Regierung in der Zwickmühle

Nach den Anschlägen von Istanbul steht der türkische Ministerpräsident Erdogan international unter Druck. Ihm wird vorgeworfen, den islamischen Extremismus in seinem Land lange Zeit unterschätzt zu haben. Ein Hintergrundbericht von von Dilek Zaptcioglu aus Istanbul

Nach den Anschlägen von Istanbul steht Ministerpräsident Erdogan international unter Druck. Ihm wird vorgeworfen, den islamischen Extremismus in seinem Land lange Zeit unterschätzt zu haben. Ein Hintergrundbericht von von Dilek Zaptcioglu aus Istanbul

Im November und Dezember herrscht Nebelsaison in Istanbul. Manchmal senkt sich der Dunst meterdick auf den Bosporus und legt den gesamten Schiffsverkehr lahm. Ein noch dickerer Nebel schien erst auf den vier Terroranschlägen zu lasten, die die Zwölfmillionen-Metropole innerhalb von einer einzigen Woche bis ins Mark erschütterten. Wer waren die Attentäter? Steckte tatsächlich die Al-Qaida dahinter? Schließlich hatte sie sich gleich nach den Anschlägen dazu bekannt, indem die „Al-Hifs al-Misri“-Brigaden arabischen Zeitungen in London und Webseiten im Internet Bekennerbriefe schickten. Die Türkei war plötzlich zu „einem Frontstaat im Krieg gegen den Terrorismus“ geworden – so zumindest die Wortwahl des amerikanischen Präsidenten.

Rätselraten über Motive und Hintergründe der Anschläge

Tagelang schossen in der Türkei die Spekulationen und Gerüchte ins Kraut: Hatten die Terroristen ausschließlich jüdische Synagogen und britische Einrichtungen zum Ziel oder stand auch die Türkei selbst im Visier? Der Regierung der als „moderat islamistisch“ bezeichneten „Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) scheint es jedenfalls immer noch schwer zu fallen, das Kind wirklich beim Namen zu nennen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan trat am ersten Tag des Zuckerfestes, gleich nach dem Festtagsgebet, vors Mikrofon und verlieh seiner Trauer Ausdruck: „Ich kann es nicht ertragen, wenn der Terror und der Islam in einem Atemzug genannt werden“, sagte Erdogan. „Wir sprechen ja auch niemals von jüdischem oder christlichen Terror. Die Buchreligionen wollen das Leben schützen und nicht vernichten. Wer im Islam ein Menschenleben auslöscht, gilt, als ob er das Haus Gottes gesprengt hätte", erklärte der AKP-Chef.

Zu nachgiebig im Umgang mit Extremisten?

Die türkische Regierung geriet plötzlich unter Beschuss. Ihr wurde vorgeworfen, seit ihrer Machtübernahme vor einem Jahr die radikal-islamistische Szene nicht ausreichend zu observieren. Der ehemalige Polizeichef und Innenminister Saadettin Tantan sagte unverblümt: „Seit einem Jahr können Sicherheitsleute nicht mehr diese Organisationen infiltrieren. Das Staatsarchiv über die extremistischen Gruppen liegt brach“, beschwerte sich Tantan. „Experten werden auf dem Gebiet auf passive Posten versetzt. In Hochburgen des religiösen Fundamentalismus ernannte man Gouverneure und Polizeipräsidenten, die entweder AKP nahe stehen oder selbst zu den religiösen ‚Eiferern‘ zählen.“

Sind die Verantwortlichen in der AKP-Regierung also auf einem Auge blind? Gehen sie nicht mit der nötigen Vehemenz gegen religiös motivierten Terror vor? Oder ist die Türkei gar schutzlos „den Wölfen ausgeliefert“?, wie jüngst der türkischstämmige Europa-Abgeordnete der SPD Ozan Ceyhun erklärte.Türkische „Afghanis“ – Partner des Qaida-Netzwerks

Ganz anders dagegen die Einschätzung von Rusen Cakir, einem der kompetentesten Analytiker der islamistischen Szene in der Türkei: „Die AKP hat sich schon längst glaubwürdig von extremistischen Positionen verabschiedet. Sie werden sich diesem Terror letztendlich nicht beugen.“ Die AKP stünde jedoch genauso unter Schock wie die türkische Gesellschaft, so Cakir. Verschwörungstheorien, wie z.B. das Gerücht, dass die CIA oder der Mossad die Türkei stärker an den Westen binden wolle, hätten in der AKP für einige Verwirrung gesorgt. Cakir ist der Ansicht, dass die sogenannten „türkischen Afghanis“ in Instanbul-Anschläge verwickelt sind – Männer also, die freiwillig in Afghanistan, Bosnien oder im Irak gekämpft haben. Darüber hinaus glaubt der Experte, dass diese Afghanis die Verbindung zur Al-Qaida herstellen. Diese habe wiederum eine neue Taktik entworfen: Bei den vergangenen Anschlägen in Marokko, Tunesien, Indonesien sowie in Türkei wurden nur Extremisten des jeweiligen Landes als Selbstmordattentäter eingesetzt. Die Hintermänner würden sich dagegen im arabischen Raum aufhalten.

