Deutschland ist kein Antirassismus-Vorbild für die USA

Die Berliner U-Bahnhaltestelle Mohrenstraße - überklebt mit dem Namen von George Floyd, dem Afroamerikaner, der durch einen weißen Polizisten in Minneapolis getötet wurde
Die Berliner U-Bahnhaltestelle Mohrenstraße - überklebt mit dem Namen von George Floyd, dem Afroamerikaner, der durch einen weißen Polizisten in Minneapolis getötet wurde

Deutschland wird oft für seine Aufarbeitung der NS-Zeit gelobt. Tatsächlich leben aber Strukturen fort, die Rassismus ermöglichen und Deutschsein mit Weißsein gleichsetzen, meint Rassismusforscherin Ursula Moffitt.

Essay von Ursula Moffitt

In den vergangenen Wochen ist Deutschland in sozialen Medien häufig als Vorbild für den Umgang mit den Gräueltaten der Vergangenheit gelobt worden. Diese Wahrnehmung ist nicht neu, aber sie hat an Boden gewonnen, seit Statuen von Südstaaten-Generälen aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg von Kolonialherren und anderen gestürzt wurden.

Seit die Studentenunruhen der 1960er Jahre das belastete Schweigen über die NS-Zeit durchbrochen haben, sind zahlreiche Holocaust-Mahnmale errichtet und ehemalige Konzentrationslager in Bildungseinrichtungen umgewandelt worden. Das waren unbestreitbar richtige Entscheidungen. Heute aber ringen wir kollektiv mit der Frage, wie wir die Zukunft gemeinsam gestalten sollen.

Deutschland beweist dabei derzeit, dass die Wiedergutmachung der Sünden der Vergangenheit wenig bewirkt, wenn die Strukturen, die diese Gräueltaten erst möglich gemacht haben, nicht aufgelöst werden.

Keine Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte

Als Austauschschülerin in Deutschland, vor etwa 20 Jahren, wohnte ich bei einer deutsch-türkischen Familie, die mir half, mein Bild von Deutschland als Land ohne kulturelle Vielfalt abzulegen. Jahre später zog ich für ein Jahr nach Berlin, aus dem dann acht wurden. Im vergangenen Herbst kehrte ich nach abgeschlossener Promotion in die USA zurück. Das Thema meiner Doktorarbeit war die nationale Identität Deutschlands im Verhältnis zu Rassifizierung und Rassismus.

Ursula Moffitt; Foto: privat
Rassismusforscherin Ursula Moffitt meint, Deutschland beweise, dass die Wiedergutmachung der Sünden der NS-Vergangenheit wenig bewirkt, wenn die Strukturen, die diese Gräueltaten erst möglich gemacht haben, nicht aufgelöst werden. Sie fordert „eine neue kulturelle und politische Auseinandersetzung - nicht nur mit dem Holocaust, sondern mit der direkten Gleichsetzung des Verständnisses von Deutschsein und Weißsein“.

Während meiner Promotion unterrichtete ich Lehramtsstudierende an der Universität Potsdam mit Schwerpunkt auf historischen und gegenwärtigen Ungerechtigkeiten. Die meisten Studierenden hatten sich nie zuvor mit der deutschen Kolonialgeschichte auseinandergesetzt. Nur wenige waren bereit, diese Wissenslücke zu schließen. "Ständig sagt man uns, wie schrecklich wir Deutschen während des Zweiten Weltkriegs waren. Warum sollen wir uns mit weiteren dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte befassen?", lautete eine häufig gestellte Frage.

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Die Auseinandersetzung mit Rassismus wurde zum festen Bestandteil meines Lehrplans, obwohl meine weißen deutschen Kollegen mir vorwarfen, ich würde überreagieren und die Dinge falsch interpretieren. Weiße Deutsche halten US-Amerikanern gerne vor, sie seien von der Diskussion über Race geradezu besessen. ("Race" ist nicht mit "Rasse" gleichzusetzen, da der Begriff im Englischen eine andere Konnotation hat und sein Gebrauch eben nicht bereits rassistisch ist.)

In Deutschland habe ich gelernt, dass gerade die Tatsache, dass Race totgeschwiegen wird, rassistische Trennlinien in der Gesellschaft aufrechterhält. Ich spreche bewusst von "weißen Deutschen". Zwar wurde der Begriff Rasse nach dem Holocaust aus dem Sprachgebrauch getilgt. Aber die daraus folgende Farbenblindheit hat den Raum für einen systemischen Rassismus geschaffen, der nur schwer benannt, erkannt und verurteilt werden kann.

