Sunnitischer Islam trifft russische Orthodoxie

Während der türkische Präsident bei den bevorstehenden Parlamentswahlen um die Alleinherrschaft kämpft, hat das russische Staatsoberhaupt längst jegliche Opposition ausgeschaltet. Beide Männer eint sehr viel – aber mindestens genauso groß sind die politischen und biographischen Unterschiede. Von Çiğdem Akyol

Von Cigdem Akyol

Sie spalten ihre Nationen, so abgrundtief geliebt und gehasst werden sie. Für ihre Anhänger sind sie Heilsbringer, die ihnen endlich wieder ihren Stolz zurückgegeben haben. Für ihre Gegner sind sie Diktatoren, die auch vor Kriegen nicht zurückschrecken. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin sind wohl die prägendsten Politiker der Gegenwart – es ist ihr Jahrzehnt, und noch ist nicht klar, wie es für die beiden enden wird.

Erdoğans Türkei erinnere ihn inzwischen an "Putins Russland", so Grünen-Chef Cem Özdemir. Denn ähnlich wie Putin gehe auch Erdoğan gegen demokratische Institutionen mit der "Abrissbirne" vor. Es sind Vergleiche, die immer wieder gemacht werden. So war im britischen "Guardian" zu lesen, Erdoğan und Putin seien "zwei zornige Männer an Europas Grenzen: laut, stolz und unmöglich zu ignorieren".

Die zwei Charismatiker strotzen vor Selbstbewusstsein, ihre eigene Bedeutung können sie gar nicht hoch genug einschätzen. Die Staatsmänner verstehen sich als Erbauer neuer politischer und gesellschaftlicher Ordnungen, und arbeiten daran, in die Geschichtsbücher einzugehen. Es eint sie die Sehnsucht von der einstigen Größe des Osmanischen Reichs und der Sowjetunion. Erdoğan forderte deswegen, an türkischen Schulen wieder Osmanisch zu unterrichten. Putin hat die alte Sowjethymne mit der Melodie aus Stalins Tagen wieder eingeführt.

Ihre tiefe Religiösität verwurzelt im sunnitischen Islam und der russischen Orthodoxie sowie ihr Hypernationalismus sind weitere Gemeinsamkeiten. Erdoğan tritt neuerdings gelegentlich mit einem Koran in der Hand auf, um für die von ihm 2001 mitbegründete Regierungspartei AKP zu werben. Putin feierte den Beginn seiner ersten Präsidentschaft 2000 mit einem Gang in den Gottesdienst. Doch vor allem teilen sie ihr Ziel, sich für vergangene reale oder auch eingebildete Schmähungen rächen zu wollen.

Gegen alle Widerstände ganz nach oben

Wer die Logik der beiden Männer verstehen will, der muss zurück in deren Vergangenheit schauen: Der 1954 in Kasımpaşa, einem Istanbuler Arbeiterbezirk geborene Erdoğan, musste als Kind Sesamkringel verkaufen, um seine Eltern finanziell zu unterstützen. In Kasımpaşa lernte er, sich durch Raufereien durchzusetzen – denn nur wer erfolgreich zuschlagen konnte, der wurde nicht unterdrückt. "Er ist halt ein Kasımpaşali" – mit diesen Worten werden seine Reizbarkeit und seine provokative Wortwahl deswegen heute von seinen Anhängern entschuldigt.

Grünen-Chef Cem Özdemir; Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images
Offene Kritik am autoritären Regierungsstil Recep Tayyip Erdoğans: Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte den türkischen Staatschef vor der anstehenden Parlamentswahl in der Türkei mit harschen Worten: Erdoğan gehe mit der "Abrissbirne" gegen die Demokratie vor - und trage "putineske Züge".

Der 1952 in St. Petersburg geborene Putin wuchs ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen auf. Er erzählt über seine Kindheit, dass er früh verstanden habe, wie er seinen Gegnern entkommen könne: "Im Aufgang hausten Ratten. Einmal entdeckte ich eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte. Da bäumte sie sich plötzlich auf und ging auf mich los. Jetzt hatte sie den Spieß umgedreht und jagte mich! Ich war aber doch schneller und schlug ihr die Tür vor der Nase zu."

Als ein Ankerpunkt in ihren politischen Biografien lassen sich zwei Ereignisse festhalten: Am 17. September 1960 wurde der türkische Ministerpräsident Adnan Menderes nach einem Militärputsch von der Junta erhängt. Der junge Recep entdeckte in einer Zeitung seines Vaters das Foto des noch lebenden Menderes, wie dessen Hals in der Schlinge feststeckte. "Damals habe ich nicht viel verstanden. Aber ich sah, dass mein Vater und meine Mutter sehr bestürzt waren, den Mann auf seinen Tod zugehen zu sehen", sagte er später als Regierungschef.

Der ehemalige KGB-Agent Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als einen Schock erlebt, den er nie vergessen werde. "Es war eine Lähmung der Macht", sagte er später über den Kollaps des Imperiums, den er als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" empfand.

