Neuer Präsident in Iran: Das politische Erbe von Ebrahim Raisi

Ebrahim Raisii bei seiner Vereidigung im iranischen Parlament; Foto: Atta Kenare/AFP/Getty Images
Ebrahim Raisii bei seiner Vereidigung im iranischen Parlament; Foto: Atta Kenare/AFP/Getty Images

Irans neuer Präsident spielte eine Schlüsselrolle beim Großen Massaker von 1988, bei dem etwa 5000 politische Gefangene hingerichtet wurden. Der 28-jährige Raisi war damals als Mitglied des sog. Todesausschusses für die Verhängung der Todesurteile mitverantwortlich. Von Nasser Mohajer und Kaveh Yazdani

Von Nasser Mohajer / Kaveh Yazdani

Irans neuer Präsident Ebrahim Raisi zählte im Jahr 1988 zu den Staatsbediensteten in der Islamischen Republik, die für die außergerichtlichen Massenhinrichtungen Tausender politischer Gefangener zwischen Juli und September desselben Jahres verantwortlich waren.

Listen von Menschenrechtsgruppen und politischen Organisationen sowie den Informationen hinterbliebener Familienmitglieder zufolge wurden im Laufe von ungefähr zwei Monaten zirka 5000 politische Gefangene ermordet – meist durch Erhängen. Weder Raisi noch das politisch-religiöse Establishment, welches das Land seit nunmehr 42 Jahren mit harter Hand regiert, haben sich jemals eindeutig zum Massenmord von 1988 geäußert. Er bleibt bis heute ein gut gehütetes Staatsgeheimnis.

Trotz zahlreicher Beweise und den unermüdlichen Bemühungen Hinterbliebener wissen wir bis dato nicht genau, wie viele Menschen tatsächlich hingerichtet wurden. Denn die Islamische Republik erlaubt keine unabhängigen Untersuchungen der Massenhinrichtungen und bestraft all diejenigen, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit suchen. Vielen Familien wurden sowohl die Todesurkunden als auch angemessene Gräber für ihre Angehörigen verweigert. Viele wissen noch nicht einmal, unter welchen Umständen ihre Lieben hingerichtet wurden und wo die Leichname liegen.

Der 2020 veröffentlichte Sammelband Voices of A Massacre. Untold Stories of Life and Death in Iran, 1988, stellt die erste umfassende Monographie dieses dunklen Kapitels der neueren Geschichte Irans dar. Eine Reihe von Autorinnen und Autoren, ehemaligen politischen Gefangenen und Familienangehörigen meldet sich zu Wort, die das Blutbad akribisch nachzeichnen.

Das Blutvergießen richtete sich zunächst gegen die Volksmojahedin, traf aber schnell auch Hunderte von Linken, von denen etliche bereits ihre Haftzeit abgesessen hatten. Unter den massakrierten Gefangenen befanden sich auch die Mitglieder linker Gruppen, vor allem der kommunistischen Tudeh Partei und der Mehrheitsfraktion der Fadaiyan-e Khalq, die bis zu ihrer Verhaftung loyal gegenüber der Islamischen Republik gesinnt waren.

Ayatollah Khomeini; Foto: Getty Images/keystone
Ein dunkles Kapitel in Irans Geschichte: In zwei Fatwas (Erlassen) ordnete der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Khomeini, den Massenmord an Oppositionellen in 1988 an. Im Laufe von ungefähr zwei Monaten wurden etwa 5000 politische Gefangene ermordet – meist durch Erhängen. Einer der diensteifrigsten Vollstrecker der Fatwas war Irans neuer Staatspräsident Ebrahim Raisi. Weder Raisi noch das politisch-religiöse Establishment, welches das Land seit nunmehr 42 Jahren mit harter Hand regiert, haben sich jemals eindeutig zum Massenmord von 1988 geäußert. Er bleibt bis heute ein gut gehütetes Staatsgeheimnis.

Kritik am Todesausschuss

Raisi war eines von vier Mitgliedern des sog. Todesausschusses, einer Art geheimem Tribunal, das die zwei Fatwas (Erlasse) des Obersten Führers Ayatollah Khomeini – die den Massenmord von 1988 anordneten – diensteifrig vollstreckte. Vor 32 Jahren wurde seine Verstrickung zum ersten Mal öffentlich, als drei Briefe des damaligen designierten Nachfolgers von Khomeini, Ayatollah Montazeri, die letzterer am 15. August 1988 verfasste, im März und April 1989 an die Medien durchsickerten.

