Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht

Liberaler Islam: Alles dreht sich um den Koran. Bei der Suche nach einer liberalen Interpretation kommen zuweilen etwas eigenartige Konstrukte heraus. Von Alexander Flores

Von Alexander Flores

In der meist sehr aufgeladenen Debatte um den Islam und seine Bedeutung für die heutige Welt treten zwei Positionen scharf hervor: die grundsätzlich islamkritische, die Muslime aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit für unfähig hält, eine menschenrechtlich akzeptable Haltung einzunehmen, und eine starr islamische, die von der Durchsetzung unwandelbarer islamischer Prinzipien alles Heil erwartet. Bei aller Gegensätzlichkeit haben beide Positionen etwas gemeinsam: die Vorstellung, die islamische Ideologie, kristallisiert im Koran, beherrsche die Praxis der Muslime total oder beinahe total.

Schon der bloße Augenschein belehrt über die Irrigkeit dieser Vorstellung. Die Mehrheit der Muslime denkt gar nicht daran, sich in ihrem ganzen Verhalten an den Anweisungen des Korans zu orientieren. Die strengen Muslime bedauern das und suchen es – manchmal gewaltsam – zu ändern; die grundsätzlichen Islamkritiker nehmen es nicht zur Kenntnis, denn es führt ihr Gedankengebäude ad absurdum. Nun halten sich zwar die meisten Muslime nicht eng an den Koran, machen das aber normalerweise nicht laut und öffentlich deutlich; manchmal machen sie es sich nicht einmal selbst klar. Damit geben sie der genannten Vorstellung den Anschein von Wahrheit.

Hier greift das Buch ein. Es stellt eine Strömung im Islam vor, die sich selbst als liberal bezeichnet. Die 20 Beiträger des Buchs, alle nach ihrem Selbstverständnis gläubige Muslime, verstehen ihre Religion als vernunft- und menschenrechtskompatibel. Die Herausgeberin Lamya Kaddor ist die Gründungsvorsitzende des 2010 gegründeten Liberal-Islamischen Bunds. Das Buch nähert sich seinem Gegenstand auf zwei Weisen: in einer Lektüre des Korans, die ihn als Lektion in Menschenfreundlichkeit sieht, und in einem Blick auf die Realität der Muslime, der zeigt, dass ein solches liberales Islamverständnis seine Berechtigung hat.

Liberaler Islam: Vieles muss neu erfunden werden

Referenz für islamische Gelehrte: Die Al Azhar Moschee in Kairo.  (Foto: Matthias Toedt/dpa)
Kann der Islam liberal sein? Und kann man als liberaler Muslim wirklich gläubig sein? Tatsächlich sind liberale Musliminnen und Muslime häufig mit der Annahme konfrontiert: muslimisch und liberal, das geht doch überhaupt nicht. Den Gegenbeweis dafür treten die namhaften Autorinnen und Autoren in diesem Buch an - und stehen für eine Versachlichung der aufgeheizten Islamdebatte.

Einige Beiträge begründen liberal-islamische Konzeptionen mit dem unmittelbaren Bezug auf den Koran beziehungsweise bestimmte Koranstellen. Das ist durchaus möglich: Im Koran gibt es sehr menschenfreundliche Passagen. Wenn man mit ihnen die Menschenrechte in einem modernen Verständnis begründen will, gerät man aber auf dünnes Eis. Man muss sich dann mit den ganz anderen Stellen auseinandersetzen, die es im Koran auch gibt, und man muss erklären, dass der Mainstream der islamischen Ideologie ein eher rigides, enges Religionsverständnis fördert. Das geschieht hier nur ansatzweise.

Am weitesten geht da der Beitrag von Hakan Turan, der sich auch mit den „usul al-fiqh“, der traditionellen islamischen Rechtshermeneutik, auseinandersetzt und dabei der Tatsache Rechnung trägt, dass die Lebensrealität der Muslime die Entwicklung der islamischen Ideologie stark beeinflusst und das auch schon bei der Entstehung des Koran getan hat. Das erlaubt ihm, bestimmte Korantexte (die offensive Kriegskonzeption, frauendiskriminierende Stellen, Abgrenzung von Juden und Christen) als umständebedingt zu verstehen und damit als Handlungsanweisungen für unsere Zeit außer Kraft zu setzen.

Wenn Marwan Hassan gegen die Ansicht argumentiert, Juden und Christen seien als solche vom islamischen Heilsversprechen ausgenommen, und sich dabei auf den Koran beruft, ist das nicht nur begrüßenswert, sondern auch plausibel. Allerdings tut es der Überzeugungskraft seiner Argumentation Abbruch, dass er noch einiges für sie ganz Entbehrliches hinzufügt, zum Beispiel eine Auslegung von Koranpassagen, die auf schwere sprachliche Missverständnisse schließen lässt.

Auch andere in diesem Buch enthaltene Versuche einer liberalen Koranauslegung führen recht eigenwillige Interpretationen ins Feld. Das können sie tun; im religiösen Denken ist so etwas gang und gäbe. Ob sie damit jemanden überzeugen, der nicht ohnehin schon in ihrem Sinn überzeugt ist, steht dahin. Eins zeigen diese Beiträge aber deutlich: Es ist möglich, den Koran liberal zu interpretieren.

 

 

Noch interessanter als diese Interpretationen ist aber der Blick auf die Realität der Muslime, den dieses Buch ebenfalls enthält und der die Berechtigung eines liberalen Islams unterstreicht. Dieser Blick erfolgt unter den verschiedensten Aspekten: Geschlechtergerechtigkeit, Berechtigung „abweichender“ Sexualpräferenzen, Antisemitismus bei Muslimen, Veganismus und Islam, Kopftuchzwang und so weiter. Da wird einerseits darauf hingewiesen, welche Plattformen, Organisationen und Initiativen es auf diesem Gebiet gibt, andererseits gesagt, wie dringend es ist, dass sich noch mehr tut – beispielweise die Herausbildung einer „islamischen Linken“, deren Fehlen verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass 65 Prozent der Personen türkischer Herkunft in Deutschland linke Parteien (SPD, Grüne, Die Linke) wählen.

Vielfach gilt der Islam hierzulande als in unsere Zeit hineinragendes Mittelalter. Da ist dieses Buch willkommen. Es dokumentiert sowohl den energischen Versuch von Muslimen, das Grundlagendokument ihrer Religion mit unserer Zeit und modernen menschenrechtlichen Vorstellungen kompatibel zu machen, wie auch Initiativen, die aus dieser Geisteshaltung praktische Konsequenzen ziehen.

Diese Versuche haben nicht erst 2010 begonnen. Auch der vormoderne Islam kannte Mechanismen, religiöse Vorschriften auf die wohlverstandenen Interessen der Menschen abzustimmen. Und in der Moderne gibt es schon seit längerem eine breite Strömung von Muslimen, die sich bemühen, eine moderne – „liberale“, wenn man so will – Lesart des Islams zu begründen. Darauf hätten sich die Beiträger dieses Bandes stützen können. Dass sie es nicht oder nur in Ansätzen getan haben, zeigt, dass wohl auch in der Religion vieles neu erfunden werden muss, auch wenn es schon einmal da war. Umso besser, dass das geschieht. Diesem Buch ist ein breites Echo zu wünschen.

Alexander Flores

© FAZ 2021

Lamya Kaddor (Hrsg.): Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht. Piper Verlag, München 2020. 320 S., 22,–

 

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