"Alle Errungenschaften der Revolution sind gefährdet“

"Der Verfassungsentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur“, warnt die tunesische Anwältin und Frauenrechtlerin Yosra Frawes.
"Der Verfassungsentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur“, warnt die tunesische Anwältin und Frauenrechtlerin Yosra Frawes.

Am 25. Juli stimmen die Tunesier über eine neue Verfassung ab. Die prominente Anwältin und Frauenrechtlerin Yosra Frawes befürchtet, das Referendum könnte eine Rückkehr zur Diktatur ermöglichen. Das würde auch die Errungenschaften für Frauen seit 2011 gefährden. Interview von Claudia Mende für Qantara.de

Von Claudia Mende

Frau Frawes, wie schätzen Sie die Situation vor dem Referendum am 25. Juli ein?

Yosra Frawes: Die Situation ist sehr besorgniserregend für alle Tunesierinnen und Tunesier, die auf einen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in ihrem Land hofften und denen langsam bewusst wird, dass die Politik seit dem 25.  Juli 2021 nichts mehr zu diesen Hoffnungen beiträgt. Die neue Verfassung ist gefährlich, weil sie die Möglichkeit einer Rückkehr zur Diktatur eröffnet.

Die Verfassung von 2014 hatte eine große Bandbreite an freiheitlichen Bürgerrechten verankert und enthält auch Garantien für ihre Einhaltung. Heute ist das alles in Gefahr, denn die neue Verfassung wurde einseitig vom Präsidenten erarbeitet. Es wurde zwar der Anschein eines nationalen Dialogs erweckt, aber dieser Anschein trügt. Auch die Änderungen, die er am 8. Juli vorgelegt hat, kamen ohne Konsultation zustande und gehen nicht auf Kritik an seiner Vorlage ein.

Was genau macht die neue Verfassung gefährlich?

Frawes: Bedenklich ist etwa jene Passage in Artikel 5, wonach der Staat  "auf ein Erreichen der Ziele des Islam" hinarbeiten müsse,  ("les objectifs de l’islam“, arab. Makassed). Das könnte so interpretiert werden, dass die universellen Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken sind - also auch die Frauenrechte.

Mit dieser Passage in der Verfassung wäre es möglich, Gesetze neu zu bewerten und nach den neuen Vorgaben umzuschreiben. Außerdem öffnet die neue Verfassung die Tür zu einer Rückkehr zu den Verhältnissen von vor 2011, zu einem Präsidialsystem. Die Institutionen, v.a. das Parlament und das Richteramt werden geschwächt, der Präsident wird zur obersten Kraft im Land und ist den Wählern gegenüber nicht mehr verantwortlich, er steht über jeder Form von Rechenschaft. Zu seinen Vorrechten gehört dann etwa, dass er allein die Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennen darf. Die demokratischen Institutionen werden innerlich ausgehöhlt. Diese neue Verfassung würde internationalen Standards für Rechtsstaatlichkeit nicht mehr genügen.

Der Textentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur.

Protestierende tunesische Richter halten Plakate hoch gegen die Verfassungsreform des Präsidenten Kais Saied. ( Foto: Chedly Ben Ibrahim /NurPhoto/IMAGO)
Ende des Demokratisierungsprozesses im Mutterland der Arabellion: Reaktiv unbemerkt von der Weltöffentlichkeit hat der tunesische Präsident Kais Saied in nur zehn Monaten alle Macht an sich gerissen und die seit dem Umbruch 2011 etablierten Institutionen der jungen arabischen Demokratie weitgehend ausgehöhlt. Am 25. Juli 2021 lässt Saied die Tunesier über eine neue, umstrittene Verfassung abstimmen, die seine Befugnisse ausweiten und die Tür zu einer neuen Diktatur öffnen würde.

Die Wirtschaftskrise trifft Frauen besonders hart

Tunesien befindet sich in einer fragilen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Steigende Lebensmittelpreise, hohe Arbeitslosigkeit und eine drohende Staatspleite verschärfen die Lage. Was bedeutet das für Frauen?

Frawes: Frauen sind von der Krise stärker betroffen als Männer; unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit höher, es gibt mehr Analphabetinnen als unter Männern, in manchen Regionen Tunesiens können bis zu 40 Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben.