Jahrhunderte lang hat die ethnische Zugehörigkeit die Politik und das Konzept vom Deutschsein bestimmt. 1999 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass die Staatsbürgerschaft nicht von der Abstammung abhängig machte. Damit wurde erstmals die Vielfalt der Gesellschaft anerkannt. Erst 2014 wurde die doppelte Staatsbürgerschaft für Kinder von Nicht-EU Bürgern eingeführt. Bis dato mussten sie sich zwischen der deutschen und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden.

Im Zuge meiner Promotion habe ich junge Deutsch-Türken interviewt. Die meisten von ihnen hatten diese Entscheidung schon treffen müssen. Sie ärgerten sich darüber, dass sie ihre Loyalität zu dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, erst unter Beweis stellen mussten. Alle gaben an, sich deutsch zu fühlen, aber ein deutscher Pass würde für die meisten nichts daran ändern, dass sie von vielen weißen Deutschen ewig als Fremde gesehen würden.

Bis in die frühen 2000er Jahre war es normal, von Deutschen und Ausländern zu sprechen. Mit letzteren waren diejenigen gemeint, die als Nicht-Deutsche wahrgenommen wurden. Ich war schockiert, als noch 2014 diese Begriffe in einer Studie der Universität Potsdam über den Schulalltag auftauchten. Es gehe hier um Anschaulichkeit, wurde ich belehrt. Kinder würden zwischen Deutschen und Ausländern unterscheiden. Meine Kritik, dies sei rassistisch, wurde mit einer Belehrung über mein eigenes Fremdsein beantwortet.

 

Deutschtum versus Weißsein

Für die Volkszählung 2004 wurde der Begriff "Migrationshintergrund" einführt, um die Vielfalt der Gesellschaft zu erfassen, ohne Race zu benennen. Der Begriff Migrationshintergrund ist seitdem allgegenwärtig. Ohne zu berücksichtigen, wo jemand geboren ist, wird die Kurzform "Migrant" fast ausschließlich verwendet, um People of Color, einschließlich Deutsche of Color zu bezeichnen. Auffällig oft wird dabei die deutsche Zugehörigkeit dieser Personen weggelassen.

In den USA ist das Konzept von Race ein gesellschaftliches Konstrukt, dass sehr konkrete materielle Auswirkungen hat. Im Deutschen ist der Begriff Rasse bis heute von der Nazi- und Kolonialideologie belastet, als pseudo-wissenschaftliches, biologisches Konzept. Politiker von Bündnis 90/Die Grünen sagten zu ihrer Forderung, das Wort „Rasse“ aus dem deutschen Grundgesetz zu entfernen: "Es gibt keine Rassen, es gibt nur Menschen." Auch wenn dies gut gemeint ist, verharmlost diese Form der Farbenblindheit den Rassismus. Sie hält den strukturellen und institutionellen Rassismus in der Gesellschaft aufrecht, anstatt ihn zu bekämpfen. Es braucht eine neue kulturelle und politische Auseinandersetzung - nicht nur mit dem Holocaust, sondern mit der direkten Gleichsetzung des Verständnisses von Deutschsein und Weißsein.

Die Entscheidung, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat, wer als "Migrant" ausgegrenzt wird und wer von der Polizei kontrolliert wird, ist bis heute geprägt von rassistischen Abstammungsvorstellungen, die nicht nur der Nationalsozialismus definierte, sondern die schon lange davor gesellschaftlich geprägt wurden. Deutschland für seine Aufarbeitung der Geschichte zu loben, macht den bis heute andauernden Rassismus unsichtbar. Der Nazivergangenheit sind keine Denkmäler errichtet worden. Aber ebenso wenig ist diese Vergangenheit in den geschichtlichen Kontext der Zeit davor und danach gesetzt worden. Aus diesem Fehler können wir lernen.

Ursula Moffitt

© Deutsche Welle 2020

Ursula Moffitt hat an der Universität Potsdam im Fach Psychologie promoviert. Sie forscht an der Northwestern University in Illinois, USA, zur Entwicklung von Identität im kulturellen Kontext.