Ein Neubeginn für Ex-Dschihadisten?

Der Aufbau vernetzter Gemeinschaften zur Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus könnte den tunesischen Behörden dabei helfen, eine ganzheitliche und langfristige Strategie zur Reintegration zurückkehrender Kämpfer zu entwickeln. Von Andrew McDonnell

Von Andrew McDonnell

Seit 2011 sind bis zu 7.000 Tunesier als freiwillige Kämpfer in die Bürgerkriegsgebiete in Syrien, im Irak und in Libyen ausgereist. Tunesier stellen dort einen der größten Anteile an ausländischen Kämpfern. Zwar bleiben etliche davon im Ausland, aber etwa 800 sind nach einer Schätzung der tunesischen Regierung aus April 2017 in ihr Heimatland zurückgekehrt.

Tunesien steht damit vor der schwierigen Herausforderung, die Ausbreitung von Gewalt und Radikalismus im eigenen Land wirksam zu verhindern. In Anbetracht der Verbrechen extremistischer Gruppen im Ausland gehen die Meinungen darüber auseinander, ob bestimmten Rückkehrern die Möglichkeit geboten werden sollte, sich wieder friedlich in die Gesellschaft zu integrieren.

Viele tunesische Bürger befürchten verständlicherweise, dass die Rückkehrer die öffentliche Sicherheit unmittelbar bedrohen. Andere halten dagegen, dass die Inhaftierung das Problem nicht lösen würde, sondern sogar verschärfen könnte, zumal die Rückkehrer aus unterschiedlichen Gründen in die Konfliktgebiete reisten und dort unterschiedliche Erfahrungen machten.

Während einige aktiv an Terroranschlägen oder anderen Gräueltaten beteiligt waren, hielten sich andere in Trainingscamps auf oder dienten als Hilfskräfte. Auch ihre Motivation zur Rückkehr nach Tunesien ist recht verschieden: Auf der einen Seite gibt es die von der extremistischen Ideologie Desillusionierten, auf der anderen Seite die Eiferer, die andere für ihre Sache gewinnen wollen.

Reintegration für bestimmte Rückkehrer

Im Jahr 2014, in der Anfangsphase der Krise, unterbreitete der ehemalige Präsident Moncef Marzouki einen Gesetzesvorschlag, der bestimmten Rückkehrern den Weg zur Integration in die Gesellschaft öffnen sollte. Wegen des erheblichen gesellschaftlichen Drucks konnte er sich mit seinem Vorschlag nicht durchsetzen. Stattdessen wurde das Mandat der Strafverfolgungsbehörden zur Festnahme und Verfolgung von Rückkehrern erweitert.

"Nein zum Terrorismus" - Tunesier protestieren gegen die Rückkehr von Dschihadisten; Foto: Getty Images/F. Belaid
"Nein zum Terrorismus" - Tunesier protestieren gegen die Rückkehr von Dschihadisten: Trotz der verständlichen Entschlossenheit der tunesischen Öffentlichkeit, die dschihadistischen Rückkehrer nicht mit offenen Armen zu empfangen, birgt ein ausschließlich sicherheitsorientierter Ansatz ganz eigene Schwierigkeiten und Risiken. Oder wie es ein tunesischer Aktivist und Forscher ausdrückte: "Nach meiner persönlichen Erfahrung tauchen für jeden inhaftierten Extremisten zehn weitere auf."

So beschränkte das Innenministerium den grenzüberschreitenden Reiseverkehr für bestimmte Personen. Im Juli 2015 verabschiedete das Parlament ein Anti-Terror-Gesetz, das die Strafverfolgungsbehörden berechtigte, jeden zu belangen, der an terroristischen Handlungen außerhalb des Landes beteiligt war. Viele Spitzenpolitiker haben immer wieder öffentlich gefordert, Rückkehrer im vollen Umfang dieses Gesetzes zu bestrafen.

In der Praxis stößt der sicherheitsorientierte Ansatz jedoch auf große rechtliche Hindernisse. Den Behörden fehlen oft klare Beweise für die Aktivitäten der Verdächtigen im Ausland. Nach Angaben mehrerer zivilgesellschaftlicher Aktivisten verhafteten Strafverfolgungsbehörden häufig Rückkehrer, ohne ausreichende Beweise für deren Verurteilung vorlegen zu können. Diese Verhaftungen führten bisweilen nur zur Stigmatisierung und Schikanierung von Menschen, die ohnehin schon mit extremistischen Narrativen sympathisierten. Bei den Betroffenen vertiefen sich dadurch die persönlichen Missstände und die negative Wahrnehmung des Staates.

