Konstrukt der Moderne

Obgleich Konflikte in der heutigen Zeit oftmals mit religiösen Begriffen erklärt werden, stelle Religion keine brauchbare Kategorie dar, um zu verstehen, warum sich einzelne Gruppen untereinander bekämpfen, meint die Soziologin Dr. Manali Desai.

Historische Darstellung des Sepoy-Aufstands, Foto: Wikipedia.org
Zeitgenössischer Eindruck des Sepoy-Aufstands mit britischer Perspektive - Die historische Darstellung zeigt indische Truppen, die ihre Beute nach dem Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft verteilen.

​​Politische und kulturelle Konflikte der Gegenwart als "Religionskriege" zu bezeichnen, ist derzeit ein gängiger Trend. Er erstreckt sich weit über die Besessenheit des Westens von islamischem Fundamentalismus nach den Geschehnissen des 11. Septembers hinaus, obgleich das Interesse am Islam entscheidend zu dieser neuen Sensibilität beiträgt.

Der Multikulturalismus in Großbritannien mit seiner Politik der voneinander getrennten, aber gleichberechtigten Religionsgemeinschaften, hat ebenfalls dazu beigetragen, die politische Bedeutung des Glaubens wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Auch der Kampf zwischen Sunna und Schia im Irak wird regelmäßig als "endloser und ewiger" Konflikt bezeichnet.

Gruppen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen werden heutzutage meist völlig selbstverständlich mit religiösen Adjektiven charakterisiert, wie "die islamische Gemeinschaft" und "die hinduistische Gemeinschaft". Ein Zusammenhang zwischen Religionspolitik und Konflikten scheint ohne Zweifel zu bestehen – Religion ist zum allumfassenden Schlagwort für Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" geworden.

Selbst außerhalb des politischen Bereiches, im bedächtigeren Umfeld der Wissenschaft, entwickelt sich Religion zu einem Prisma, durch das nun sämtliche Konflikte der Geschichte betrachtet werden.

Das letzte Buch des Historikers und Reiseautors William Dalrymple, "The Last Mughal", zeigt eine derartige geschichtliche Ignoranz, wenn der Autor behauptet, der Sepoy-Aufstand in Indien 1857 sei ein Krieg des Islam gegen evangelikale Christen gewesen. Dies sei eine Parallele zum derzeitigen Kampf zwischen einem arroganten christlichen Imperialismus und einer militanten islamischen Opposition, so der Autor weiter.

Die Simplifizierung von "Glauben"

Religion als Ursprungsgrund für derzeitige Konflikte und gewalttätige Auseinandersetzungen anzusehen, hieße, die verschiedenen komplexen Mechanismen, nach denen eine Religion funktioniert und von jeher funktioniert hat, grob zu vereinfachen.

Zuallererst ist da die Frage nach dem Zeitpunkt. Warum gerade jetzt? Verschiedene Gruppierungen des Islam geraten seit Jahrhunderten mit anderen Glaubensrichtungen aneinander, doch ähnlich verhält es sich beispielsweise auch mit brahmanischen Hindus oder evangelikalen Christen.

In all diesen Religionen gibt es den Begriff des "Ungläubigen", des "Unreinen" (mleccha im Sanskrit). Eigentlich nach innen gerichtet, wie beispielsweise beim Kastensystem in Indien, können diese Begrifflichkeiten jedoch auch die treibende Kraft für externe Konflikte sein.

Es gilt zu verstehen, wie und aus welchen Gründen einige religiöse Richtungen - wie beispielsweise der Wahhabismus - den Anstoß für einen gewalttätigen Kampf gegen einen konstruierten Feind, nämlich den ungläubigen, Kreuzzüge führenden Westen, gegeben haben, und warum sie zu bestimmten Zeiten eine bestimmte Machtposition einnehmen.

Rhetorik und Realität nicht verwechseln

Sicherlich wird eine Kriegsrhetorik oft mit Hilfe von Religion untermalt: Aufständische Gruppen von den Taliban bis hin zur irakischen Mahdi-Armee sprechen die Sprache des Dschihad und des Heiligen Krieges. Selbst die Äußerungen George W. Bushs zum "Krieg gegen den Terror" sind von Glaubenseifer geprägt. Doch sollten wir keinesfalls Rhetorik mit Realität verwechseln.

Es ist notwendig, davon abzusehen, Religion rein idealistisch zu sehen. Es sind nicht die Ideen, die einander bekämpfen, oder die Philosophien – zumindest nicht auf den Schlachtfeldern des Irak, in New York oder in Palästina. Ideen und Philosophien werden zu wirksamen Mächten, wenn Leben und Lebensweisen als Bedrohungen wahrgenommen werden.

Tatsächlich könnte es sinnvoller sein, eine soziologische Perspektive einzunehmen und Religion als materielle Kraft zu verstehen. Durch die gesamte Geschichte hindurch waren es Eroberungen und koloniale Unterdrückungen, die religiöse Argumente als Rechtfertigung für Kriege hervorgerufen haben. Denn diese Eingriffe von außen waren es, die die materiellen Lebensgrundlagen zerstört und Lebensweisen fundamental bedroht haben.

