Türkischer Koranwissenschaftler Mustafa Öztürk gibt auf

Mustafa Öztürk, Professor für Theologie und ein führender Vertreter der reformorientierten "Ankaraner Schule", gibt nach massivem Druck bestimmter islamischer Kreise seine Professur an der Istanbuler Marmara-Universität auf. Kritiker bezichtigen ihn einer "blasphemischen" Islamauslegung. Aus Istanbul informiert Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

Durch die Mitte der muslimischen theologischen Community in der Türkei geht ein Riss, nachdem Prof. Dr. Mustafa Öztürk, ein auf Koranexegese (Tafsīr) spezialisierter Wissenschaftler, seine Professur an einer Istanbuler Universität als Reaktion auf massive Kritik an seiner Auslegung zurückgab.

Die einen argumentieren, seine Ausführungen seien im Rahmen der akademischen Freiheit zu betrachten, die anderen beschuldigen ihn der Apostasie und gehen sogar so weit, seine Kompetenz als Theologieexperte infrage zu stellen. Erste werfen Letzteren vor, eine Art islamische Inquisition in den sozialen Medien zu betreiben; Letztere beschuldigen Erstere, den Abfall vom Glauben zu unterstützen bzw. dazu aufzufordern.

Aufgrund seiner unorthodoxen Ansichten ist Prof. Öztürk schon seit langem in der Community und der Wissenschaft umstritten. So war er Zielscheibe für Beschimpfungen und erhielt sogar Morddrohungen. Nachdem jüngst eine massive Kampagne gegen ihn geführt wurde, reichte Öztürk am 2. Dezember in der Theologischen Fakultät der Marmara-Universität seinen Rücktritt ein. Die Universität nahm den Rücktritt sofort an und entfernte daraufhin alle Hinweise auf seine Tätigkeit.

Öztürks Auffassung darüber, wie der Koran Mohammed offenbart wurde, ist im Diskurs der Islamwissenschaftler kein Novum.  Der Universalgelehrte und Philosoph Avicenna, auch bekannt als Ibn Sina, begründete diese Denkrichtung, die heute von Öztürk und vielen anderen Wissenschaftlern verfolgt und vertreten wird.

Umgedrehte Miniatur von Avicenna / Ibn Sina. Quelle: wikimedia.org; Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication
Avicennas "blasphemische" Herangehensweise an die Koranexegese: "Es gibt den Begriff der Liebe. Gott ist es, der den Menschen Liebe schenkt. Aber Menschen drücken Liebe bisweilen in Sprichwörtern und bisweilen in Gedichten aus. Sie bilden Sätze, die die Liebe nach außen hin zeigen. Die Quelle der Liebe ist Gott selbst, doch die Art und Weise, wie man sie zum Ausdruck bringt, hängt von der eigenen Gefühlslage im jeweiligen Moment ab, ebenso wie von der eigenen Lebenserfahrung und Motivation. So wie die Quelle der Liebe Gott ist, erfuhr auch der Prophet Mohammed zweifellos Offenbarung oder 'Wahy' von Gott“, erläutert Öztürk.

Im Unterschied zum traditionellen Ansatz gehen sie davon aus, dass die Essenz des Korans göttlich und von Gott ist, der Diskurs jedoch vom Propheten Mohammed stammt. Die Diskussion ist hochphilosophisch und für Nicht-Theologen kaum nachvollziehbar.

Darum gebeten, die Auseinandersetzung möglichst verständlich zu erklären, sagte Prof. Öztürk gegenüber Qantara.de: "Es gibt den Begriff der Liebe. Gott ist es, der den Menschen Liebe schenkt. Aber Menschen drücken Liebe bisweilen in Sprichwörtern und bisweilen in Gedichten aus. Sie bilden Sätze, die die Liebe nach außen hin zeigen. Die Quelle der Liebe ist Gott selbst, doch die Art und Weise, wie man sie zum Ausdruck bringt, hängt von der eigenen Gefühlslage im jeweiligen Moment ab, ebenso wie von der eigenen Lebenserfahrung und Motivation. So wie die Quelle der Liebe Gott ist, erfuhr auch der Prophet Mohammed zweifellos Offenbarung oder Wahy von Gott."

So zu denken, liefere Lösungen für einige historische Probleme, wie etwa der Vorstellung von Sklaverei im Koran.

"Denken Sie zum Beispiel an Sklaverei. Sie wird im Koran erwähnt. Nach Auffassung der Traditionalisten könnten wir behaupten, dass Sklaverei nicht abgeschafft werden kann, weil sie im Koran als Teil der göttlichen Ordnung erwähnt wird. Doch Sklaverei ist keine universelle Norm. Damals war ihre Abschaffung kaum möglich. Die Religion sah lediglich eine Regulierung und Humanisierung des Systems vor", erklärte Öztürk in einem früheren Interview mit Qantara. 

Öztürk war bereits 2019 Zielscheibe von Angriffen. Er erwog sogar, ins selbstgewählte Exil zu gehen.

"Dieses Mal bin ich zu müde, um gegen sie anzukämpfen"

Die jüngste Kampagne gegen Öztürk geht auf ein mehrere Jahre altes Video zurück, das Anfang Dezember in den sozialen Medien erneut die Runde machte. Das Video zeigt ihn im Gespräch mit Freunden bei dem Versuch, seine Auffassung zu erläutern. Einige Kritiker erklärten, dies sei haarsträubend gewesen.

Der Hashtag #MustafaOzturkİhraçEdilsin (Mustafa Öztürk muss weg) wurde sofort ein Dauerbrenner auf Twitter und blieb dort für geraume Zeit. Der Großteil der mehr als 44.000 Tweets zu diesem Hashtag bezichtigte Öztürk der Blasphemie. Als Akademiker an einer staatlichen Universität gehöre er nicht auf die Gehaltsliste des Staates.

