
Referendum über neue Verfassung in Tunesien"Alle Errungenschaften der Revolution sind gefährdet“
Frau Frawes, wie schätzen Sie die Situation vor dem Referendum am 25. Juli ein?
Yosra Frawes: Die Situation ist sehr besorgniserregend für alle Tunesierinnen und Tunesier, die auf einen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in ihrem Land hofften und denen langsam bewusst wird, dass die Politik seit dem 25. Juli 2021 nichts mehr zu diesen Hoffnungen beiträgt. Die neue Verfassung ist gefährlich, weil sie die Möglichkeit einer Rückkehr zur Diktatur eröffnet.
Die Verfassung von 2014 hatte eine große Bandbreite an freiheitlichen Bürgerrechten verankert und enthält auch Garantien für ihre Einhaltung. Heute ist das alles in Gefahr, denn die neue Verfassung wurde einseitig vom Präsidenten erarbeitet. Es wurde zwar der Anschein eines nationalen Dialogs erweckt, aber dieser Anschein trügt. Auch die Änderungen, die er am 8. Juli vorgelegt hat, kamen ohne Konsultation zustande und gehen nicht auf Kritik an seiner Vorlage ein.
Was genau macht die neue Verfassung gefährlich?
Frawes: Bedenklich ist etwa jene Passage in Artikel 5, wonach der Staat "auf ein Erreichen der Ziele des Islam" hinarbeiten müsse, ("les objectifs de l’islam“, arab. Makassed). Das könnte so interpretiert werden, dass die universellen Freiheits- und Bürgerrechte einzuschränken sind - also auch die Frauenrechte.
Mit dieser Passage in der Verfassung wäre es möglich, Gesetze neu zu bewerten und nach den neuen Vorgaben umzuschreiben. Außerdem öffnet die neue Verfassung die Tür zu einer Rückkehr zu den Verhältnissen von vor 2011, zu einem Präsidialsystem. Die Institutionen, v.a. das Parlament und das Richteramt werden geschwächt, der Präsident wird zur obersten Kraft im Land und ist den Wählern gegenüber nicht mehr verantwortlich, er steht über jeder Form von Rechenschaft. Zu seinen Vorrechten gehört dann etwa, dass er allein die Mitglieder des Verfassungsgerichts ernennen darf. Die demokratischen Institutionen werden innerlich ausgehöhlt. Diese neue Verfassung würde internationalen Standards für Rechtsstaatlichkeit nicht mehr genügen.
Der Textentwurf öffnet die Türen zu einer Islamisierung der Gesellschaft und des tunesischen Staates, das wäre ein Rückfall hinter alle Errungenschaften der Tunesier seit der Unabhängigkeit. Und er öffnet die Tür zu einer neuen Diktatur.

Die Wirtschaftskrise trifft Frauen besonders hart
Tunesien befindet sich in einer fragilen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Steigende Lebensmittelpreise, hohe Arbeitslosigkeit und eine drohende Staatspleite verschärfen die Lage. Was bedeutet das für Frauen?
Frawes: Frauen sind von der Krise stärker betroffen als Männer; unter ihnen ist die Arbeitslosigkeit höher, es gibt mehr Analphabetinnen als unter Männern, in manchen Regionen Tunesiens können bis zu 40 Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben.
Frauen haben einen schlechteren Zugang zu Bankkrediten, wenn sie sich selbstständig machen wollen. Viele Frauen leben unter sehr prekären Bedingungen. Sie haben keine regulären Arbeitsverträge, ihre Arbeitsbedingungen sind gefährlich, vor allem auf dem Land, und sie haben keinerlei soziale Absicherung. Sie bekommen deutlich weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, ob im öffentlichen Dienst, in der Privatwirtschaft oder im informellen Sektor. Eine Landarbeiterin bekommt 10 Dinar pro Tag (rund 10 Euro), ein Mann 15 Dinar, das ist eine eklatante Ungleichheit.
Frauen haben auch deutlich weniger Zugang zu Land, nur 14 Prozent des Landes gehört Frauen, das heißt Landbesitz ist zu großen Teilen ein männliches Privileg. Das bedeutet für viele Frauen Armut, bis hin zu extremer Armut. In der jetzigen Krise ist die Armutsrate weiter gestiegen. Studien zufolge wird bald rund die Hälfte der tunesischen Bevölkerung in Armut leben. Und diese Armut ist vor allem weiblich.
Hat die Frauenbewegung für diese sozial benachteiligten Frauen zu wenig getan?
Frawes: In gewisser Weise, ja, leider. Die Frauenbewegungen in Tunesien und im Maghreb haben sich darauf konzentriert, Änderungen im Rechtssystem durchzusetzen. Brennende soziale Fragen wie etwa nach der Sicherheit der Landarbeiterinnen auf ihrem Weg zur Arbeit auf den Feldern gehen dabei schnell unter. Wir beschränken zu oft darauf, Gesetze zu fordern und dann nicht zu schauen, wie es mit der Umsetzung in die Praxis aussieht. Außerdem ist es uns nicht gelungen, eine Brücke zwischen den Aktivistinnen und zum Beispiel Landarbeiterinnen zu schlagen, um gemeinsam mehr zu erreichen.