Interesse gegen Null

Es ist auffällig, mit welcher Gleichgültigkeit der jüngste Fortschrittsbericht der Europäischen Union von der türkischen Regierung, aber auch von der Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Einzelheiten von Jürgen Gottschlich aus Istanbul.

Flaggen der EU, der Türkei und Kroatiens; Foto: DW/dpa
Allmähliche Abkehr von der EU? Die Zeit, als man in Ankara noch nach Brüssel starrte wie ein Kaninchen auf die Schlange, scheint jedenfalls endgültig vorbei zu sein, meint Jürgen Gottschlich.

​​Egeman Bagis, der türkische Chefunterhändler für die EU gab sich konziliant. "Wir sind zufrieden, es ist ein ausgewogener Bericht." Dabei hatte Brüssel sich mit dem diesjährigen Fortschrittsbericht viel weitgehender in die türkische Innenpolitik eingemischt, als es bislang der Fall gewesen war.

Nicht mehr nur Minderheitenrechte, Geschlechtergleichheit, Religionsfreiheit und Reformeifer allgemein wurden angemahnt, auch die gewerkschaftlichen Rechte sollten endlich verbessert werden, befand die EU-Kommission.

Ganz konkret wird der Bericht in Fragen der Meinungsfreiheit: In der exorbitanten Steuerforderung von knapp zwei Milliarden Euro gegen den oppositionellen Medienkonzern Dogan Yayin, sieht die Kommission einen Angriff auf die Meinungsfreiheit, hinter vorgehaltener Hand wird gar von "Putin-ähnlichen Methoden" geredet.

Doch Egeman Bagis wehrt nur lässig ab. Das sei schließlich keine Entscheidung der Regierung sondern der Steuerbehörden und eine gerichtliche Überprüfung stünde ja auch noch aus.

Keinerlei wütende Reaktionen

Es ist geradezu augenfällig, wie gelassen, um nicht zu sagen, desinteressiert, der Fortschrittsbericht in der Regierung, aber auch in der Öffentlichkeit insgesamt, aufgenommen wurde.

Es gab keinerlei wütende Reaktionen in den Talk–Shows, eine nur zurückhaltende Berichterstattung in den großen Zeitungen, ja die Schwergewichte der türkischen Politik, Ministerpräsident Tayyip Erdogan, Präsident Abdullah Gül und Außenminister Ahmet Davutoglu äußerten sich überhaupt nicht.

EU-Erweiterungskommissar Rehn bei der Vorstellung des EU-Fortschrittsberichtes; Foto: AP
EU-Erweiterungskommissar Rehn zeigte sich enttäuscht über die anhaltende Verfolgung von Schriftstellern - wie Literaturnobelpreisträger Pamuk -, betonte zugleich aber die strategische Bedeutung der Türkei für Europa.

​​Darin zeigt sich aber nicht nur die nun schon seit einigen Jahren vorherrschende Enttäuschung über Europa und insbesondere über das Gespann Merkel-Sarkozy, es kommt in diesem Jahr ein neues Element hinzu: Die türkische Regierung glaubt zunehmend, sie wäre auf Europa immer weniger angewiesen.

Noch vor ein paar Jahren hätte ein Bericht wie er jetzt im US-Magazin "Newsweek" erschien, für große Aufregung gesorgt. Dort prophezeit Korrespondent Owen Matthews der türkischen Regierung, insbesondere ihr Vorgehen gegen den Dogan-Konzern könnte sich noch zu einer schweren Hypothek im Verhältnis zur EU entwickeln. Doch in diesem Jahr ist die Story gerade mal den Dogan-Medien selbst noch eine Meldung wert.

Wachsende EU-Skepsis

Stattdessen gibt Präsident Abdullah Gül in einem Interview mit dem französischen "Figaro" zu bedenken, nicht nur die Franzosen seien skeptisch gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei eingestellt, am Ende könne vielleicht auch die Türkei zu dem Schluss kommen, dass eine Mitgliedschaft nicht mehr in ihrem Interesse liegt.

Die Zeit, als man in Ankara noch nach Brüssel starrte wie ein Kaninchen auf die Schlange, scheint endgültig vorbei. Das hat verschiedene Gründe, sowohl politische, wie auch ökonomische.

Angesichts der Wirtschaftskrise in Europa hat man in Ankara den Eindruck, selbst noch ganz gut weggekommen zu sein. Zwar sind aktuell die Arbeitslosenzahlen auf historischen Rekordhöhen, doch schon für 2010 rechnet man wieder mit einem Wachstum von drei bis vier Prozent.

Das Bankensystem in der Türkei hat sich als stabil erwiesen und die Börse notiert bereits jetzt wieder höher als vor dem Lehman-Zusammenbruch – ein Zeichen, dass die ausländischen Investoren nicht geflüchtet sind, obwohl sich Erdogan bis heute weigert, Hilfe vom Internationalen Währungsfond (IWF) anzunehmen.

Diese Krücke brauche die Türkei nicht mehr, ließ er sich kürzlich zitieren. Diese Position der Stärke wird gestützt durch die immer wichtiger werdende Rolle, die die Türkei mittlerweile als Energietransitland einnimmt.