So berichtete ein lokaler Aktivist über seine Erfahrungen mit einem Rückkehrer, der eine Stelle als Lehrer gefunden hatte, aber regelmäßig zur Befragung in die Polizeistation einberufen wurde, sodass er seiner Arbeit kaum nachkommen konnte. Derartige Schikanen erschweren ernsthaft um Wiedereingliederung bemühten Rückkehrern ein normales Leben. Das Rückfallrisiko kann sich dadurch deutlich erhöhen.

Dabei sind die tunesischen Gefängnisse bereits heute hoffnungslos überfüllt. Der Zustrom von Hunderten neuer Häftlinge mit langjährigen Strafen würde das System überfordern und die Verbreitung extremistischer Ideologien unter bisher ideologisch nicht indoktrinierten Straftätern fördern. "Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass im Gefängnis auf jeden inhaftierten [Extremisten] zehn neue hinzukommen; besonders wenn sie mit Häftlingen zusammen sind, die wegen Verbrechen gegen den Staat verurteilt wurden", erklärt ein zivilgesellschaftlicher Aktivist und Forscher.

Stärkere Differenzierung nötig

In Anbetracht dieser Schwierigkeiten scheint die Regierung mittlerweile eine gewisse Flexibilität an den Tag zu legen. Rückkehrer, die im Ausland keine Gewaltakte begangen haben, werden unter Hausarrest gestellt und müssen sich lediglich regelmäßig bei den örtlichen Behörden melden. Die Erkenntnis, dass ein differenzierter Ansatz erforderlich ist, fand auch in einigen Arbeitsgruppen der Regierung ihren Niederschlag, darunter in der "Nationalen Kommission für die Terrorismusbekämpfung".

In Anbetracht des weiterhin fehlenden politischen Willens scheuen die Verantwortlichen jedoch davor zurück, sich für eine konstruktivere und offenere Debatte über den Reintegrationsprozess einzusetzen. Die übergeordnete Strategie der Regierung erscheint vielen noch unklar. Zudem hat sie offenbar noch nicht hinreichend erkannt, wie wichtig eine Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften ist, in die die betroffenen Personen zurückkehren sollen.

Die Einrichtung eines lokalen Unterstützungssystems für die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder psychologischen Bedürfnisse der Rückkehrer ist ein wesentlicher Bestandteil der Rückfallprävention. Denn Rückkehrer, die abgelehnt und gesellschaftlich isoliert werden, neigen eher dazu, sich ihren ehemaligen extremistischen Weggefährten wieder anzuschließen.

Befragung von Fundamentalisten gibt Einblicke

Daten aus einer aktuellen Studie des "International Center for Religion and Diplomacy" (ICRD) und des "Center for the Study of Islam and Democracy" (CSID) zeigen, wie sich dieses Thema auf lokaler Ebene angehen lässt. Die Forscher befragten 139 fundamentalistische religiöse Akteure (darunter Imame, Studenten und Freiwillige religiöser Vereinigungen) aus Tunis, Sousse, Bizerte, Kasserine und Ben Guerdane.

Die Fragen bezogen sich auf ein weites Spektrum von Themen im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen gewalttätigen Extremismus, darunter auch die Wiedereingliederung ausländischer Kämpfer. Das Wissen und die Glaubwürdigkeit der Befragten können dazu eingebracht werden, die Reintegration der Rückkehrer zu unterstützen und Wege zur Lösung der Probleme auf lokaler Ebene zu finden.

Nur sehr wenige dieser fundamentalistischen religiösen Akteure (etwa 10 Prozent) waren bereits mit bestehenden Programmen zur Reintegration von Angehörigen extremistischer Gruppen vertraut. Eine Mehrheit (79 Prozent) war der Meinung, es gebe einen Bedarf an Reintegrationsprogrammen. 91 Prozent gaben an, ein solches Programm unterstützen zu wollen, sollte es in ihrer Gemeinde umgesetzt werden. Dieses Stimmungsbild ist nicht unbedingt repräsentativ für die gesamte Gemeinschaft, da sich die Studie ausschließlich auf religiöse Akteure konzentriert. Doch sie lässt darauf schließen, dass Reintegrationsprogramme im religiösen Sektor eine gewisse Unterstützung finden könnten.