Frauen haben einen schlechteren Zugang zu Bankkrediten, wenn sie sich selbstständig machen wollen. Viele Frauen leben unter sehr prekären Bedingungen. Sie haben keine regulären Arbeitsverträge, ihre Arbeitsbedingungen sind gefährlich, vor allem auf dem Land, und sie haben keinerlei soziale Absicherung. Sie bekommen deutlich weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, ob im öffentlichen Dienst, in der Privatwirtschaft oder im informellen Sektor. Eine Landarbeiterin bekommt 10 Dinar pro Tag (rund 10 Euro), ein Mann 15 Dinar, das ist eine eklatante Ungleichheit.

Frauen haben auch deutlich weniger Zugang zu Land, nur 14 Prozent des Landes gehört Frauen, das heißt Landbesitz ist zu großen Teilen ein männliches Privileg. Das bedeutet für viele Frauen Armut, bis hin zu extremer Armut. In der jetzigen Krise ist die Armutsrate weiter gestiegen. Studien zufolge wird bald rund die Hälfte der tunesischen Bevölkerung in Armut leben. Und diese Armut ist vor allem weiblich.

Hat die Frauenbewegung für diese sozial benachteiligten Frauen zu wenig getan?

Frawes: In gewisser Weise, ja, leider. Die Frauenbewegungen in Tunesien und im Maghreb haben sich darauf konzentriert, Änderungen im Rechtssystem durchzusetzen. Brennende soziale Fragen wie etwa nach der Sicherheit der Landarbeiterinnen auf ihrem Weg zur Arbeit auf den Feldern gehen dabei schnell unter. Wir beschränken zu oft darauf, Gesetze zu fordern und dann nicht zu schauen, wie es mit der Umsetzung in die Praxis aussieht. Außerdem ist es uns nicht gelungen, eine Brücke zwischen den Aktivistinnen und zum Beispiel Landarbeiterinnen zu schlagen, um gemeinsam mehr zu erreichen.

Bahnbrechende gesetzliche Verbesserungen in kurzer Zeit

Seit 2011 gab es zentrale Errungenschaften für Frauen, etwa mit dem Prinzip der Gleichberechtigung in der Verfassung von 2014 oder der Weitergabe der Staatsbürgerschaft an ihre Kinder seit 2015 ...

Frawes: Was seit 2011 an gesetzlichen Verbesserungen erreicht wurde, kann man mit den bahnbrechenden  Rechtsreformen nach der Unabhängigkeit 1956 vergleichen. Zentral waren auch 2017 das Gesetz 58 zum Schutz von Frauen gegen Gewalt und das Gesetz zum gendersensiblen Haushalt. In einer sehr kurzen Zeitspanne wurden viele frauenfreundliche Gesetze erlassen, für die es normalerweise 20 bis 30 Jahre braucht. Bis die neuen Gesetze in die Praxis umgesetzt sind und in die Wertvorstellungen der Gesellschaft eingesickert, aber auch in Haushaltsbudgets und politische Vorschriften, braucht es seine Zeit. Allerdings gab es seit 2019 keine weiteren Gesetze zur Verbesserung der Lage von Frauen, weil der jetzige Präsident Kais Saied nichts für Frauen tut und sie ausbremst.

 

In einer Woche stimmt #Tunesien über eine neue #Verfassung ab - am Freitag fasst @sarah81m bei uns daher die wichtigsten Punkte dazu zusammen. Was wollen Sie wissen? Stellen Sie Ihre Fragen gerne hier und wir versuchen, die wichtigsten im Text dann zu beantworten.

— Afrika-Reporter (@AfrikaRiff) July 18, 2022

 

Wie sieht es mit der praktischen Umsetzung der Gesetze aus?

Frawes: Für  eine umfassende Bestandsaufnahme ist es noch zu früh. Aber wir sehen, dass der politische Wille, diese Gesetze auch umzusetzen, nicht vorhanden ist. So sieht zum Beispiel das für die arabische Welt bahnbrechende Gesetz 58 zum Schutz von Frauen vor sexueller, physischer und psychologischer Gewalt klare Vorschriften für die Umsetzung vor wie zum Beispiel staatliche Hilfen für die Opfer, damit sie einen Täter vor Gericht bringen können.

Dazu sollte ein Hilfsfonds geschaffen werden, aber der Gesetzestext sieht keine konkreten Fristen und Summen dazu vor. Also liegt der Erfolg des Gesetzes momentan mehr in einer Veränderung  des Bewusstseins in der Gesellschaft. Die weit verbreitete Vorstellung, wir Frauen seien selber schuld, wenn wir Opfer von Gewalt werden, und die damit verbundene Scham, das verändert sich. Es ist deutlich geworden, dass es in der Verantwortung des Staates und der gesamten Gesellschaft liegt, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Gemeinsam gegen autoritäre Tendenzen

Wie sind heute Ihre Beziehungen zu den Frauen der Ennahda-Partei? Nach dem Sturz von Ben Ali war das Verhältnis zwischen säkularen Frauenorganisationen und Aktivistinnen aus dem islamischen Spektrum noch sehr konfliktgeladen.

