Das Schächt-Urteil des EuGH – Eine verhängnisvolle Entscheidung

Ist das rituelle Schlachten, das Juden und Muslime vollziehen, mit dem modernen Tierschutz vereinbar? Nein, sagen die Richter des EuGH. Kein guter Tag für die Religionsfreiheit in Europa, meint Christoph Strack.

Von Christoph Strack

In ziemlich jeder Sonntagsrede zu Europa wird das jüdisch-christliche Erbe beschworen. Und nicht nur deutsche Politikerinnen und Politiker nennen es ein Glück, dass es 75 Jahre nach der Shoa, dem industriell geplanten Massenmord an den europäischen Juden, wieder ein blühendes jüdisches Leben auf dem Kontinent gebe und liberale, konservative und orthodoxe Juden zum Straßenbild gehörten.

Doch wie lange noch? Das kann man fragen angesichts einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Der Spruch der Luxemburger Richter, das Verbot des Schächtens in Flandern und Wallonien, zwei der drei belgischen Regionen, durchzusetzen, trifft fromme Juden wie fromme Muslime.

Das belgische Verfassungsgericht hatte nach den Gesetzgebungsverfahren beim EuGH angefragt, ob das strikte Verbot des Schächtens, also des rituellen Schlachtens ohne Betäubung, mit der EU-Grundrechtecharta und der dort garantierten Religionsfreiheit vereinbar sei. Und der Gerichtshof entschied nun: ja.

Religion aushalten

Seit Jahrzehnten wird in einer Reihe von europäischen Ländern politisch über das Schächten gestritten und gelegentlich auch juristisch geurteilt. Auch in Deutschland. Mehrfach in den vergangenen 20 Jahren befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage und urteilte angesichts der fundamentalen Bedeutung der Religionsfreiheit weise. Demnach ist das betäubungslose Schlachten untersagt.

Jüdisches Pessachfest. (Foto: picture-alliance/dpa)
Europas Doppelmoral: "Komme bitte niemand mit dem absoluten Vorrang des Tierschutzes ausgerechnet auf dem Kontinent, in dem Fleischfabriken und Massentierhaltung selbstverständlich sind. Ein Blick auf Statistiken zeigt: Das Schächten ist zahlenmäßig marginal im Vergleich schon zu nur einer einzigen dieser Fabriken, in denen chemisch zugedröhnte Tiere, die nie in Freiheit waren, industriell getötet und verarbeitet werden“, schreibt Christoph Strack in seinem Kommentar.

Aber mögliche Ausnahmeregelungen sind vor- und festgeschrieben, um Personen gerecht zu werden, denen religiöse Vorschriften den Verzehr des Fleisches nicht geschächteter Tiere zwingend verbieten. Das gilt für Juden und - was die Karlsruher Richter ausdrücklich betonten - Muslime. Denn es geht um die grundgesetzlich verankerte Religions- und Glaubensfreiheit.

Nun haben die säkularer werdenden Gesellschaften in Deutschland und Europa zunehmend Probleme mit bestimmten Fragen religiöser Vollzüge. Das gilt nicht nur für rituelle Fragen, sondern auch für religiöses Bedürfnis und religiöses Empfinden überhaupt. Die kurzfristige Umwandlung einer Demonstration von Corona-Leugnern und Verschwörungsfreunden zu einem sogenannten Gottesdienst war nah an der Religionsverulkung und passt dazu. "Clever", dachte mancher, der die Leugner sonst für Idioten hält.

Auch in den aktuellen Debatten um Maßnahmen zur Eindämmung von Corona gibt es Aspekte, die gläubigen Menschen nahegehen. Der Bundesgesundheitsminister, der Außenminister, die Justizministerin waren in diesen Tagen gerne dabei, wenn die jüdische Gemeinde in Berlin unter Wahrung der üblichen Abstandsregeln im öffentlichen Raum abendlich Chanukka-Kerzen entzündeten. Schöne Bilder und Worte der Solidarität. Doch die Art der Vermittlung abendlicher Ausgangsbeschränkungen auch am Heiligabend irritiert in diesen Tagen viele Christen in Deutschland, die um diese Zeit sonst zu einem der festlichsten Gottesdienste des Kirchenjahres gehen. Man spürt: Das Wissen um Besonderheiten, die in der zutiefst persönlichen Religiosität jedes einzelnen begründet sind, bricht weg.

Juden und Muslime gemeinsam

Zurück zum Schächten. Auch dabei geht es um die Bereitschaft, die Religion des anderen auszuhalten, sie zu ertragen. In aller Regel stehen bei den Kontroversen in Deutschland Befürworter des Tierschutzes und Religionsvertreter einander gegenüber. Und die wiederholte Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts führte zu Regelungen in engen Grenzen: Ausnahmegenehmigungen, die anwendbar sind und religiösen Menschen den Verbleib im Land ermöglichen.

In Belgien wie auch in anderen Ländern kamen die Verbote für jegliches religiöse Schlachten auf mit jenen politischen Lagern, die sich mit gelebtem Islam in Europa schwer tun. Leuten, die frommen Muslimen damit Grenzen setzen wollen, aber zugleich auch die Juden im Land treffen.

 

 

Deswegen stehen hinter der Klage, die zunächst belgische Richter und nun den EuGH beschäftigte, Vertreter beider Religionen. Und vor einigen Monaten äußerten sich Spitzenvertreter beider Seiten gemeinsam (und erstmals überhaupt mit einem Doppel-Briefkopf) zur Sache: der Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt, und der Generalsekretär der Muslimischen Weltliga, Scheich Mohammed Al-Issa.

Erneute Vertreibung der Juden?

Schon damals war die Befürchtung jüdischer Vertreter zu spüren, dass eine Bestätigung der belgischen Regelungen durch die europäischen Richter zu einem Dominoeffekt führen würde. Und schon damals prognostizierten sie, dass dies letztlich zigtausend Juden aus Europa vertreiben könne. Verheerend. Nun hat Luxemburg gesprochen. Für die Religionsfreiheit in Europa ist dies ein trauriger, ja, verhängnisvoller Tag.

Übrigens: Komme bitte niemand mit dem absoluten Vorrang des Tierschutzes ausgerechnet auf dem Kontinent, in dem Fleischfabriken und Massentierhaltung selbstverständlich sind.

Ein Blick auf Statistiken zeigt: Das Schächten ist zahlenmäßig marginal im Vergleich schon zu nur einer einzigen dieser Fabriken, in denen chemisch zugedröhnte Tiere, die nie in Freiheit waren, industriell getötet und verarbeitet werden. Ja, mit Betäubung. Die doch nur unser aller Gewissen beruhigen soll.

Christoph Strack

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