenfalls ein mächtiger Milizkommandeur, gehöre zu denen, die ihren Sohn seit etwa anderthalb Jahren bedrohten.

"Weitermachen ist der einzige Weg"

Dieser habe Tage vor der Tat ausrichten lassen, wenn Ihab nicht mit seiner politischen Arbeit aufhöre, werde er umgebracht wie schon andere vor ihm. "Andere Verwandte von Qasim Muslih haben uns nach dessen Festnahme besucht und gedroht: Wenn er nicht freikommt, sprengen wir euer Haus in die Luft", sagt al-Waznis Bruder Marwan. Er will keine Ruhe geben, bis die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Trotz Todesangst geht er weiter zu den sporadischen Protesten, deren Teilnehmer längst nicht mehr den Schutz genießen, den ihnen einst ihre schiere Masse bot. "Aus den Sicherheitskräften wurde mir gesagt, dass auch ich ein Ziel bin", sagt er. "Aber weiterzumachen ist der einzige Weg."

Der Zorn richtet sich nicht nur auf die irakischen Attentäter, sondern auch auf ihre iranischen Förderer. "Die Armee soll einfach die Grenze abriegeln, dann können wir Iraker in Frieden leben", schimpft die Mutter. Auf sendungsbewusste Antipathie gegenüber dem übergriffigen Nachbarland stößt man in Kerbela immer wieder. Drei Mal schon haben Demonstranten das iranische Konsulat in der Stadt attackiert. Weggefährten von Ihab al-Wazni zürnen nicht nur den mörderischen Vasallen Teherans, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich viele Iraker nicht mehr trauen, zu den Demonstrationen zu kommen. Sie beschweren sich auch darüber, dass irakische Strohmänner den Iranern Immobilien oder lukrative Wirtschaftsprojekte sichern.

Kerbelas Pilgerstätten selbst sind Gegenstand von Machtkämpfen zwischen den Kräften, die dem irakischen Großajatollah Al-Sistani treu ergeben sind, und jenen, deren Loyalität vor allem dem iranischen Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei gehört. In den Sicherheitskräften, die eigentlich nur mit deren Schutz beauftragt sind, sagen örtliche Politiker und Journalisten, herrsche Konkurrenz um die Kontrolle – und um die Einkünfte aus dem Pilgergeschäft.

Grafik Schiiten in der arabischen Welt; Quelle: Pew Research Center 2009

Dem Großajatollah oder Teheran verpflichtet?

Der religiösen Führung der irakischen Schiiten unter Al-Sistani ist mit den Milizen ein sehr unangenehmer Widersacher erwachsen. Im Juni 2014 hatte der Großajatollah die Iraker aufgerufen, zu den Waffen zu greifen und den taumelnden Streitkräften im Krieg gegen den "Islamischen Staat" zur Seite zu stehen. Heerscharen von Freiwilligen folgten seinem Ruf, und sie trugen maßgeblich dazu bei, dass das IS-Kalifat am Ende von der Landkarte getilgt wurde. Inzwischen sind die Kämpfer der "Volksmobilisierung" (Al-Haschd al-schabi) als paramilitärischer Dachverband in die staatlichen Sicherheitskräfte integriert. Nur agieren unter seinem Banner eben auch jene Brigaden, die sich nicht dem Staat oder Al-Sistani verpflichtet fühlen, sondern vor allem Chamenei und den skrupellosen und raffinierten Strippenziehern in den Reihen der iranischen Revolutionswächter.

In Nadschaf, dem Zentrum der mächtigen schiitischen Gelehrsamkeit, herrscht darüber großer Unmut. "Die jungen Leute wollten den Irak verteidigen. Wir unterstützen die Familien und die Kinder der Märtyrer, aber andere haben aus ihrer Opferbereitschaft Profit geschlagen", sagt Zaid Bahr Aluloom, der Führungskraft in einem der vielen religiösen Seminare in der Gelehrtenstadt ist, die wie Kerbela eine Geburtsstätte des schiitischen Islams ist. "Das Problem ist, dass die irakische Regierung schwach ist. Wäre sie stark, könnte Iran im Irak nicht so schalten und walten. Das "Al-Khoei-Institut", benannt nach der alten und einflussreichen Gelehrtenfamilie, aus der ihr Kopf stammt, zählt zu den bedeutenden seiner Art, und gilt als moderat und modern.