"Null Probleme mit den Nachbarn"

Gas und Ölpiplines aus Russland, dem Kaspischen Becken und dem Irak führen durch die Türkei ans Mittelmeer oder sollen, wie bei Nabucco, perspektivisch bis Westeuropa führen. Die Türkei pokert relativ geschickt zwischen der EU und Russland und versucht dabei, sich alle Optionen offen zu halten. Energiepolitisch ist Westeuropa längst mehr auf die Türkei angewiesen als umgekehrt.

Unterzeichnung des Nabucco-Pipeline-Vertrags in Ankara im Juli 2009; Foto: AP
Neue wirtschaftspolitische Perspektiven für die Türkei: Unterzeichnung des Nabucco-Pipeline-Vertrags in Ankara im Juli 2009

​​Politisch hat sich die Regierung Erdogan mit ihrer neuen "multidimensionalen Außenpolitik" nach ihrem eigenen Empfinden von der Abhängigkeit von Europa befreit. Unter dem Motto "Null Probleme mit den Nachbarn", hat Außenminister Ahmet Davutoglu eine Offensive gestartet, die seit gut einem Jahr nun schon viele Barrieren aus dem Weg geräumt hat, die die Türkei früher von Syrien, dem Irak und Armenien trennte.

Bei all diesen Bemühungen spielt Europa kaum eine Rolle, wenn überhaupt sind die USA dabei der westliche Partner der Türkei. So wird der Versuch einer Aussöhnung mit Armenien vor allem von Washington massiv und wirkungsvoll unterstützt.

Die Obama-Administration übt auf Armenien erheblichen Druck aus, damit die Regierung von Sergej Sarkasian auf Kurs bleibt und nicht aus Angst vor der eigenen Courage einen Rückzieher macht. Auch bei der Annäherung zwischen der Türkei und dem Irak spielt Washington die entscheidende Rolle. Mittlerweile sind die Beziehungen so gut, dass Erdogan in der letzten Woche mit dem halben Kabinett nach Bagdad reiste um dort etliche Verträge zu unterzeichnen.

Neue politische Spielräume

Auch das lange geradezu feindselige Verhältnis zu der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak ist nun so entspannt, dass Kurdenführer Massoud Barsani im türkischen Fernsehen offen die PKK auffordert, die Waffen niederzulegen.

Erdogan (links) und Ahmet Türk während ihres Treffens in Ankara; Foto: AP
Zäsur im türkisch-kurdischen Verhältnis: Treffen zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und dem Vorsitzenden der pro-kurdischen DTP, Ahmet Türk, im August 2009 in Ankara

​​Im Gegenzug ist die Türkei inoffiziell längst dabei, Barsani und seine Mitstreiter als eigentliche Regierung des Nordirak anzuerkennen und einem kurdischen de facto Staat damit ihren Segen zu erteilen. Dies alles sind politische Neuerungen, die noch vor kurzer Zeit undenkbar gewesen wären und die der Türkei nun neue Spielräume verschafft.

Wie eigenständig Ankara dabei längst agiert, zeigt sich am Zerwürfnis mit Israel. Ist die neue Nachbarschaftspolitik der Türkei noch durchaus im Interesse der EU, auch wenn Brüssel dabei keine aktive Rolle spielt, so ist der beinahe vollzogene Bruch der Türkei mit Israel ganz und gar nicht im Interesse des Westens.

Seit dem Gaza-Krieg polemisiert Erdogan in schärfsten Tönen gegen Israel, jüngst sorgten eine antisemitische Serie im türkischen Staats-TV und eine Ausladung Israels von einem Militärmanöver in der Türkei für neue Verstimmung.

Blick in Richtung Naher und Ferner Osten?

Parallel zur Kritik an Israel nimmt die Herzlichkeit der Beziehungen zu Syrien stetig zu. Gerade wurde der visafreie Reiseverkehr eingeführt und just an dem Tag, als Brüssel seinen Fortschrittsbericht vorstellte, inszenierten wohl nicht ganz zufällig die türkische und syrische Regierung eine große Show an der Grenze, wo ganz im Stil früherer deutsch-französischer PR-Aktionen die Schlagbäume beseitigt wurden.

Wendet sich die Türkei also von Europa ab und dem Nahe und Fernen Osten zu? Es ist zu früh, um diese Frage abschließend zu beantworten. Ganz sicher versucht die Türkei im Moment, ihre Abhängigkeit von Europa zu verringern und ihre außenpolitischen Optionen zu vermehren.

Die klügeren Köpfe innerhalb der regierenden AKP wissen aber auch, dass das Gewicht des Landes letztlich aber auch im Nahen Osten oder im Kaukasus daran gemessen wird, wie stark die Verankerung der Türkei in Europa ist.

Deshalb ist nicht damit zu rechnen, dass die Regierung Erdogan, trotz aller Solidarität mit den muslimischen Nachbarn, ihre Beziehungen zu Europa kappen wird. Man wünscht sich vielmehr, endlich in seiner ganzen Relevanz von Europa anerkannt und ernst genommen zu werden.

Jürgen Gottschlich

© Qantara.de 2009

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