Nicht Forderungen, sondern Empathie

"Hört auf zu fragen! Ich bin von hier!" – so heißt das jüngst erschienene Buch der Journalistin Ferda Ataman. Es enthält ziemlich viele Appelle, ist ein Rundumschlag der jüngsten Migrationsdebatten und blendet Probleme der offenen Gesellschaft aus. Von Canan Topçu

Von Canan Topçu

Dass sie seit ihrer Kindheit "fremden Leuten immer wieder erklären" soll, woher sie kommt, ist der Ausgangspunkt von Ferda Atamans Positionierung zu der Frage "Woher kommst Du?". Sie appelliert an "Ausschließlichdeutsche ohne Migrationshintergrund", mit dem Fragen nach der Herkunft aufzuhören.

Ataman will ihr Buch als Debattenbeitrag verstanden wissen – und zwar nicht "einer Migrantin, sondern als Einwurf einer Bürgerin, die sich Sorgen um ihr Land macht. Einer besorgten Bürgerin quasi". In zwei Abschnitten, die jeweils fünf Kapitel unterteilt sind, setzt sie sich mit der deutschen Gesellschaft sowie der Migrationspolitik und –Debatte auseinander. Im ersten Teil informiert sie - über fünf vermeintliche Missverständnisse im Einwanderungsland.

Aufklären über fünf Missverständnisse

Das erste sieht Ataman darin, dass Einwanderung nur dann gewollt ist, wenn sie "uns zu etwas nützt", und dass von Migranten erwartet wird, dankbar zu sein. Was sie davon hält, fasst schon die Überschrift des ersten Kapitels zusammen: "Migranten schulden Deutschland nichts. Im Gegenteil."

Das zweite Missverständnis basiere auf der Annahme, dass "deutsch" nur diejenigen sein könnten, die von Deutschen abstammten. Ataman fordert den Abschied von der völkischen Idee des Deutsch-Seins.

 Buchcover Ferda Ataman: "Hört auf zu fragen! Ich bin von hier!" im S. Fischer Verlag
Die Journalistin Ferda Ataman ist Tochter türkischer Einwanderer, wurde in Deutschland geboren und gehört zu den selbstbewussten Nachkommen von Arbeitsmigranten; diese Generation will als Teil dieser Gesellschaft wahrgenommen werden.

Ein weiteres Missverständnis macht sie daran fest, dass "Integration" nicht ganz klar und mit einem Ziel definiert sei, sondern als Bringschuld verstanden werde.

Das vierte Missverständnis fasst Ataman so zusammen: Migration werde als "Ausnahmezustand" gesehen und daraus ein Problem gemacht, obwohl Europa "schon immer ein Mekka für Mobile" gewesen sei.

Das fünfte Missverständnis entstehe dadurch, dass die eigentliche Ursache für die Probleme in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland nicht so ernst genommen würden: nämlich der Rechtsruck und die damit einhergehende Bedrohung der Demokratie.

Forderung nach neuer Definition vom Deutsch-Sein

An Beispielen – meist anhand aktueller Ereignisse und Debatten – widerlegt Ataman die ihrer Meinung nach in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden Meinungen darüber, wie Migrant*innen sind, zu sein haben und was Deutschland bedroht. Dass auch sie übersitzt, pauschalisiert und nur die eine Seite verantwortlich für Probleme macht, scheint der Autorin nichts auszumachen. "Gelungene Integration interessiert uns nicht. Wir reden vor allem über Desintegration", schreibt sie. Abgesehen davon, dass nicht klar wird, wer dieses "Wir" sein soll, stimmt diese Aussage so nicht.

Dass Migration kein neues Phänomen ist, dürfte inzwischen allen, die es wirklich wissen wollen, bekannt sein. Dass die offene Gesellschaft einen Paradigmenwechsel und neues "Wir" braucht und dass dieses Wir "ohne völkischen Ballast" sein soll: Auch diese Forderung ist nicht wirklich neu.

Vieles von dem, was Ataman beschreibt, beklagt, analysiert und vorschlägt, ist bekannt. Gerade in jüngster Zeit sind etliche Beiträge in Medien veröffentlicht worden und Bücher erschienen, die sich weitaus differenzierter mit den Migrationsdebatten befassen.

Empowerment für "Mihigrus" - Menschen mit Migrationshintergrund

Ataman ist Tochter türkischer Einwanderer, wurde in Deutschland geboren und gehört zu den selbstbewussten Nachkommen von Arbeitsmigranten; diese Generation will als Teil dieser Gesellschaft wahrgenommen werden. Ataman ist bekannt geworden als Spiegel-Kolumnistin, die den Bundesinnenminister so verärgert hat, dass dieser seine Teilnahme an einer Integrationskonferenz abgesagt hat.

Die Journalistin avancierte zur Wortführerin in der Debatte und formulierte die Forderungen von "Mihigrus", wie sie im Buch Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund bezeichnet. "Mihigrus" will sie als "liebevolle" Formulierung verstanden wissen.

Nicht auf Anhieb erkennbar ist hingegen, wie all die anderen Wortschöpfungen gemeint sind - so etwa "Ausschließlichdeutsche", "Standartdeutsche", "Wurzeldeutsche", "Homoallemanen" und "Original-Volksangehörige". Und wie sollen "Bewährungsdeutsche" und "Probehalber-Deutschen" gelesen werden?

Humor nicht auf Anhieb zu verstehen

Soll das witzig sein? Wenn ja, dann ist das nicht auf Anhieb zu verstehen, auch wenn Ataman in der Einleitung schreibt, ihr sei es wichtig, dass die Auseinandersetzung nicht verbissen geführt werde. Atamans Humor funktioniert, wenn sie spricht; in der Schriftsprache aber wenig.

Der freche Ton, die fordernde Art gefällt - wie den bisherigen Reaktionen auf das Buch entnehmbar - vor allem den "Mihigrus", insbesondere denen, die sich auskennen in den Diskursen und ähnlicher Meinung sind wie die Autorin. Eben diese Leserinnen und Leser bestätigt Ataman in ihren Positionen; im Sinne des Empowerments von Mihigrus ist dieses Buch sicherlich hilfreich.

Ob ihre Vorschläge für einen konstruktiven Migrationsdiskurs bei denen ankommen, die nichts halten von der offenen Gesellschaft? Wohl kaum - ob der forschen Art und fordernden Haltung der Autorin. Wer will sich schon im frechen Ton sagen lassen, welche Einstellung er zu Migration und zur offenen Gesellschaft zu haben hat. Hilfreich beim Überzeugen der Einwanderungsgegner und derer, die eine restriktive Migrationspolitik wollen, ist das Buch nicht.

Empathie für die Perspektive von "Mihigrus" weckt übrigens ein anderes Buch, das zeitgleich mit Atamans Streitschrift erschienen ist: "Ich bin Özlem". Dilek Güngör, ebenfalls Tochter türkischer Arbeitsmigranten, hat für die literarische Form gewählt, um die Frage nach der Herkunft zu ergründen.

Die Autorin lässt die Ich-Erzählerin zurückblicken, an Kindheit und Jugend erinnern und nach Antworten auf Fragen suchen, die ihr andere, vor allem aber auch sie sich selbst stellt – auch die nach der Herkunft. Özlem Bestandsaufnahme erfolgt ohne Anklage, ohne Vorwürfe. Sie erzählt, wie sehr die Fremdzuschreibungen ihre (Selbst-)Wahrnehmung, ihr Denken und ihr Verhalten beeinflusst haben.

Mitgefühl für einen Perspektivwechsel

Güngör erzählt in leisen Tönen und nimmt so die Leser mit in die  Erinnerungen und die Gedankenwelt der Romanfigur. Und genau deswegen schafft sie es, Empathie zu wecken – also das, was im Migrationsdiskurs kaum vorkommt; dabei ist Mitgefühl wesentlich für einen Perspektivwechsel und das Verstehen von Menschen mit hybriden Identitäten.

Güngör hat für alle in dieser Gesellschaft geschrieben. Und Ataman? Auf einer der letzten Seiten ist zu lesen: "Ich schreibe diese Streitschrift, weil ich den Eindruck habe, dass die vielen Entscheidungsträger*innen nicht richtig auf den Rechtsdruck reagieren". Ein gutes Motiv. Aber: Ataman hätte sich vor dem Schreiben eingehender mit der Frage befassen sollen, ob sich Humor, Ironie und Zuspitzung als Stilmittel für ein Buch eignen, das auf den Rechtsdruck aufmerksam machen und den Kritikern der offenen Gesellschaft Paroli bieten will.

Canan Topçu

© Qantara.de 2019

Ferda Ataman: "Hört auf zu fragen! Ich bin von hier!", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019, 208 Seiten, ISBN 9783103974607

Dilek Güngör: "Ich bin Özlem", Verbrecher-Verlag, Berlin 2019, 160 Seiten, ISBN: 9783957323736