2016 sorgte zudem die Veröffentlichung einer Audiodatei für große Aufmerksamkeit. Darin kritisierte Montazeri die Hinrichtungen und wandte sich an die Mitglieder des "Todesausschusses“. Neben Raisi waren die Femegerichte noch mit dem religiösen Richter Hossein Ali Nayyeri, Generalstaatsanwalt Morteza Eshraghi und einem Repräsentanten der Geheimdienstbehörde, Mostafa Pourmohammadi, besetzt. 

Raisi und Nayyeri waren die aktivsten Mitglieder des "Todesausschusses“. Sie statteten den landesweiten Gefängnissen Besuche ab, um ihre inquisitionsartigen Verhöre durchzuführen. Raisi hat seine Rolle im Massaker von 1988 nie geleugnet. Was seine Aktivitäten in den Femegerichten von 1988 betrifft, sagte er jüngst: "In allen Handlungen während meiner Amtszeit ging es um die Verteidigung der Menschenrechte.“ Und doch gibt es auch keinerlei Zweifel daran, dass Raisi schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt hat und vor einem Strafgericht zur Rechenschaft gezogen werden müsste, anstelle das Amt des Präsidenten einzunehmen.

Am 28. Juli 1988 begann das im Voraus minutiös geplante Inquisitionstribunal. Zunächst wurden Männer und Frauen der Volksmojahedin verhört, die seit Beginn der Revolution generell als Monafeqin (Heuchler) bezeichnet wurden. Mit verbundenen Augen mussten sie in den Gängen Schlange stehen und wurden nacheinander in die Zimmer gebracht, die in Verhörkammern umgewandelt worden waren.

Wer sich weigerte, die Volksmojahedin und ihre Führung zu verurteilen, wurde gehängt. Linke wurden gefragt, ob sie an Gott, das Leben nach dem Tod, den Propheten Muhammad und den Koran glaubten, und ob sie ihre Gebete verrichteten. Eine Verneinung hatte ihre Exekution zufolge.

Öffentliches Trauern bis heute verboten

Die Leichname wurden nie an ihre Familien zurückgegeben. Im August 1988 berichtete Amnesty International von einer Frau, die mit bloßen Händen den toten Körper eines Hingerichteten ausgrub, in der Hoffnung den Leichnam ihres hingerichteten Mannes zu finden. Dieser Vorfall ereignete sich im Teheraner Khavaran Friedhof – einer der Stätten, in denen die Leichname der Hingerichteten in nicht gekennzeichneten Grabstellen abgeladen wurden.

Bis heute werden die Familien der ermordeten politischen Gefangenen kriminalisiert, schikaniert und auch physischer Gewalt ausgesetzt, wenn sie es wagen, öffentlich zu trauern. Gleichzeitig tut der Staat alles Erdenkliche, um die Spuren der Hingerichteten systematisch zu zerstören, zum Beispiel durch das regelmäßige Planieren der Grabstellen und Massengräber, um so ihre Verbrechen zu kaschieren.

Großayatollah Hossein Ali MOntazeri; Foto: amontazeri.com
Auf einer 2016 veröffentlichten Audiodatei ist Großayatollah Hossein Ali Montazeri zu hören, der in scharfen Worten das Massaker von 1988 geißelt. "Ihr seid für das größte Verbrechen der Islamischen Republik Iran verantwortlich und werdet als Bösewichter in die Geschichte eingehen", so der Großayatollah wörtlich. Er kritisiert mit scharfen Worten "den kurzen Prozess" gegen die Oppositionellen – "die in manchen Fällen nur ein paar Minuten" gedauert haben sollen. Montazeri war zu dem Zeitpunkt bereits sieben Jahre tot. Sein Sohn hatte die Tonaufnahmen veröffentlicht.

Für die etwa 10.000 politischen Gefangenen, die Khomeini und sein Staatsapparat bereits vor dem Großen Massaker hinrichten ließ, für die geschätzt 5000 Frauen und Männern, die 1988 am Galgen starben und für alle Angehörigen dieser Ermordeten ist es unmöglich, Gerechtigkeit zu erlangen, solange die Islamische Republik besteht.

Im Dienste Khomeinis

Raisi stammt aus einer ärmlichen Familie mit klerikalem Hintergrund in der nordwestiranischen Stadt Mashhad. Schon bald nach der Revolution von 1979 schloss er sich Khomeinis Bewegung an. 1981 wurde er stellvertretender Staatsanwalt in der Großstadt Karaj rund 40 Kilometer von Teheran entfernt. Am Ende der 1980er Jahre war er bereits eine prominente Persönlichkeit innerhalb der Justiz der Islamischen Republik.

