Islam als Diskurs der Freiheit

Hassan Rezaie, Experte für islamisches Recht, argumentiert, dass die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten im Nahen Osten infolge extremistischer Interpretationen der Scharia innerhalb eines rein islamischen Diskurses widerlegt werden können.

Zwei Frauen mit Kopftuch am PC, Foto: Irin News
In Ländern wie Iran und Saudi-Arabien vertragen sich die Scharia-Vorschriften nicht mit der Idee, dass Frauen dieselben Rechte haben sollten – ein Konflikt, für den es bislang wenige Lösungsansätze gibt

​​Religion und religiöse Führer spielen im Hinblick auf gewalttätige Konflikte in den Gesellschaften der Länder des Nahen Ostens eine bedeutende Rolle, teils im positiven, teils im negativen Sinne.

Es ist eine Tatsache, dass in dieser Region die politische Sphäre von der Scharia dominiert wird: Die Gesetzgebung und die institutionellen Körperschaften sind ebenso von Scharia-Vorschriften beeinflusst, wie es die meisten der politischen Führer sind.

In Saudi Arabien, dem Iran, Pakistan, Syrien, sowie im Sudan und in dem von den Taliban regierten Teil Afghanistans stützt die politische Herrschaft sich sogar auf extremistische Lesarten der Scharia.

Legitimation politischer Gewalt durch die Scharia

In den meisten Gesellschaften des Nahen Ostens ist Gewalt ein Teil des täglichen Lebens, und eine besondere Rolle spielt dabei die Gewalt gegen Frauen, die wiederum durch die Scharia legitimiert wird.

Die Nicht-Regierungsorganisation "Freedom House" hat in einer Studie über die Rechte von Frauen in 17 Ländern des Nahen Osten und Nordafrikas kürzlich festgestellt, dass die Gleichheit der Geschlechter, die in all diesen Ländern verfassungsrechtlich festgeschrieben ist (außer natürlich in Saudi-Arabien), allerorten systematisch durch andere, auf der Scharia basierende Rechtsinstrumente unterlaufen wird.

Im Nahen Osten trifft man überall auf sehr gottesfürchtige und fromme Scharia-Gelehrte und Philosophen, die einerseits an den theologischen Fakultäten unterrichten, andererseits aber auch Fatwas aussprechen, welche nicht nur verschiedene Formen von Diskriminierung rechtfertigen, sondern letztlich auch das Foltern und Töten von Menschen.

Sie meinen, Gottes Auftrag zu erfüllen, indem sie ihr islamisches Utopia um jeden Preis schützen, wie hoch dieser Preis für andere auch sein mag. Einfacher ausgedrückt: Sie glauben, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Giftige Kräuter und wilde Tiere

Diese Scharia-Gelehrten vergleichen alle, die sich den Gesetzen ihres Utopia widersetzen und den geistlichen Führern die Gefolgschaft verweigern, mit "giftigen Kräutern und wilden Tieren".

Zugegeben, schon in den alten persischen, arabischen und griechischen Gesellschaften wurden Frauen, ebenso wie Andersgläubige oder Kriminelle, als Menschen zweiter Klasse betrachtet und waren insofern vor Gewalt nicht gefeit.

Doch wie kann man derartige Praktiken in modernen Gesellschaften rechtfertigen, deren Subjekte wissen, dass sie Menschenrechte besitzen, in Zeiten, in denen Menschenrechte weltweit ein wichtiges Thema sind?

Dass Frauen in vormodernen Gesellschaften nicht die gleichen Rechte hatten wie Männer, weil Analphabetismus und Armut Frauen noch mehr trafen als Männer, ist bekannt.

Doch wie kann ein muslimischer Gelehrter diese historische Ungleichheit der Geschlechter zur Begründung dafür heranziehen, dass Frauen "von Natur aus" schwächer seien als Männer, ja dass sie fast schon den "Heerscharen des Satans" zuzurechnen seien und ihr Verstand dem männlichen unterlegen sei?

In der Vergangenheit herrschte im Wesentlichen Einigkeit darüber, was man über die Welt, das eigene Ich, die Frauen, Sklaven und Ungläubigen zu denken hatte. Aufgrund dieser einheitlicheren Perspektive gab es auch keine Ansatzpunkte dafür, sich dem geltenden Recht entgegen zu stellen.

Heute aber hat sich die Art und Weise, wie vor allem die jungen Menschen im Nahen Osten die Welt, sich selbst, die Frauen, die Religion und die Rechtsprechung wahrnehmen, fundamental geändert.