Der Hashtag bezog sich nach dem versuchten Putsch in der Türkei im Jahr 2016 auf die Entlassung von mehr als 125.000 Staatsbediensteten, vor allem aus Armee und Polizei sowie aus dem akademischen Bereich.

Apostasie oder akademische Freiheit?

Einer dieser Tweets stammte von Ahmet Mahmut Ünlü, besser bekannt als Cübbeli Ahmet Hoca. Obwohl Ünlü keine akademische Ausbildung hat, sondern lediglich die erste Klasse der Mittelschule absolvierte, ist er ein bekannter Prediger und prominenter Kopf der İsmail-Ağa-Gemeinde, einer islamischen Gemeinschaft in einem Stadtviertel Istanbuls.

Unter anderem wurde er mit dem Rat an seine Anhänger bekannt, ein bestimmtes Leichentuch zu kaufen, das die Verstorbenen in der Erde vor dem Höllenfeuer schütze. Seine mehr als 306.000 Follower auf Twitter schlossen sich der Social-Media-Kampagne gegen Öztürk an.

In seinem Post auf Twitter behauptete Cübbeli, die Forderung nach Entlassung Öztürks sei die "Forderung von Millionen". Tatsächlich aber handelte es sich einfach um Retweets der Beiträge oder um Posts von Cübbelis Followern mit ähnliche Nachrichten. Das Thema verlagerte sich schnell von Twitter in die klassischen Medien. Regierungsnahe Medien griffen die Anfeindungen gegen Öztürk bereitwillig auf und verschärften sie.

 

“Kur'an, Allah kelâmı olamaz!” diyen Mustafa Öztürk'ün bu şirk görüşünden İlâhiyat gençliğimizi kurtaran Allâhımıza sonsuz hamd-ü senâlar olsun. pic.twitter.com/S5BYmLCJQQ

— Cübbeli Ahmet Hoca (@c_ahmethoca) December 4, 2020

 

"Ich wurde nicht zum ersten Mal angegriffen. Aber diesmal blieb das Thema mehrere Stunden lang in den sozialen Medien. Auch die Mainstream-Medien schalteten sich ein, u. a. mit der Schlagzeile 'Wessen Professor ist das?' Das fühlte sich anders an als bei den früheren Angriffen und ließ mich vermuten, dass eine politische Absicht dahinter stecken könnte", sagte Öztürk.

Einige Angreifer bezogen sich auf eine Kolumne, die er für die Zeitung Karar schrieb. Dieser wird eine Verbindung zur politischen Bewegung und zur Partei von Ahmet Davutoğlu zugeschrieben, dem ehemaligen türkischen Premierminister, der sich von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) abgewandt hatte und später eine eigene Partei gründete. 

Die meisten gegen Öztürk gerichteten Tweets, darunter auch die von Cübbeli, unterstellten Öztürk, Theologiestudenten zu "vergiften".

"Wir lehren etwas über die Grundlagen des Glaubens. Das heißt, es gibt Dogmen, aber auch verschiedene Auslegungen. An der Universität sind wir verpflichtet, diese Auslegungen zu lehren. Aber wer entscheidet, was Gift ist? Offensichtlich diejenigen, die an der Macht sind. Diese Macht führt zur Inquisition", so Öztürk.

Einige Wissenschaftler bezeichneten die Angriffe gegen ihn tatsächlich als Inquisition, so auch Professor Mehmet Azimli von der Theologischen Fakultät der Hitit-Universität.

"Wissenschaftler äußern sich. Man hört ihnen zu, und wenn man nicht mit ihnen übereinstimmt, widerlegt man einfach ihre Argumente. Sie [die Kritiker] haben weder am Anfang noch am Ende zugehört, was er gesagt hat. Das, was er [Öztürk] sagte, sind nicht einmal seine eigenen Ideen; es sind Dinge, die im Islam gesagt wurden. Im Islam gibt es die Tradition des Gegenarguments. Man hört sich an, was gesagt wird, und wenn es einem nicht gefällt, wiederlegt man es eben", so Azimli gegenüber der türkischen Redaktion von The Independent.

 

Mustafa Öztürk’ün tarihselcilik adına serdettiği yorumların kahir ekseriyetine katılmıyorum. Fakat onun fikirlerini söyleme özgürlüğünü sonuna kadar destekliyorum. Kendisinden de, fikri muarızlarına karşı aynı hassasiyeti umuyor ve bekliyorum.

— Mustafa İslamoğlu (@mustafaislamogl) December 21, 2018

 

Ein anderer prominenter islamischer Intellektueller und Theologe, Mustafa İslamoğlu, schloss sich der Diskussion auf Twitter an und sagte, er stimme in vielen Fragen nicht mit Öztürk überein, verteidige aber dessen Recht auf Meinungsfreiheit.

Doch auch die Welle der Unterstützung hielt Öztürk nicht davon ab, der Hochschule den Rücken zu kehren. Er sagte, diejenigen, die ihn und sein Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigten, seien tatsächlich gegenüber denjenigen in der Mehrheit gewesen, die die Verleumdungskampagne gegen ihn lancierten. Aber das Gute, sagte er, sei manchmal nicht in der Lage, das "organisierte Böse" aufzuhalten.

Nach möglichen Auswirkungen seines de facto erzwungenen Rückzugs aus der Universität gefragt, antwortete Öztürk, dies könne für die Studierenden entmutigend sein.

Aber dann fügte er hinzu, er habe einfach die Nase voll. "Es ist genug. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Vielleicht gehe ich jetzt angeln."

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers