Wenn die Zeit aus den Fugen gerät

Im vergangenen Jahr berichtete der ägyptische Literaturkritiker Mohammed Shoair von einer ungewöhnlichen Entdeckung: Im Nachlass von Nagib Mahfuz, dem einzigen ägyptischen Literatur-Nobelpreisträger, fand er bislang unbekannte Werke, die die Tochter des Autors in einem Karton aufbewahrt hatte. Von Marcia Lynx Qualey

Von Marcia Lynx Qualey

Mohammed Shoair machte eine ganze Reihe faszinierender Entdeckungen. Die erste befand sich in einem verstaubten Karton. Darin fand er eine Mappe mit einer handschriftlichen Notiz von Mahfuz, aus der hervorgeht, dass die darin enthaltenen Schriften eigentlich 1994 veröffentlicht werden sollten.

Doch 18 dieser Werke erschienen nie. Warum, lässt sich nur vermuten: 1994 wurde Mahfuz von einem radikalisierten jungen Mann mit einem Messer angegriffen. Er überlebte schwer verletzt. Nach dem Attentat konnte Mahfuz nicht mehr eigenhändig schreiben. Seine kurzen letzten Arbeiten musste er diktieren.

Wir wissen nicht, was Mahfuz mit den Geschichten vorhatte, die jetzt im Band The Quarter zusammengestellt wurden. Möglicherweise plante er selbst bereits die Veröffentlichung oder aber es waren Grundideen für einen neuen Roman. Mohammed Shoair, der in ihnen die Hand des Meisters erkannte, ermutigte Mahfuz' Tochter zur Veröffentlichung.

Bekennende Anhänger der bekannten Kairo-Trilogie von Mahfuz dürften von The Quarter überrascht sein. Mahfuz wird oft als der "ägyptische Balzac" oder auch irreführenderweise als der "ägyptische Dickens" bezeichnet.

Ihn auf die Trilogie zu reduzieren, wäre nicht angemessen. Er war auch Autor von Genre-Experimenten, allegorischen Werken und perspektivischen Studien. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wandte sich Mahfuz von seinen bisher reichen visuellen und psychologischen Landschaften ab. Seine Fiktionen beschäftigten sich nunmehr weniger mit der materiellen Welt als vielmehr mit dem Unsichtbaren.

Buchcover Nagib Mahfuz: "The Quarter" in englischer Fassung; Verlag: Saqi Books
Teils Volksmärchen, teils Sufi-Märchen: Dieser Band aus seinem Nachlass ist von miteinander verwobenen Geschichten und von Mahfuz' späten Experimenten durchdrungen. In The Quarter gibt es keine ausgefeilt nuancierten Charaktere. Das geografisch und historisch Konkrete tritt zurück. Wir sind im "Viertel", aber es gibt kein bestimmtes ägyptisches Spezifikum oder bekanntes Ereignis.

Teils Volksmärchen, teils Sufi-Märchen

Dieser neue Band von miteinander verwobenen Geschichten ist durchdrungen von Mahfuz' späten Experimenten. In The Quarter gibt es keine ausgefeilt nuancierten Charaktere. Es gibt weder einen nachdenklichen Kamal Abd Al Jawwad noch einen schuldgeplagten Mansour Bahi. Das geografisch und historisch Konkrete tritt zurück. Wir sind im "Viertel", aber es gibt kein bestimmtes ägyptisches Spezifikum oder bekanntes Ereignis.

Die Geschichten in The Quarter – teils Volksmärchen, teils Sufi-Märchen – sind anti-national angelegt. Es gibt bedeutendere Orte außerhalb dieses Viertels: Europa, den mondänen Kairoer Stadtbezirk Zamalek..., aus dem der später erwähnte Gesundheitsinspektor kommen könnte. Aber dieses Viertel ist nicht an eine nationale oder regionale Geschichte gebunden.

Am Ende des Sammelbandes verweisen die Verleger von Saqi Books auf die Nobelpreisrede von Mahfuz. Mahfuz hielt seine Rede 1988 nicht persönlich. In ihr findet sich aber das Thema von The Quarter wieder. Die Rede bejaht den Nobelpreis, lässt ihn zugleich aber auch provinziell erscheinen.

Obgleich Mahfuz nicht gerne reiste, ist seine Rede zutiefst international geprägt und wirft ein Schlaglicht auf das Unrecht der Apartheid in Südafrika und die Lage in Palästina.

"Es ist zum Äußersten gekommen"

Die Werke in The Quarter, die vermutlich zwischen 1988 und dem Attentat im Jahr 1994 entstanden, speisen sich aus dieser Universalität. Sie brechen mit vielen westlichen Genrekonventionen. Die Zeit gerät aus den Fugen, Katastrophen kommen aus dem Nichts und Ereignisse werden fast nie logisch erklärt.

Die erste Geschichte, "Die Bäckerei", ist wie eine moralische Allegorie angelegt. Sie beginnt mit dem Satz: "Es ist zum Äußersten gekommen."

Die Tochter eines reichen Kaufmanns ist mit dem Sohn des örtlichen Bäckers durchgebrannt. Wir erfahren, was die Nachbarschaft denkt: "In jeder Gasse war mindestens ein Wohlgesinnter schockiert[.]" Aber wir wissen nicht, was Ayousha, Zeinhum oder deren Eltern darüber denken.

Getreu der volkstümlichen Erzählweise macht der entehrte Kaufmann eine schwere Zeit durch, worauf seine Tochter zurückkehrt, um ihre Familie vor dem finanziellen Ruin zu retten. Doch die Geschichte endet nicht in einer sentimentalen Versöhnung. Stattdessen tauchen zwei Autoritätspersonen des Viertels auf, nämlich der "Älteste des Viertels" und der "Imam der Moschee". Sie äußern ihre Meinung aus der Erzählperspektive wie am Schluss mancher Bühnenstücke.

Der Älteste stellt fest, dass es "nicht notwendig" sei, dem Mädchen zu vergeben, da sie noch zur rechten Zeit gekommen sei. Ihr wird also nicht wegen ihres Verhaltens Barmherzigkeit gewährt, sondern weil sie "im richtigen Moment" eintraf. Im Laufe der Sammlung entwickeln sich die Geschichten weniger wie Sufi-Märchen als vielmehr wie mystische Rätsel.

"The Prayer of Shaykh Qaf" (dt. "Das Gebet von Shaykh Qaf") ist eine Art Kriminalroman, in dem wir das Wer, Was und Warum aus den ersten sieben Sätzen erfahren. Die offenbar schuldige Partei ist geständig und die Geschichte scheint damit beendet zu sein. Aber eine "heimliche Stimme" aus dem Viertel verbreitet die Kunde, das Geständnis sei falsch.

Der Älteste des Viertels ist besorgt und besucht das Haus von Shaykh Qaf, der den Täter zu kennen scheint. Die beiden Männer tauschen rätselhafte Bemerkungen aus, geben sich die Hand, und Shaykh Qaf sagt bedeutungsvoll, er hoffe, den Ältesten des Viertels wiederzusehen. Eine Geschichte, die zunächst klar begann, endet so in einem Geheimnis.

Überall in der Sammlung wird die rationale Kausalität zugunsten einer ungeklärten Tragödie ausgehebelt. Sandstürme ziehen auf, Pfeile werden aus dem Nichts abgeschossen, heimliche Stimmen sprechen bittere Wahrheiten aus und es kommt zu wilden Raufereien. Protagonisten brechen ohne ersichtlichen Grund massenhaft in Weinkrämpfe aus.

Das ist in "Your Lot in Life" (dt. "Dein Schicksal") der Fall. Die Geschichte beginnt mit einem Satz, der die Eingangsformel der arabischen Volksmärchen umformuliert. Ein traditionelles arabisches Märchen beginnt meist mit: "Es wird berichtet in den Erzählungen aus alter Zeit und aus der Völker  Vergangenheit..." Mahfuz beginnt seine Geschichte mit: "Wir wissen nicht genau, wann es dazu kam. Alle, die es gesehen haben, haben ihre eigene Version. Die Zeit hat ihre Ordnung verloren."

Das heilsame Lachen

In "Your Lot in Life" leidet das gesamte Viertel unter unerklärlichen Weinkrämpfen. Der Imam empfiehlt "heiße Bäder und kalte Getränke" gegen das massenhafte Weinen. Im Unterschied dazu sieht eine alte Frau im Exorzismus das alleinige Heilmittel.

Schließlich trifft der Gesundheitsinspektor im Viertel ein. Er geht von Tür zu Tür, ohne etwas zu finden. Erschöpft lässt er sich bei einem Straßenmusiker nieder. Als der Musiker das Lied anstimmt "Dein Schicksal wird dich sicher finden..." endet das massenhafte Weinen schlagartig. Nicht heiße Bäder und kalte Getränke, Exorzismus oder die Nachforschungen des Gesundheitsinspektors haben geholfen. Nur der Musik ist es zu verdanken, dass: "alle in Lachen ausbrechen."

Unbekümmertheit, Lachen und Musik machen die kleinen Freuden dieser Sammlung aus. Der Imam fordert einen Jungen auf: "Gehe zurück in deine Moschee". Der Bursche entgegnet dem Imam vorwitzig: "Geh du doch zurück in deine Moschee!" Neben dem Musiker mit den heilsamen Liedern in "Your Lot in Life" hören wir auch Munira, Abd al-Hayy, Beethoven und Sayyid Darwish.

Die Musik könnte letztlich die universellste Form der Kommunikation sein. Ein Lied könnte im örtlichen Stadtviertel ebenso wie in ganz Europa geschätzt werden; vom Gesundheitsinspektor ebenso wie von der alten Frau. Am Ende stützt sich Mahfuz' The Quarter stark auf diese nonverbale Intertextualität. Möglicherweise ist daraus nicht das vorgesehene vollständige Werk geworden, aber doch ein überzeugendes Experiment in Klang und Nachklang.

Marcia Lynx Qualey

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Peter Lammers