Islamophobie im frankophonen Herzen Kanadas

Im Juni verabschiedete die kanadische Provinz Québec ein Gesetz, das das Tragen religiöser Symbole oder Kleidungsstücke durch bestimmte öffentlich Bedienstete am Arbeitsplatz untersagt. Seitdem haben Angriffe auf Muslime in der Öffentlichkeit deutlich zugenommen. Einzelheiten von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Im Mai 2019, noch bevor das umstrittene Gesetz 21 der Provinz Québec verabschiedet wurde, kam es zu einem deutlichen Anstieg verbaler Übergriffe und Feindseligkeiten gegen muslimische Frauen, die das traditionelle Kopftuch, den Hidschāb, tragen. Justice Femme, eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Montreal, die sich der Verteidigung und Förderung der Frauenrechte widmet und Frauen rechtliche und psychologische Unterstützung anbietet, teilte mit, seit März, als das Gesetz ins Parlament eingebracht wurde, 40 Beschwerden von muslimischen Frauen erhalten zu haben.

Nach dem von Justice Femme vorgelegten Bericht wurden Frauen angespuckt, ihnen wurde der Hidschāb gewaltsam heruntergerissen, sie wurden belästigt und am Arbeitsplatz eingeschüchtert. Darüber hinaus listet der Bericht mehr als ein Dutzend Fälle von Cybermobbing auf. Wie eine Sprecherin der Organisation erklärte, weigerten sich die Frauen, Anzeige zu erstatten, da sie davon überzeugt seien, die Provinzregierung legitimiere Diskriminierung.

François Legault, der Premierminister von Québec, hat mit seinen bisherigen Äußerungen die Befürchtungen der Betroffenen leider nicht zerstreuen können.

Am Jahrestag eines der schlimmsten Attentate in Kanada, dem sechs Menschen in einer Moschee in Québec City zum Opfer fielen, sagte Legault, es sei nicht notwendig, einen offiziellen Tag zum Gedenken an die Morde und zur Bekämpfung von Islamophobie einzuführen, da es keine Islamophobie in der Provinz Québec gäbe. Obwohl sein Büro umgehend erklärte, dass es wohl vereinzelt Fälle von Feindseligkeiten gegen muslimische Menschen geben könne, habe Legault sagen wollen, dass Islamophobie in Québec kein weit verbreitetes Problem darstelle.

Deutliche Zunahme rassistischer Vorfälle

Ein Sarg mit einem der Opfer des bewaffneten Angriffs auf Betende in einer Moschee in Québec City während des Transports nach Montreal am 2. Februar 2017; Foto: picture alliance/AP Photo/G. Hughes
Zynisch und verharmlosend: Anlässlich des Jahrestags einer der schlimmsten Massenerschießungen in der Geschichte Kanadas, der Ermordung von sechs Menschen während eines Gebets in einer Moschee von Québec City, erklärte Francois Legault, der Premierminister der Provinz, es gäbe keine Notwendigkeit für einen Gedenktag - da Islamophobie in Québec nicht existiere.

Die Zunahme rassistischer Übergriffe steht jedoch im Widerspruch zur Einschätzung des Premierministers. Diese werfen ein Schlaglicht auf ein viel tiefergehendes und umfassenderes Problem. Die Bürgermeister von Montreal und Québec City, den beiden größten Städten der Provinz Québec, ließen verlauten, sie unterstützten das neue Gesetz nicht. Gewalttätigkeiten und Missbrauch seien damit in beiden Städten nicht unterbunden worden.

Ein Mann aus Québec City, der niedergestochen wurde, als er einen Lebensmittelladen verließ, ist überzeugt davon, dass der neu aufkeimende Rassismus auf das Konto des Premierministers von Québec geht. Karim Samaini, der aus Frankreich nach Kanada auswanderte, sagt, Legault habe mit der Verabschiedung des Gesetzes 21 rassistischen Ressentiments Auftrieb gegeben.

In einem Video, das er nach dem Messerangriff auf YouTube veröffentlichte, behauptet er, dass er drei- bis viermal wöchentlich rassistischen Übergriffen ausgesetzt sei. Zudem mache er sich Sorgen darüber, dass die aufgeheizte Atmosphäre eine Radikalisierung muslimischer Jugendlicher auslösen könne.