Der Istanbuler und der Petersburger glaubten, eines verstanden zu haben: Schwäche macht angreifbar, deswegen inszenieren sie sich als unermüdliche Diener ihrer Nation. Um Stärke zu suggerieren, ist körperliche Fitness Teil der Selbst-PR. Anders als Putin kann sich Erdoğan aber nicht tauchend unter Wasser zeigen. Der Türke, der beinahe Karriere als Profifußballer gemacht hätte, würde halbbekleidet seine Kernklientel, fromme Muslime, verprellen.

Verschwörerischer Westen

Erdoğan und Putin haben das System so umgebaut, dass es auf ihre Bedürfnisse passt. Sie glauben, demokratische Grundrechte wie Presse-, Meinungs-, und Demonstrationsfreiheit dienten dazu, ihre Macht zu gefährden, daher werden sie sukzessive abgebaut.

Vom Westen fühlen sie betrogen. "Jene, die von außen in die islamische Welt kommen, mögen Öl, Gold und Diamanten, sie mögen billige Arbeitskräfte, und sie mögen Zwist und Streit. Aber, glauben Sie mir, uns mögen sie nicht", erklärte Erdoğan Ende November in Istanbul. "Der Westen solle aufhören, 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht neue Mauern gegen Russland zu errichten", forderte Putin Mitte Dezember bei seiner Jahrespressekonferenz in Moskau.

Çiğdem Akyol ; Foto: Çiğdem Akyol
Çiğdem Akyol studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht an der Universität zu Köln. Von 2006 bis 2014 arbeitete sie als Redakteurin bei der taz. Seitdem ist sie als Korrespondentin für deutschsprachige Medien in Istanbul tätig. Im Februar erschien ihr Sachbuch "Generation Erdoğan" im Verlag Kremayr & Scheriau.

Sowohl Erdoğan als auch Putin sind Verschwörungstheoretiker, die überall Feinde wittern – ob in der eigenen Heimat oder im Ausland. Erdoğan zeigte während der Gezi-Proteste eindrucksvoll, dass er keinerlei Kritik von irgendwem duldet. Putin hat sogar die Krim annektiert, um Stärke zu demonstrieren und von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Der Begriff "Putinversteher" ist seitdem im deutschsprachigen Raum je nach Sichtweise zu einem Schimpfwort oder einem Lob geworden. Der Begriff "Erdoğanversteher" hat sich bislang noch nicht durchgesetzt.

Doch bei der fast schon identischen Definition von Demokratie gibt es auch politische Meinungsverschiedenheiten. Vor allem in der Syrienfrage herrscht Uneinigkeit. Denn Russland ist einer der wenigen Verbündeten Baschar al-Assads, seit 1971 befindet sich in Syrien der einzige Stützpunkt der russischen Marine im Mittelmeer. Erst vor den Präsidentschaftswahlen im Juni 2014 soll Moskau 175 Millionen Euro an das Regime in Damaskus überwiesen haben.

In Ungnade gefallen

Familie Erdoğan und Familie Assad waren 2008 sogar für einige Tage gemeinsam am türkischen Badeort Bodrum im Urlaub. Doch dann begann im März 2011 der syrische Bürgerkrieg. Zu Beginn des Konflikts versuchte Erdoğan seinen Freund noch, zu Reformen zu bewegen. Assad machte tatsächlich Zusagen, die Erdoğan öffentlich lobte, um dann zu erleben, dass der Syrer seine Versprechen nicht einhielt.

Seitdem gehört die Türkei zu den entschiedensten Gegnern Assads, Erdoğan drohte gar mit einer Intervention. Dennoch arbeiten die starken Männer in Ankara und Moskau meist gut zusammen. Die Türkei ist nach Deutschland der größte Abnehmer für russisches Gas, sie deckt 65 Prozent ihres Gasbedarfs aus Russland.

Putin war nach Papst Franziskus der zweite prominente Gast, den Erdoğan im Dezember letzten Jahres in seinem Protz-Palast in Ankara empfing. Danach verkündete der Russe überraschend das Aus für die geplante South-Stream-Pipeline durch das Schwarze Meer, die Süd- und Südosteuropa mit russischen Gas versorgen sollte. Stattdessen wolle man auf eine Kooperation mit der Türkei setzen und einen Gasumschlagplatz nahe der griechischen Grenze bauen.

Zudem profitiert die Türkei von den Sanktionen gegen Moskau, welche die EU wegen des Krim-Konflikts und der Ukraine-Krise verhängt haben. So ist der Export türkischer Lebensmittel in den Osten in den vergangenen Monaten um ein vielfaches gestiegen – und beide Länder haben vereinbart, den Handel mit Lebensmitteln und Gas noch weiter zu steigern.

Das Putin den Genozid an den Armeniern kürzlich auch als solchen bezeichnet hat, war für Ankara – sonst sehr empfindsam bei diesem Thema – angesichts dieser glänzenden Wirtschaftsbeziehungen fast nur noch eine irrelevante Nebensächlichkeit.

Çiğdem Akyol

© Qantara.de 2015