Religion im Kontext

Anstatt den Sapoy-Aufstand von 1857 als Religionskrieg zu betrachten, täten wir gut daran, Niall Fergusons Ausführungen etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken:

Dr. Manali Desai; Foto: University of Reading
"Wir neigen dazu, gesellschaftlich konstruierte Gemeinschaften als "real" anzusehen", meint Dr. Manali Desai.

​​"Die vielen positiven Aspekte der indo-keltischen Verbindung im 18. Jahrhundert sollten uns keinesfalls zu dem Schluss kommen lassen, dass die East India Company lediglich zum Wohle der Wissenschaft und Völkervermischung existierte – sie wollte Geld verdienen. Egal, wie leidenschaftlich man sich der indischen Kultur auch widmete, letztlich war es stets das Ziel, Profite nach England zu transferieren. Das berüchtigte Abziehen von Kapital aus Indien nach England hatte begonnen."

Strafsteuern, die Beschlagnahe von Land, Abzug von Finanzen, sozialer Ausschluss und das Abziehen politischer Repräsentanz – all das, und nicht nur christlicher Evangelismus, provozierte den Zorn der Menschen in ganz Indien.

Hundertfünfzig Jahre später lassen sich wichtige Parallelen ziehen. Es ist nicht die Religion, die al-Qaida ihren Auftrieb gibt, sondern viel eher eine Weltwirtschaftspolitik um Öl, Waffen, Geld und Militärkräfte.

Wahhabismus mag starke emotionale Motive liefern, doch ein globales Terrornetzwerk kann nicht allein daraus erwachsen. Hierfür sind Verknüpfungen von Militärtechnologien, Information und Überwachungsmechanismen, Erdölprofite sowie wissenschaftliche und technische Fähigkeiten sehr viel wichtiger.

Ebenso wenig kann man die US-Politik als von messianischen Idealen oder neokonservativen Ideen getrieben bezeichnen. Während Bushs religiöse Verkündungen den Glaubensaspekt des derzeitigen Krieges vielleicht verschärft haben mögen, darf jedoch nicht vergessen werden, dass islamischer Fundamentalismus und so genannter "Dschihadismus" bereits lange vor der Bush-Ära existierten.

Jahrzehnte vor Bush Sr., unter ihm und auch unter Bill Clinton haben die Vereinigten Staaten energisch die Erdölpreise zu drücken versucht, während die Taliban in Afghanistan als Produkt des "Kriegs gegen den Kommunismus" hervorgegangen sind.

Imaginäre Gemeinschaften

Auch wenn Religion oftmals den Deckmantel für Kriege bildet, erklärt das nicht, warum Religion in politischen oder intellektuellen Kreisen oftmals als ursächliche Kraft angesehen wird. Vielleicht ist dies ein Resultat der Normalisierung bestimmter Kategorien im täglichen Umgang: Nation, Rasse, Volkszugehörigkeit und jetzt Religion.

Wir neigen dazu, gesellschaftlich konstruierte Gemeinschaften als "real" anzusehen. So haben beispielsweise einige islamische Aufrührer ihre Wut über das Sterben ihrer "muslimischen Brüder" in Bosnien oder in Palästina offen ausgesprochen.

In diesem Sinne greift für die Religion das, was Benedict Anderson die "imaginäre Gemeinschaft" der Nation genannt hat – mit dem Unterschied, dass alle Religionen eine Art von Verwandtschaft teilen, die weit über ein Nationalgefühl hinaus geht.

Das Konzept der "imaginären Gemeinschaft" meint, dass wir im Laufe der Geschichte Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelt haben, die über die Grenzen des Dorfes hinausgehen. Man stellte sich vor, mit Menschen verbunden zu sein, die man womöglich nie treffen würde, als gehörten sie zu unseren Familien.

Dennoch, es bleibt ein Konstrukt. Man kann sich ebenso gut vorstellen, aus anderen Gründen als durch die Religion mit anderen Menschen verbunden zu sein.

Die Idee der "imaginären Gemeinschaft" bietet ein wichtiges Gegengewicht zu der Vorstellung von einer "realen" islamischen – oder anderen – Gemeinde, die sich als Einheit darstellt. Es wird klar, wie das Konzept einer solchen Gemeinschaft von verschiedenen Seiten konstruiert und für ihre Zwecke missbraucht werden kann – von Staaten sowie Rebellen.

Imperialistische Kriege rufen Kämpfe um die Grenzen und Definitionen einer Gemeinschaft hervor, eben weil die materiellen Gegensätze so stark divergieren.

Aus dem Englischen von Rasha Khayat

© madrid11.net/Qantara.de

Dr. Manali Desai ist Dozentin für Soziologie an der Universität von Kent und Autorin des Buches: "State Formation and Radical Democracy and States of Trauma: Gender and Violence in South Asia".

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