Der Eingang ist der materiellen Bedürfnislosigkeit angemessen, die sich für die Religionsgelehrten gehört. Die staubige Fassade und die mit durchsichtigen Plastikstreifen verhängte Tür fügen sich nahtlos in die Tristesse der Gasse ein. Aber wenige Schritte im Inneren öffnet sich der Blick auf einen imposanten siebenstöckigen Neubau mit einem weitläufigen Gebetsraum mit hohen Säulen im Erdgeschoss. Aus dem Büro von Zaid Bahr Aluloom fällt der Blick auf eines der wichtigsten islamischen Heiligtümer: den Imam-Ali-Schrein.

Eine neue Generation von Gelehrten

Nadschaf zählt wie Kerbela zu einer der wichtigsten schiitischen Pilgerstätten. Nur wenige Kilometer von hier entfernt wurde Ali Ibn Ali Talib, der vierte Kalif, ein Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, im Jahr 661 von einem Attentäter ermordet. Jetzt liegt er in Nadschaf im Imam-Ali-Schrein begraben.

Bevor Zaid Bahr Aluloom erklärt, warum Nadschaf die "Hauptstadt" der Schiiten sei, zündet er sich erst einmal eine Zigarette an, was nicht so recht zu Gewand und Turban passen will. Er gehört zu einer neuen Generation von Gelehrten. Manch einer von ihnen hat im Zuge der Massenproteste sein religiöses Gewand abgestreift, um mit den Demonstranten in Nadschaf auf die Straße zu gehen. Auch Aluloom hat eine klare politische Haltung. Er unterstützt die Proteste gegen das abgewirtschaftete System, sieht in Imam Hussein ebenfalls einen Kämpfer gegen die Korruption. "Der Irak ist ein reiches Land", sagt Zaid Bahr Aluloom. "Es kann doch nicht angehen, dass manche seiner Bürger nicht wissen, wie sie an Essen kommen sollen."

Das Stadtbild legt nahe, dass die wirtschaftliche Lage in Nadschaf schlechter ist als in Kerbela. Beide Städte stehen an der Spitze der wichtigen Pilgerstätten, beide gelten als wichtige Machtzentren des Iraks. Aber Nadschaf liegt tiefer in der Wüste und wirkt vernachlässigter. Die Straßen um die Grabmoschee des Imam Ali sind verwaist, viele der Pilgerhotels stehen wegen des Coronavirus leer, manche sind schon dabei zu verfallen. Die Auslagen der Händler in den Straßen um den Imam-Ali-Schrein, wo Al-Sistani in einem bescheidenen Haus lebt, sind weniger üppig als in Kerbela.

Die Totenstadt als Portal in eine bessere Welt?

Auch die Grabmoschee mit dem goldenen Heiligtum wirkt weniger prächtig. Dort weist ein Wachmann, der sich als Fremdenführer angeboten hat, auf eine Gruppe von acht Männern hin, die in der Mittagshitze einen Sarg durch den Hof des Baus tragen. "Manchmal kommen zweihundert am Tag", sagt er und macht mit einem ausladenden Schulterzucken zugleich deutlich, dass das eine sehr grobe Schätzung ist. Während des Krieges gegen den IS, fügt er an, seien es auch mal Tausend am Tag gewesen.

Es ist der letzte Wille vieler Schiiten, nach dem Tod noch einmal das Grabmal Alis, der Erlöserfigur ihres Glaubens, zu besuchen - und dann im "Tal des Friedens" begraben zu werden, einer riesigen, stetig wachsenden Totenstadt. Ali selbst soll die Gegend nahe dem Schrein als "Teil des Himmels" bezeichnet haben. Soweit das Auge reicht, erstreckt sich das staubige, lehmziegelbraune Gräberfeld am großen Nadschaf-See. Dicht an dicht stehen die schlichten Grabstelen, manch eine ist behängt mit bunten Girlanden aus Plastikblumen, die ebenso von der Sonne ausgeblichen sind wie die Porträts der Toten, die an einigen Grabstätten angebracht sind: Alte Männer in Stammeskluft und immer wieder junge Männer in Uniform. Millionen Menschen sollen im "Tal des Friedens" ihre letzte Ruhe finden, und der Überlieferung nach gelangen sie von hier aus direkt ins Paradies.

Hier, in der Totenstadt, gibt es ein Portal in eine bessere Welt. Entsprechend knapp und teuer ist der Platz. Doch selbst hier haben sich mächtige Milizen ihr eigenes Reich gesichert.

Christoph Ehrhardt

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2021