Wenn Jugendliche ständig im Rundfunk oder in der Öffentlichkeit hören, wie ihre Religion und ethnische Zugehörigkeit herabgesetzt werde, müssten sie sich ausgegrenzt fühlen, was sie zum perfekten Ziel für die Rekrutierung durch extremistische Kräfte mache. Auch Wissenschaftler haben bestätigt, dass Extremisten gezielt Gruppen ansprechen, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Extremisten suchen die Enttäuschten, lösen sie aus ihrer Rolle als passive Opfer heraus, heben deren Selbstwertgefühl und zeigen ihnen einen Weg auf, Rache zu üben.

Besonders erschreckend war ein Vorfall, bei dem ein Mann kürzlich eine Mutter mit ihrer Tochter in aller Öffentlichkeit in Montreal rassistisch beschimpfte. Weder die Frau, ihre zweijährige Tochter, noch eine Begleitperson trugen sichtbare religiöse Symbole. Sie sprachen allerdings Arabisch, was offenbar schon ausreichte. Der von den Opfern auf Video festgehaltene Angriff irritiert insbesondere wegen des offensichtlichen Hasses, den der Mann gegen die Frauen hegte.

Wenn Islamophobie allgemein akzeptiert wird

Der Mann beleidigte nicht nur die Frauen, weil sie Arabisch sprachen, er näherte sich auch dem Kind und machte anzügliche Bemerkungen über dessen Mutter. Als er von den beiden Frauen abließ, wurden diese Zeuge, wie er eine weitere Frau belästigte, die einen Hidschāb trug. Genau wie Samaini glaubt auch die besagte Mutter, dass das neue Gesetz die Menschen zu diesem Verhalten ermutige. Sie meint, einen derartigen Angriff hätte es vor der Verabschiedung des neuen Gesetzes kaum gegeben.

Shaheen Ashraf, die Montrealer Vertreterin des Kanadischen Rates muslimischer Frauen, unterstützt diese Auffassung. „Herr Legault und seine Regierung machen es den Rassisten erst möglich, aus der Deckung zu kommen und muslimische Frauen zu schikanieren“, so Ashraf.

Regierungssprecher verurteilen zwar die Vorfälle, behaupten aber weiterhin, es gebe keine Verbindung zwischen den jüngsten Vorfällen und dem neuen Säkularismusgesetz. Das steht jedoch im Widerspruch zu einem Bericht der UN-Menschenrechtsbeobachter vom Mai 2019 im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes.

Der Bericht beleuchtet vor allem die Auswirkungen des Gesetzes auf die Bürgerrechte und erinnert Kanada sowie die Provinz Québec an ihre Verpflichtungen in den von ihr unterzeichneten Menschenrechtsverträgen. Er betont aber auch, dass das Gesetz insbesondere muslimische Frauen treffe, die einen Hidschāb oder Niqab tragen.

Wessen „religiöses Erbe“?

Besonders irritiert, dass sich die Regierung von Québec hartnäckig weigert, eine Verbindung zwischen dem anschwellenden Hass auf Muslime und dem neuen Gesetz zu sehen. Darauf wies bereits eine staatliche Forschungsgruppe zu Vielfalt in ihrem Bericht hin: „Wir können nicht unerwähnt lassen, dass das Gesetz die Wahrscheinlichkeit erhöhen könnte, dass... es zu gewalttätigen Vorfällen kommt.“ Interessanterweise wurde die Gruppe zum Anhörungsverfahren vor Verabschiedung des Gesetzes nicht eingeladen.

Die Provinzregierung von Québec hat die rassistischen Ausfälle zwar nicht vorsätzlich befeuert, unternimmt aber offenbar auch nichts, um deren Ausuferung zu verhindern. Bei dem Gesetz geht es offiziell zwar um Säkularismus. Doch jüngste Ankündigungen zur Investition von 20 Millionen kanadischer Dollar (ca. 13,6 Mio. Euro) zur Wahrung des „religiösen Erbes“ durch die Wiederherstellung und Erhaltung katholischer Gebäude in der gesamten Provinz legen alles andere als ein Bekenntnis zum Säkularismus nahe.

Was auch immer die Absicht hinter der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes 21 gewesen sein mag, die Regierung von Québec sollte zumindest erkennen, dass sie damit ein Problem geschaffen hat, das sie umgehend lösen muss. Andernfalls werden Rassismus und religiöser Fanatismus das Klima in der Provinz weiter vergiften.

Richard Marcus

© Qantara.de 2019

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers