Lehren aus Syrien für die Ukraine

Bellingcat-Gründer Eliot Higgins: "In Syrien haben wir uns all die Prozesse erarbeitet, die wir jetzt in der Ukraine anwenden. Dort haben wir auch viele Beziehungen mit der Tech-Community aufgebaut sowie mit Organisationen, die sich für Menschenrechte und Transparenz einsetzen, mit politischen Entscheidungsträgern und vielen mehr." 
Bellingcat-Gründer Eliot Higgins: "In Syrien haben wir uns all die Prozesse erarbeitet, die wir jetzt in der Ukraine anwenden. Dort haben wir auch viele Beziehungen mit der Tech-Community aufgebaut sowie mit Organisationen, die sich für Menschenrechte und Transparenz einsetzen, mit politischen Entscheidungsträgern und vielen mehr." 

Jahrelang haben Aktivisten Beweise für russische Kriegsverbrechen in Syrien gesammelt und auf Open-Source-Plattformen eingestellt. Können ihre Erfahrungen jetzt helfen, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Ukraine-Krieg zu verfolgen? Von Cathrin Schaer

Von Cathrin Schaer

Die russischen Angriffe auf die Ukraine weisen viele Ähnlichkeiten mit dem Krieg in Syrien auf. In Syrien trafen russische Bomben die zivile Infrastruktur, Schulen und Kindergärten, Krankenhäuser und Märkte. Dasselbe geschieht nun in der Ukraine. Bei einigen dieser Vorfälle handelt es sich nach dem humanitären Völkerrecht möglicherweise um Kriegsverbrechen.

In der Ukraine und in Syrien werden solche Vorfälle durch Open-Source-Aktivisten untersucht. Diese Gemeinschaft von ehrenamtlichen und hauptberuflichen Online-Ermittlern nutzt frei verfügbare Informationen - daher der Name "Open Source" - um die unterschiedlichen Vorfälle zu registrieren und zu überprüfen.

In der Ukraine sammeln Open-Source-Ermittler Videos von Raketenangriffen, die in den sozialen Medien veröffentlicht werden. Sie zählen zerstörte Panzer und tragen die Namen von getöteten Soldaten zusammen. Während einige dieser Ermittler über die ganze Welt verstreut sind, befinden sich andere in der Ukraine. Die Open-Source-Ermittler in Syrien gingen in den letzten 11 Jahren ähnlich vor.

Anfänge in Syrien

In Syrien war diese Art der Online-Recherche noch neu und musste sich erst entwickeln. In der Ukraine ist sie nun schon ausgereifter. "Alles, was in Syrien und in der Ukraine zwischen 2014 und 2017 geschehen ist, hat den Boden für die Arbeit jetzt bereitet", stellt Eliot Higgins fest, Gründer von Bellingcat, einem weltweit führenden Internet-Recherchenetzwerk. "In Syrien haben wir uns all die Prozesse erarbeitet, die wir jetzt in der Ukraine anwenden. Dort haben wir auch viele Beziehungen mit der Tech-Community aufgebaut sowie zu Organisationen, die sich für Menschenrechte und Transparenz einsetzen, mit politischen Entscheidungsträgern und vielen mehr." 

 

We have now visualised this data in a TimeMap feature that allows users to explore what we have found https://t.co/rUBG22X4SV

— Bellingcat (@bellingcat) March 17, 2022

 

Mnemonic ist eine in Berlin ansässige gemeinnützige Organisation, die bei diesen Bemühungen eine wichtige Rolle spielt. Es begann mit dem Syrian Archive, einer Open-Source-Plattform, die eingerichtet wurde, um digitale Beweise für Menschenrechtsverletzungen während des Syrienkriegs zu sichern.

Gegründet wurde das Archiv 2014 von dem syrischen Journalisten und Experten für digitale Sicherheit, Hadi al-Khatib. Ihm war aufgefallen, dass die Aktivisten über keine zentrale Stelle verfügten, an der Videos und andere in Syrien gesammelte Materialien gespeichert werden konnten. Mögliche Beweise für Kriegsverbrechen gingen so verloren. Seitdem haben Al-Khatib und sein Team das Jemenitische Archiv und das Sudanesische Archiv gegründet und haben jetzt damit begonnen, das Ukrainische Archiv aufzubauen, um Materialien zu sichern, die Bellingcat als wichtig einstuft.

"Wir haben nur ein paar Tage benötigt, um das Ukrainische Archiv einzurichten", erzählt Al-Khatib. "Wir wussten, wie wir vorgehen müssen und uns ist bewusst, dass bei der Sicherung des Materials bestimmte Standards und Vorgehensweisen beachtet werden müssen."

Soll das Material vor Gericht Bestand haben, muss die Organisation nachweisen können, woher es stammt und dass es nicht manipuliert wurde. "Wir haben Jahre gebraucht, um mit dem Material aus Syrien diesen Standard zu erreichen", erläutert Al-Khatib. "Damals haben wir das alles gelernt."

Al-Khatib betont außerdem, dass Mnemonic ukrainische Aktivisten darin unterweist, wie sie mit Rohmaterial umgehen müssen. So verfügen sie über Wissen, das syrische Aktivisten lange Zeit nicht hatten.