Allerdings glaubten nur 44 Prozent der Befragten daran, dass andere Verantwortliche in ihrer Gemeinde solche Programme unterstützen würden. Zwar gibt es lautstarke Gegner einer Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft, aber noch ist unklar, wie die allgemeine Öffentlichkeit dazu steht.

Vernetzte Gemeinschaften von zentraler Bedeutung

Der Aufbau vernetzter Gemeinschaften zur Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus könnte den tunesischen Behörden dabei helfen, eine ganzheitliche und langfristige Strategie zur Reintegration zurückkehrender Kämpfer zu entwickeln. Bezeichnenderweise sprachen sich nur 46 Prozent der Befragten dafür aus, ein mögliches Reintegrationsprogramm in die Hände der Regierung, der Sicherheitskräfte oder anderer staatlicher Akteure zu legen.

Vielmehr befürwortete eine knappe Mehrheit einen von der Gemeinschaft getragenen Ansatz, sei es von religiösen Akteuren (34 Prozent), zivilgesellschaftlichen Organisationen (15 Prozent) oder anderen (5 Prozent). Die Präferenz für religiöse Akteure könnte auf das Profil der Befragten zurückzuführen sein. Religiöse Akteure könnten aber tatsächlich eine entscheidende Rolle bei der Beratung, bei der Werbung um öffentliche Unterstützung in ihrem Einflussbereich oder als Bindeglied zwischen einem Reintegrationsprogramm und der lokalen Gemeinschaft spielen. Die genannten Rollen wären besonders wichtig innerhalb der oft geschlossenen fundamentalistischen Gemeinschaften, aus denen die Befragten stammten.

Darüber hinaus lässt sich den Antworten entnehmen, dass der Staat zwar den Diskurs über den Extremismus dominiert, dass das Vertrauen in seine Fähigkeit, Reintegrationsmaßnahmen zu leiten, jedoch begrenzt ist. Die öffentliche Sicherheit gebietet zwar, dass die tunesische Regierung eine führende Rolle bei der Wiedereingliederung ausländischer Kämpfer spielt, aber nichtstaatliche Akteure sollten unbedingt dazu ermächtigt werden, die Reintegration derjenigen zu unterstützen, die rechtlich nicht belangt werden können oder sollen.

Aussöhnung innerhalb der Gemeinschaft unerlässlich

Unabhängig von der übergeordneten Leitung eines Programms benötigen Rückkehrer eine vielfältige, spezialisierte und individuelle Unterstützung. Hierzu zählen psychologische Betreuung, Berufsausbildung und Religionsbeistand. Dies alles geht über die Möglichkeiten oder den Auftrag der Sicherheitskräfte hinaus. Eine solche Unterstützung könnte am besten von Organisationen und Aktivisten geleistet werden, die mit staatlicher Unterstützung in die betroffenen Gemeinschaften eingebunden sind.

Einstellungen in Tunesien zum Reintegrationsprogramm; Quelle: carnegieendowment.org/sada
Embedded in the community: to enable returnees to find their place in society, programmes are needed that provide specialist support tailored to the individual – psychological care, employment training and religious counselling. These need to work at a grassroots level in the affected communities, backed up by local imams as mediators where necessary

Insbesondere religiöse Leitfiguren können einen wertvollen Beitrag zur Versöhnung der Gemeinschaften mit den Rückkehrern leisten. Dies ist ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass die Rückkehrer nicht auf die gleiche Marginalisierung und die gleichen persönlichen Probleme stoßen, die sie einst dazu veranlassten, ins Ausland zu gehen. Dazu gehört auch das Zusammenwirken mit den Familien und Freunden der Rückkehrer. Diese können eine wichtige Ressource für die Reintegration sein. Sie können aber auch einen radikalisierenden Einfluss haben, der nicht außer Acht gelassen werden darf.

Die Verantwortlichen in der tunesischen Politik und Zivilgesellschaft sollten darauf achten, dass sie durch ihre öffentlichen Äußerungen oder Botschaften die sozialen Konflikte nicht anheizen. Doch erst wenn der Staat klare nationale Prioritäten gesetzt hat, wird es möglich sein, die für eine erfolgreiche Reintegrationsstrategie notwendigen Partnerschaften aufzubauen.

Andrew McDonnell

© Carnegie Endowment for International Peace 2018

Andrew McDonnell ist Forscher und Analyst am "International Center for Religion & Diplomacy" (ICRD) in Washington, DC, USA.

Aus dem Englischen von Peter Lammers