Man kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass die Scharia-Gesetzgebung in den meisten progressiven muslimischen Gesellschaften nicht mehr viel Verständnis findet.

Hinwendung zu humanem Rechtssystem

In diesen Gesellschaften gibt es vielmehr täglich Zusammenstöße zwischen dem, was unübersehbarer Fakt ist, und dem, was die Scharia-Gesetze vorschreiben, zwischen "vojood" und "hoqooq". Frauen haben nicht die Rechte, die ihrem faktischen Status in der Gesellschaft entsprechen würden – genauso wenig wie Nicht-Muslime.

Die Scharia-Vorschriften vertragen sich nicht gut mit der Idee, dass Frauen dieselben Rechte haben sollten – ein Konflikt, für den es bislang wenige Lösungsansätze gibt.

Es kann sie auch nicht geben, denn dazu müsste erst einmal ein Wandel im Denken bezüglich der Scharia selbst stattfinden, ein "Ijtihad" in ihren Prinzipien, nämlich eine Hinwendung zu einem humanen Rechtssystem. Einem Rechtssystem, das die menschliche Würde achtet.

Schließlich heißt es auch im Koran, dass alle Menschen, Frauen und Männer, direkte Ansprechpartner der Stellvertreter Allahs auf Erden sind (Koran 2:30).

"Tawhid" statt Diskriminierung

Muslime glauben an das Prinzip des Tawhid, ein Leitprinzip des Islam, an die Einheit von Mensch, Natur und Gott. Es ist dies ein Prinzip, das jede Form von Diskriminierung ausschließt. Und es gewährleistet, dass das Individuum frei und freiwillig mit dem Selbst, der Gesellschaft und der Natur in Interaktion tritt – unbeeinträchtigt von Machtverhältnissen.

Mein Schluss lautet deshalb, dass der Islam als Diskurs der Freiheit, wie ihn vor allem A. Banisadr vertritt, einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker auf diesem Gebiet, für jede dichotome Herangehensweise an die Geschlechterfrage eine Herausforderung darstellt, und zwar eine originär islamische. (vergl. A.H. Banisadr, The Guiding Principles of Islam, Paris 1993).

Banisadrs Islamverständnis

Dieser Diskurs weist das Gedankengut radikaler Scharia-Vorschriften, die Gewalt gegen Frauen rechtfertigen, scharf zurück. Banisadrs Herangehensweise an den Islam basiert auf Freiheit. Machtverhältnisse, oder besser gesagt: Verhältnisse, die zu Ungleichheit führen, lehnt er grundsätzlich ab.

Anders gesagt, jedes Machtverhältnis zwischen dem Individuum und dem Selbst, dem Individuum und den anderen oder dem Individuum und der Natur ist unislamisch, denn es widerspricht einem islamischen Grundprinzip.

Leider glauben viele Muslime und Andersgläubige irrtümlicherweise, Tawhid bedeute lediglich "göttliche Einheit", es handle sich also um einen Gegensatz zum Polytheismus. Aber in der Tradition des Sufismus, etwa in der Lehre des Rumi, kann man die weitreichenden intellektuellen, sozio-ökonomischen und kulturellen Implikationen des Begriffs erfassen.

Kurz gesagt, Tawhid bezeichnet die Untrennbarkeit alles Bestehenden, eine Einheit des Ich mit dem Nicht-Ich, dem Anderen, des Individuums mit der Gesellschaft, Gottes mit dem Menschen, des Menschen mit der Umwelt. Dieses Konzept ist das genaue Gegenteil aller Dichotomien.

Aus dieser Perspektive erscheinen die Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau, die radikale Islamisten und Anhänger der Scharia-Gesetzgebung als natürlich gegeben betrachten, im Gegenteil als Widerspruch zu dem, was den Islam eigentlich ausmacht.

Die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten mittels ungerechter Vorschriften und Praktiken, wie sie in dem meisten Gesellschaften des Nahen Ostens gang und gäbe ist, kann also sehr gut innerhalb eines islamischen Diskurses selbst zurückgewiesen werden, indem man nämlich auf das Prinzip des Tawhid verweist, das erste und wichtigste Prinzip des Islam selbst, das Machtverhältnissen keinen Raum lässt, weder im Privaten noch im Gesellschaftlichen.

Hassan Rezaei

© Hassan Rezaei/Qantara.de 2005

Übersetzung aus dem Englischen: Ilja Braun

Hassan Rezaei ist Forschungsstipendiat des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg und Experte auf dem Gebiet des islamischen und des iranischen Rechts.

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