Mit Kriegsverbrechen vertraut

Doch es gibt noch andere unschöne Lektionen, die die Netzaktivisten in Syrien erst mühsam lernen mussten. "Wenn in der Ukraine Streumunition eingesetzt wird, erkennen wir das jetzt schneller", führt Al-Khatib aus. "Wir kennen diese Munition aus Syrien. Wir wissen, wie sie sich anhört und dass es viele verschiedene kleine Explosionen gibt, die zeitgleich stattfinden, in einem willkürlichen Muster."

Rettung von Babies aus den Trümmern von Aleppo, Syrien (Foto: Getty Images/AFP)
"Was 2016 in Aleppo passierte, geschieht jetzt in Mariupol und Charkiw," sagt Hadi al-Khatib, der Gründer des Syrian Archive. Für ihn ist die Weiterentwicklung der Open-Source-Ermittlungen auch eine Frage des politischen Willens. "Viele europäische Länder und Organisationen leiten derzeit Ermittlungen und Untersuchungen zur Ukraine ein. Bei Syrien war es für uns sehr viel schwieriger, sie dazu zu bewegen. Sie sollten sich auch ansehen, was Russland in Syrien getan hat", meint er. "Für uns ist das sehr wichtig. Es geht um dieselben Kriegsverbrechen, nur in verschiedenen Ländern."



Aufgrund der russischen Angriffe auf zivile Infrastruktur, Krankenhäuser und sogar Bauernhöfe in Syrien konnte Mnemonic ein Verfahren erarbeiten, das Al-Khatib als "verbesserte Analyse von Mustern" bezeichnet. Er erläutert, dass es bestimmte Anzeichen in einem Bombenangriff gibt, die deutlich darauf hinweisen, ob zum Beispiel ein Krankenhaus zufällig oder absichtlich von russischen Raketen getroffen wurde. "Man muss die Absicht nachweisen können und dafür haben wir jetzt einen klaren Workflow", versichert Al-Khatib. "Wir wissen jetzt, wie wir vorgehen müssen, denn das, was 2016 in Aleppo passierte, geschieht jetzt in Mariupol und Charkiw."

Auch die Technik, die zum Einsatz kommt, habe sich stark verändert, fügt Samm Dubberly hinzu. Er leitet das digitale Ermittlungslabor von Human Rights Watch. Sowohl die Kameras der Mobiltelefone als auch der Internetzugang haben sich verbessert. Laut Zahlen der Weltbank hatten vor Ausbruch des Krieges 70 Prozent der Ukrainer Zugang zum Internet.

Mittlerweile würden Open-Source-Ermittlungen auch als glaubwürdig und notwendig betrachtet, macht Dubberley deutlich: "Damals, 2011 (als die syrische Revolution begann), versuchten wir noch, herauszufinden, was das alles bedeutet und wie wir es verwenden können. Heute setzen die Gespräche an einem ganz anderen Punkt an. Wir müssen niemanden mehr davon überzeugen, dass unsere Arbeit wichtig ist."

Was heute oft als "Open-Source-Intelligence" bezeichnet wird, kommt schon seit dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Damals begannen die Nachrichtendienste, ausländische Medien zu verfolgen. Heute stehen riesige Mengen an Online-Ressourcen, von Social-Media-Plattformen über Flug- oder Schiffstracker bis hin zu Satellitenbildern und unverschlüsselten Gesprächen über Funk oder Telefon zur Verfügung, die die Netzaktivisten nutzen.

 

— Sam Dubberley (@samdubberley) March 18, 2022

 

 



Der politische Wille ist entscheidend

Die Ergebnisse von Open-Source-Untersuchungen allein reichen in der Regel nicht aus, um Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen oder um einen "unwiderlegbaren" Bericht über einen Vorfall zu veröffentlichen, erläutert Dubberly. Zusätzliche Materialien müssten gesammelt werden, zum Beispiel Berichte von Augenzeugen. Das brauche Zeit.

Eliot Higgins von Bellingcat weist darauf hin, dass es mit der zunehmenden Bedeutung und Aufmerksamkeit für diesen Bereich auch mehr Open-Source-Ermittler gibt als je zuvor. "Je größer unser Publikum wird, desto effektiver werden wir als Organisation", sagt er.

Al-Khatib hebt einen weiteren wichtigen Faktor hervor, der - zwischen dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien bis zum Krieg in der Ukraine heute - zur Entwicklung der Open-Source-Ermittlungen beigetragen hat: "Es hängt auch am politischen Willen. Viele europäische Länder und Organisationen leiten derzeit Ermittlungen und Untersuchungen zur Ukraine ein. Bei Syrien war es für uns sehr viel schwieriger, sie dazu zu bewegen. Ich meine, sie sollten sich auch ansehen, was Russland in Syrien getan hat", schließt er. "Für uns ist das sehr wichtig. Es geht um dieselben Kriegsverbrechen, nur in verschiedenen Ländern."

"Viele von denjenigen, die jetzt an den Vorfällen in der Ukraine arbeiten, haben gesehen, wie Russland in Syrien mit seinen Bombenangriffen auf zivile Ziele jahrelang davongekommen ist", klagt Higgins. "Sie sind frustriert und sogar wütend. Das motiviert eine Menge Leute. Sie sehen hier eine Chance, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden."

Cathrin Schaer

© Deutsche Welle 2022

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.