Die „Bingöl-Connection“ – ein Rückblick

Inzwischen hat sich der Nebel in Istanbul wieder langsam gelichtet. Man sieht etwas klarer: Der Blick richtet sich nach Ostanatolien. Bingöl heißt die Kleinstadt, die in einer überwiegend kurdisch bewohnten Region liegt, rund 1300 km von Istanbul entfernt. Von dort stammen drei der vier bisher identifizierten Attentäter. Zwei von ihnen, Mesut Cabuk und Gökhan Elaltuntas, sind bei den Anschlägen auf die Synagogen ums Leben gekommen. Feridun Ugurlu und Azat Ekinci sind flüchtig oder unter den Toten der Attentate auf das britische Konsulat und die Investmentbank HSBC. Insgesamt 18 Verdächtige sind bisher von dem zuständigen Staatssicherheitsgericht verhaftet worden, darunter zwei Frauen. Wer sind aber diese Verdächtigen und Täter und welcher Organisation gehören sie an?

Die türkischen Sicherheitskräfte haben im Verlauf ihrer Operationen in Bingöl einen sogenannten „Abrechnungskalender“ der türkischen Hizbullah sichergestellt. Die radikal-islamische Organisation soll den Beschluss gefasst haben, mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten. Die Sicherheitskräfte hatten in den 90er Jahren, als sich die Hizbullah in der Stadt Batman um Buchläden herum formierte, ein Auge zugedrückt. Denn in dieser Zeit stand der Kampf gegen die separatistisch orientierte kurdische Arbeiterpartei PKK im Vordergrund. Und die Männer und Frauen der Hizbullah kämpften genauso wie die Sicherheitskräfte gegen die PKK. Täglich wurden Menschen auf offener Straße ermordet, ohne dass die Täter je ermittelt wurden. Insgesamt 3000 Morde sollen auf das Konto der Hizbullah gehen, die in jenen Jahren eine Mitgliederzahl von 20.000 Mann erreichte.

Kurzer Prozess mit islamischen Extremisten

Der Staat machte dieser Entwicklung im Südosten des Landes 1997 ein Ende. Zuerst wurde der Anführer der PKK, Abdullah Öcalan, in Kenia gefangen und in die Türkei gebracht. Ein Jahr später führten Sondereinheiten eine Razzia in einer Istanbuler Vorstadtvilla durch und lieferten sich schwere Gefechte mit führenden Kadern der Hizbullah. Dabei wurde ihr Chef, Hüseyin Velioglu, getötet. In Istanbul und an anderen Orten wurde umfangreiches Material der Organisation sichergestellt. Hunderte von Militanten wanderten ins Gefängnis. Dort kamen sie jedoch bald wieder heraus: Die Amnestie, die die AKP-Regierung im Frühling diesen Jahres vor allem für reuige PKK-Mitglieder beschloss, nutzte den Hizbullah-Kadern. Über 300 verurteilte muslimische Extremisten kamen aus den Gefängnissen frei.

Die Schatten der Vergangenheit

Da die Hizbullah als „erledigt“ eingestuft worden war, wurde sie nicht mehr effektiv verfolgt. Doch nach den Anschlägen der vergangenen Woche musste die Türkei erschrocken feststellen, dass die identifizierten Attentäter in ihrer Stadt Bingöl als „Hizbullah-Leute“ bekannt waren, und dass Verwandte von ihnen ebenfalls in der Organisation gearbeitet hatten. Die von Experten als „Geisterorganisation“ bezeichnete Hizbullah ist Meister darin, aus dem Untergrund zu agieren.

Experten glauben, dass sich auch der jetzige Anführer, Isa Altsoy, im Untergrund befindet. Dieser habe zusammen mit der Al-Qaida Anschläge geplant und dem türkischen Staat Rache geschworen, so die Expertenmeinung. Altsoy soll sich unter falschem Namen illegal in Deutschland aufhalten.

Dilek Zaptcioglu, © Qantara.de 2003