Zweierlei Recht

In Großbritannien gibt es - einem Medienbericht der "Sunday Times" zufolge - inzwischen fünf Gerichte, die nach der Scharia urteilen. Möglich wurde das durch ein Gesetz von 1996, das in bestimmten Fällen alternative Streitschlichtung möglich macht. Dirk Eckert berichtet.

In Großbritannien gibt es - einem Medienbericht der "Sunday Times" zufolge - inzwischen fünf Gerichte, die nach der Scharia urteilen. Möglich wurde das durch ein Gesetz von 1996, das in bestimmten Fällen alternative Streitschlichtung möglich macht. Dirk Eckert berichtet.

Fotocollage AP Graphics/DW
Die Existenz islamischer Gerichte heizt die Debatte über die Rolle des Islams im Rechtswesen Großbritanniens und den Einfluss religiöser Autoritäten gegenüber dem Staat weiter an.

​​Den Anstoß hatte ausgerechnet das Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche gegeben. Bei 1,7 Millionen Muslimen in Großbritannien müsse überlegt werden, Elemente der Scharia in das englische Rechtssystem aufzunehmen, hatte Erzbischof Rowan Williams im Februar 2008 gesagt und damit eine hitzige Debatte ausgelöst.

Die meisten Politiker lehnten den Vorschlag rundweg ab. Auch muslimische Briten, die keineswegs alle nach dem streng religiösen Rechtssystem des Islam leben wollen, sprachen sich dagegen aus.

Nun geht die Debatte erneut los: Denn offenbar wird auf der Insel bereits ganz legal nach der Scharia Recht gesprochen. Wie die britische Zeitung "Sunday Times" berichtete, existieren bereits fünf entsprechende Gerichte in London, Birmingham, Bradford, Manchester und Nuneaton.

Geurteilt wird dort in Scheidungsfragen, bei finanziellen Streitigkeiten, aber auch bei Klagen wegen häuslicher Gewalt. Seit August 2007 sollen über 100 Urteile gefällt worden sein. Zwei weitere Gerichte werden demnach in Glasgow und Edinburgh geplant.

Schlichtung erlaubt

Möglich wurde die Einrichtung dieser Gerichte durch den "Arbitration Act" - also den "Schlichtungs-Akt" - von 1996. Demnach können neben ordentlichen Gerichten auch alternative Schiedsgerichte urteilen. Voraussetzung ist, dass beide Parteien die entsprechende Schlichtungsstelle anerkennen.

Die jüdischen Beth-din-Gerichte etwa entscheiden auch auf dieser Rechtsgrundlage, beziehungsweise aufgrund entsprechender Vorläufergesetze. Beth-din-Gerichte existieren in Großbritannien seit über hundert Jahren.

Diese Gesetzeslage hat sich nun auch das "Muslim Arbitration Tribunal" (MAT) zu Nutze gemacht, das die Scharia-Gerichte betreibt. "Wir haben realisiert, dass wir durch den Arbitration Act Entscheidungen treffen können, die durch den Kreis und Oberste Gerichte durchgesetzt werden können", sagte Scheich Faiz-ul-Aqtab Siddiqi vom MAT.

Dass die Scharia, die für Strafen wie Auspeitschen, Steinigen oder Abhacken von Händen berüchtigt ist, in Großbritannien auf Ablehnung stoßen könnte, scheint den islamischen Richtern durchaus klar zu sein: "Wir glauben an die Koexistenz von englischem Recht und den persönlichen religiösen Gesetzen", heißt es deshalb beschwichtigend auf der Internetseite des MAT.

"Wir glauben, dass die Gesetze des Landes, in dem wir leben, für alle Bürger bindend sind. Wir versuchen nicht, die Scharia jemandem aufzuzwingen."

Angst vor Parallelgesetzgebung

Das MAT verspricht außerdem, dass es vor Gericht keine Diskriminierung nach Rasse oder Geschlecht geben werde. Genau daran sind Zweifel angebracht. So hat das Scharia-Gericht in Nuneaton laut "Sunday Times" in einem Erbfall den Söhnen je doppelt so viel wie den Töchtern zugesprochen.

In Fällen von häuslicher Gewalt wurde die gewalttätigen Ehemänner zu Kursen über Aggressionskontrolle verurteilt. Die Frauen zogen daraufhin ihre Anzeigen bei der Polizei zurück, eine weitere Strafverfolgung unterblieb. Siddiqi rechtfertigte die Urteile damit, dass auf diese Weise die Ehe gerettet worden sei.

Die Regierung in London hielt sich nach der Veröffentlichung des Times-Berichts zunächst bedeckt. Die oppositionellen Konservativen griffen die Labour-Regierung an: Ihr justizpolischer Sprecher, Dominic Grieve, nannte die Scharia-Gerichte "ungesetzlich".

In Großbritannien wachsen jetzt die Bedenken, dass die Scharia zu einer Parallelgesetzgebung wird. Die Boulevardzeitung "The Sun" veröffentlichte eine Umfrage, wonach die Mehrheit der Leser dagegen ist, dass die Scharia in Großbritannien angewandt wird. Im Internet sehen Blogger Großbritannien auf dem Weg von der Magna Charta zur Scharia und warnen vor Kapitulation gegenüber dem Islam.

Scharia und englisches Recht kompatibel?

Rowan Williams; Foto: AP
Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, sorgte mit seinem Plädoyer für die Eingliederung von Teilen des islamischen Rechts ins britische Rechtswesen für großes Aufsehen.

​​Der Muslim-Rat von Großbritannien wiederum argumentierte, wenn jüdische Gerichte erlaubt seien, dann müssten auch Scharia-Gerichte möglich sein. Gegen diesen Vergleich wandte sich die "Spectator"-Kolumnistin Melanie Philipps:

Der große Unterschied zwischen den jüdischen und den Scharia-Gerichten sei, dass erstere "gänzlich innerhalb der britischen Gesetze operieren", letztere mit ihrem Recht aber gegen die Menschenrechte verstießen. "Wenn das so weiter geht, wird Großbritannien als Staat, in dem 'ein Gesetz für alle' gilt, auseinanderbrechen", warnte sie.

Manche Nicht-Muslime können sich allerdings vorstellen, dass muslimische Communities in Großbritannien zumindest teilweise ihr eigenes Recht bekommen.

Erzbischof Rowan Williams gehört dazu und auch der Oberste Richter von England und Wales, Lord Nicholas Addison Phillips. Im Juli hatte er erklärt, Scharia-Gerichte könnten zum Beispiel bei finanziellen Streitigkeiten oder in Eheangelegenheiten urteilen. Drakonische Strafen dürften aber nicht verhängt werden, betonte Lord Phillips.

Behinderung der Integration

Ob eine separate Rechtssprechung die Integration von Migranten fördert, darf allerdings bezweifelt werden. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade rät jedenfalls nicht dazu, das englische Beispiel nachzuahmen und streng islamische Gesetze in Deutschland zuzulassen.

"Wer in Deutschland leben will, muss die deutsche Rechtsordnung respektieren", sagte Bade. Eine eigene Scharia-Gerichtsbarkeit wäre damit unvereinbar: "Das würde die Integration doppelt behindern, nämlich einerseits die Eingliederung der Migranten selbst und andererseits die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft."

Dirk Eckert

© DEUTSCHE WELLE 2008

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