Stille Rebellion

Sara Salars Roman erschien 2009 in Teheran, wurde im gleichen Jahr viermal aufgelegt und erhielt mehrere Literaturpreise. Doch nachdem 16.000 Exemplare verkauft waren, ließ die Zensurbehörde den Roman verbieten. Volker Kaminski hat das Buch gelesen.

Von Volker Kaminski

Die Handlung des Romans beschränkt sich auf den Vormittag einer jungen Mutter, die ihren fünfjährigen Sohn vom Kindergarten abholt und mit ihm durch die Stadt fährt – kein Stoff, von dem man politische Brisanz erwarten würde. Doch der Text, der jetzt in der wunderbaren Übersetzung von Jutta Himmelreich bei P. Kirchheim erschienen ist, erweist sich als ein Stück subversiver Gedankenprosa – ein literarischer Geniestreich.

Während sich die namenlose Heldin in ihrem BMW durch den Teheraner Berufsverkehr bewegt, ist sie gedanklich bei ihrer besten Freundin Gandom. Seit dem Aufstehen muss sie pausenlos an sie denken. Sie hört Gandom sprechen und erinnert sich an Dialoge, die vor allem zeigen, dass Gandom meistens das letzte Wort behält. Doch Gandom, die gut aussehende, dominante Freundin aus reichem Haus, ist ein Phantom: Die Heldin beendete ihre Freundschaft mit ihr schon vor acht Jahren, als sie Keyvan heiratete und ein neues Leben begann.

Fehlendes Selbstbewusstsein

An diesem Vormittag durchlebt sie ihre lang zurückliegende Geschichte mit Gandom neu, während sie mit ihrem kleinen Sohn auf dem Rücksitz durch die Stadt fährt und hin und wieder anhält, um einen Kaffee zu trinken oder einen Besuch zu machen. Schritt für Schritt erinnert sie sich an die vielen Momente ihrer peinlichen Unterlegenheit und ihres fehlenden Selbstbewusstseins.

Die Freundinnen besuchten zusammen die Schule und zogen später nach Teheran, um zu studieren. Anfang der Neunzigerjahre nach dem iranisch-irakischen Krieg wohnten sie in einem Studentenheim. Doch diese Einzelheiten werden nicht chronologisch erzählt, sondern in einem anhaltenden Bewusstseinsstrom in die Handlung eingestreut.

Die Heldin erinnert sich sporadisch an ihre Zeit mit Gandom und die Freundschaft mit Farid, einem linken Zeitschriftenmacher, der mit staatlichen Zensurbehörden in Konflikt geriet. Doch sie weiß nicht, was aus Farid geworden ist und ob Gandom und Farid heute noch Kontakt haben.

Buchcover Sara Salar "Hab ich mich verirrt?" im Verlag P. Kirchheim
Ein Stück subversive Gedankenprosa: Souverän zeichnet der Roman „Hab ich mich verirrt?“ das Porträt einer jungen Frau, die durch Heirat zu Wohlstand gekommen ist, doch dabei sich selbst verloren hat.

Warum die Heldin Gandoms Einfluss in der Schulzeit hilflos unterlag und sich von ihr manipulieren ließ, erklärt sich aus ihrer eigenen Herkunft: Sie verlor ihren Vater schon als Zehnjährige, ihre zwei Brüder starben bei einem Unfall, dessen Einzelheiten sie nie in Erfahrung bringen konnte. Ihre Mutter wurde psychisch krank, begann zu trinken und blieb seither hauptsächlich im Bett. In dieser Einsamkeit bot die Freundin ihr den einzigen Halt.

Doch warum fühlt sie sich an diesem Morgen Gandom erneut ausgeliefert? Immerhin ist sie schon fünfunddreißig. Haltlos springen ihre Gedanken von einem Gegenstand zum nächsten. Daneben meldet sich ihr Sohn zu Wort, den sie nicht vernachlässigen will. Und immer wieder klingelt ihr Handy, ihr Mann erkundigt sich nach ihrem Befinden.

Nichts, was ihr an diesem Tag widerfährt – ein kleiner Ausflug an den Stadtrand mit ihrem Sohn, ein Auffahrunfall, in den ihr Wagen verwickelt wird, weil sie in der zweiten Reihe parkte, ein Besuch jenes Studentenheims, in dem sie zusammen mit Gandom wohnte – vermag sie abzulenken und ihr ein wenig Sicherheit zu geben.