Frawes: Zu Beginn der Revolution in 2011 waren die Frauen der Ennahda sehr kritisch gegenüber den säkularen Frauenorganisationen, weil wir nicht genug für sie getan hätten, als sie unter Ben Ali gefoltert und inhaftiert worden sind. Damit haben sie allerdings eine historischen Tatsache verschleiert. Wir waren doch alle in der gleichen Situation und wurden verfolgt und drangsaliert, selbst wenn die Frauen aus dem Spektrum des politischen Islam stärker betroffen waren als wir. Aber danach haben wir gelernt, miteinander zu reden.

Es hat den Bann gebrochen, dass wir 2011 ein Treffen für alle Kandidatinnen der konstituierenden Nationalversammlung organisiert haben. Sich persönlich kennenzulernen, sich zuzuhören, auch wenn wir uns teilweise angeschrien haben, war ein erster Schritt hin auf dem Weg zu sagen, uns Frauen verbindet etwas, wir alle leiden unter dem Patriarchat, in allen Parteien.

Die tunesische Anwältin und Frauenrechtlerin Yosra Frawes. (Foto: Youssef Ben Ammar, Afkart Studio)
Angst vor Rückkehr der Diktatur: „Der Verfassungsentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur“, warnt die tunesische Anwältin und Frauenrechtlerin Yosra Frawes.

Wie ging es dann weiter?

Frawes: Danach waren die Frauen der Ennahda erst mal stark in ihre Parteidisziplin eingebunden. Als es um die Verfassung von 2014 ging, wollte die Ennahda nicht die Gleichberechtigung, sondern die Komplementarität von Mann und Frau festschreiben, was nur eine Form der Rechtfertigung von Diskriminierung ist. Das führte natürlich wieder zu Konflikten. Nach einer großen Mobilisierung progressiver Kräfte konnte die Gleichberechtigung in der Verfassung festgeschrieben werden. Danach hat sich die Situation wieder entspannt, sicher auch weil der politische Islam in der Region insgesamt geschwächt war.

Gibt es heute Anliegen, für die Sie gemeinsam kämpfen?

Frawes: Nachdem die Verfassung von 2014 verabschiedet war, hat sich die Ennahda neu aufgestellt. Wir sagen, sie hat sich "tunisifiziert“ und beschlossen, die Frauenrechte nicht mehr in Frage zu stellen. Auf dieser Basis konnten wir dann wieder zusammenarbeiten, vor allem beim Gesetz 58 zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Ich erinnere mich an Gespräche mit Abgeordneten der Ennahda in der zuständigen Kommission im Parlament, da waren sie eine Brücke zwischen den Parteien, weil sie fanden, dass der Kampf gegen Gewalt uns verbindet. Es war für sie natürlich auch ein Mittel zu beweisen, dass sie Feministinnen sind.

Heute kämpfen auch die Frauen von der Ennahda gegen die autoritären Tendenzen unter Kais Saied. Wir im progressiv-demokratischen Lager marschieren zwar getrennt, aber gemeinsam wollen wir erreichen, dass wir wieder zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren.

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2022

Die Anwältin und Frauenrechtsaktivistin Yosra Frawes, geb. 1979 in Jedeida bei Tunis, war maßgeblich an der Durchsetzung von frauenfreundlichen Gesetzen wie der Gleichstellung von Mann und Frau in der tunesischen Verfassung von 2014 und am neuen Gesetz zum Schutz von Frauen gegen Gewalt von 2017 beteiligt. Von April 2018 bis Juni 2021 war sie Präsidentin der Association Tunisienne des Femmes Démocrates (ATFD). 2022 erhielt sie für ihre Verdienste den Anne-Klein-Preis der Heinrich-Böll-Stifung in Berlin.

 

Artikel 5 des Verfassungsentwurfs: « La Tunisie fait partie de la Umma islamique, et seul l'État se doit d’œuvrer pour atteindre les Makassed (objectifs) de l'Islam en préservant l'âme (l’entité humaine), l'honneur, l’argent, la religion et la liberté »

Die arabische Fassung der neuen Verfassung kann man hier runterladen.