Insbesondere als Folge von Raisis unnachgiebigem Gehorsam gegenüber der Führung des Iran, vor allem seiner führenden Rolle bei den landesweiten Massenhinrichtungen von 1988, war es diesem Apparatschik par excellence möglich, die Karriereleiter hinaufzuklettern. Khomeini belohnte Raisi, indem er ihn mit der Bearbeitung von Rechtsfragen in verschiedenen Provinzen des Landes beauftragte, die er unabhängig von der Justiz durchführen durfte.

Nach dem Tod Khomeinis 1989 und der Ernennung von Ali Khamenei zum neuen Obersten Führer wurde Raisi zum Staatsanwalt von Teheran ernannt, eine Position, die er bis 1994 innehatte. Zwischen 2004 und 2014 war Raisi – als stellvertretender Chefrichter der Justiz – maßgeblich für die Verurteilung von Dissidentinnen und Dissidenten sowie für die Verhängung von Todesstrafen verantwortlich, insbesondere nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen von 2009. 2014 wurde er zum Generalstaatsanwalt befördert und bekleidete dieses Amt bis 2016.

Im selben Jahr belohnte Ali Khamenei Raisi für seine unerbittliche Gefolgschaftstreue, indem er ihn zum Vorsitzenden der Astan Quds Razavi-Organisation ernannte, eine der bedeutendsten Stiftungen und gleichzeitig wichtiger Eigentümer von Grund und Boden im Land. Die Organisation besitzt unter anderem Autofabriken, agrarindustrielle Komplexe, Banken, Hotels und Geschäfte sowie die Lizenz für das Abfüllen von Coca Cola-Flaschen im Iran. Diese Stellung hat Raisi nicht zuletzt seiner wohldurchdachten Heirat mit Jamileh Alamolhoda im Jahre 1983 zu verdanken. Sie ist die Tochter des einflussreichen Klerikers Ahmad Alamolhoda, dem konservativen Leiter des Freitagsgebetes von Mashhad und derzeitigen Repräsentanten des Obersten Führers in der Provinz von Khorasan Razavi. 



 

Nachfolger von Khamenei?

Raisi war einer der wenigen Kandidaten, die zur Präsidentschaftswahl von 2017 zugelassen wurden. Es ist bezeichnend, dass er dabei die Unterstützung von einem der bekanntesten iranischen Pop-Rapper, Amir Tataloo, bekam. Allerdings hat die Veröffentlichung der Audiodatei mit der Kritik von Montazeri an den Hinrichtungen von 1988 wenige Monate vor Beginn der Wahlen zu seiner Niederlage gegen Hassan Rouhani beigetragen. Letzterer brachte während seines Wahlkampfes das Massaker sogar indirekt zur Sprache.

Raisi wurde 2019 zum Leiter der Justiz der Islamischen Republik ernannt und ist daher verantwortlich für die Hinrichtungen von Demonstrantinnen und Demonstranten, die während der landesweiten Proteste zwischen 2017 und 2019 verhaftet und verurteilt wurden. Darüber hinaus wird gemutmaßt, dass er eine wichtige Rolle in der Erbfolgekrise nach dem Tod von Khamenei, dem Obersten Führer und der mächtigsten Instanz innerhalb von Irans Theokratie, spielen wird.

Ebrahim Raisi, ein konservativer Kleriker mittleren Ranges, dem Blut an den Händen klebt und der wegen Menschenrechtsverletzungen auf den Sanktionslisten der USA und der Europäischen Union steht, wurde am 18. Juni diesen Jahres, im Zuge der dreizehnten Scheinwahlen des Landes zum achten Präsidenten der Islamischen Republik Iran erklärt. Seine Wahl war allerdings schon vorbestimmt. Denn der Oberste Führer Ali Khamenei brach bei den Wahlen mit einigen Konventionen, um den Aufstieg seines Gefolgsmannes und Protegés zu ebnen.

In den Augen des dominanten Machtflügels der Islamischen Republik wäre Raisi im Falle des frühzeitigen Todes von Khamenei – es geht das Gerücht um, er leide an Prostatakrebs – hinreichend geeignet, die Interessen des Büros des Obersten Führers zu verwalten. Zweifelsohne ist Raisi eine der wichtigsten Gestalten innerhalb der jüngeren Führungsriege der Islamischen Republik. Er hat immer wieder unter Beweis gestellt, dass er skrupellos genug ist, um mit eiserner Faust zu regieren.

Nasser Mohajer und Kaveh Yazdani

© Qantara.de 2021

Nasser Mohajer ist Historiker und Autor von Voices of a Massacre, Untold Stories of Life and Death in Iran, 1988, Oneworld Publications 2020. Derzeit arbeitet er in Paris für die Organisation Noghteh Resources über Iran. 

Kaveh Yazdani lehrt am Institut für Geschichte der Universität Connecticut, USA