Von Selbstzweifeln geplagt

Es ist stellenweise beängstigend der jungen Frau zu folgen, wie sie von innerer Unruhe getrieben über die Autobahn jagt und mit ihren Selbstzweifeln kämpft. Immer wieder greift sie nach ihrer Wasserflasche und zieht gierig daran, als wollte sie die ihr entgangene Muttermilch nachträglich einsaugen.

Doch nach und nach beginnt sie sich gegen Gandoms Dominanz in ihren Gedanken zur Wehr zu setzen. Und sie fängt an ihr jetziges Leben an der Seite ihres Ehemanns in Frage zu stellen, das ihr leer und verfehlt erscheint. Sie macht sich die vielen Zwänge klar, von denen sie sich bis heute nicht befreien konnte.

Ein Beispiel für ihre Unfreiheit ist ihr Handy, das während der Fahrt viel zu oft klingelt und zu einem Symbol ihres Gefangenseins wird. Es ist nicht nur ihr Ehemann, der auf Geschäftsreise ist und sie aus der Ferne kontrollieren will. Auch ein Geschäftsfreund, der die Ehefrau während seiner Abwesenheit in seine Obhut nimmt, belästigt sie mit pausenlosen Anrufen, bei denen er sie überdies mit zudringlichen Liebesgeständnissen quält.

Am deutlichsten aber wird die Bedrängnis der Heldin durch ein beiläufiges Detail, das im ganzen Roman keine Auflösung findet: Sie erwacht morgens mit einem blauen Auge, das sie notdürftig überschminkt. Immer wieder wird sie am Tag von verschiedenen Leuten nach der Ursache ihrer Verletzung gefragt, doch ihre Standardantwort, sie sei gestürzt und habe sich gestoßen, glauben ihr weder die Menschen im Roman noch wir, die Leser.

"Mein Leben ist verworren, schief und krumm"

Souverän zeichnet der Roman das Porträt einer jungen Frau, die durch Heirat zu Wohlstand gekommen ist, doch dabei sich selbst verloren hat. Sie habe "in der Vergangenheit irgendwas liegen gelassen", das sie jetzt suche. In der Auseinandersetzung mit Gandom erkennt sie, dass ihr damals und heute der Mut gefehlt hat zu sich selbst zu stehen. "Mein Leben ist verworren, schief und krumm", so resümiert sie und nichts ist ihr nun wichtiger als dieses Leben neu zu beginnen, es zu verändern und sich endlich selbst zu bestimmen.

Die Geschichte mit Gandom hat für sie noch eine anderen ungeklärten Aspekt: Hatte Gandom ein Verhältnis mit Farid? Diese Frage quält sie und sie muss ihr nachgehen, obwohl sie eigentlich viel zu ängstlich dazu ist. Erst nach langer Irrfahrt durch Teheran beschließt sie endlich – ohne ihren Sohn – Farid in seiner Redaktion aufzusuchen. Es ist der Höhepunkt ihrer Odyssee und ein Wendepunkt im Roman.

Gegen Ende der Handlung wird der Erzählton ein wenig pathetisch und dem Schluss hätte etwas weniger Melodramatik sicher gut getan. Andererseits wird auf diese Weise deutlich, welche Anstrengungen es die junge Frau kostet, sich von den ihr auferlegten Zwängen zu emanzipieren. Vielleicht ist es gerade dieser Tonfall, der so authentisch und lebensecht wirkt, der die Zensurbehörde dazu veranlasste, diesen kurzen intensiven Roman auf den Index zu setzen.

An einer Stelle im Roman bekommt die Heldin ein unerwartetes Geschenk: Ein junger Mann reicht ihr durchs offene Autofenster eine Musik-CD. Später legt sie diese CD ein (nachdem sie ihre alten CDs aus dem Fenster geworfen hat). "Jemand singt: Ein zahmer Geist zählt die Sterne, ein rebellischer Geist pflückt sie sich..." Es klingt wie ein Motto für ihren stillen Kampf um ihr selbst bestimmtes Ich.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2015

Sara Salar: "Hab ich mich verirrt?", aus dem Persischen von Jutta Himmelreich, P. Kirchheim Verlag, 176 Seiten, ISBN 978-3-87410-132-5