Jugend hat genug von Gewalt und Korruption

Ähnlich wie Libanon und Irak erlebt nun auch das Bürgerkriegsland Libyen eine Protestwelle gegen Korruption und unwürdige Lebensbedingungen. Allerdings sind die Demonstranten gleich mit zwei Regierungen konfrontiert. Von Kersten Knipp & Khaled Salameh

Von Kersten Knipp & Khaled Salameh

Seit Wochen protestieren überwiegend junge Menschen in unterschiedlichen Städten Libyens auf den Straßen, nun scheint immerhin eine von zwei miteinander rivalisierenden Regierungen darüber eingeknickt zu sein: Unter dem Eindruck der Proteste bot das Kabinett im ostlibyschen Tobruk am Sonntag (12.9.) seinen Rücktritt an. Bis zur nächsten Sitzung des Parlaments - dieses muss dem Rücktritt noch zustimmen - werde die Regierung allerdings im Amt bleiben, erklärte ein Sprecher. Wann dies geschehen soll, blieb zunächst freilich offen.

Das Land besteht seit Jahren aus zwei unterschiedlichen Machtzentren, die sich feindlich gegenüber stehen und von unterschiedlichen auswärtigen Mächten unterstützt und militärisch aufgerüstet werden. Das Kabinett in Tobruk war 2014 nach gewaltsamen Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Gruppen aus der westlich gelegenen Hauptstadt Tripolis in den Nordosten geflüchtet. In Tripolis hat sich seitdem eine zweite, von dem Politiker Fajis al-Sarradsch geführte Regierung gebildet. Diese ist zwar international anerkannt, aber nicht durch Wahlen legitimiert.

Die Demonstranten protestieren gegen eine ganze Reihe von Missständen. Insbesondere wenden sie sich gegen die grassierende Korruption sowie verschlechternde Lebensumstände. Dazu gehören häufige, oft über Stunden anhaltende Stromausfälle und eine ungenügende Wasserversorgung. Zudem steckt das Bankensystem in einer Krise, mit der Folge, dass viele Menschen kaum mehr Bargeld abheben können.

Auch das Gesundheitssystem ist geschwächt - und das in Zeiten, in denen das Coronavirus sich rasch verbreitet. Derzeit sind laut Johns Hopkins University in Libyen knapp mehr als 23.500 Infektionen erfasst, 368 Menschen starben an dem Virus (Stand: 15. September).

Massiver Vertrauensverlust

Bemerkenswert sei, dass der Unmut der Demonstranten sich gegen beide politische Machtzentren richte, sagt Thomas Volk, Leiter des Dialogprogramms Südlicher Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien. "Die Menschen, die in diesen Wochen auf die Straße gehen, verlieren mehr und mehr das Vertrauen in beide Regierungen - die in Tripolis ebenso wie die in Tobruk."

Jugendliche protestieren in der ostlibyschen Stadt Bengasi; Foto: picture-alliance/dpa
Aufbegehren gegen Misswirtschaft und Korruption: Bemerkenswert sei, dass der Unmut der Demonstranten sich gegen beide politische Machtzentren richte, sagt Thomas Volk, Leiter des Dialogprogramms Südlicher Mittelmeerraum der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunesien. "Die Menschen, die in diesen Wochen auf die Straße gehen, verlieren mehr und mehr das Vertrauen in beide Regierungen - die in Tripolis ebenso wie die in Tobruk."

Die Bevölkerung sei müde, so Volk gegenüber der DW. "Seit dem Revolutionsjahr 2011 ist Libyen kaum zur Ruhe gekommen. Friedensverhandlungen und Initiativen sind immer wieder gescheitert, die Menschen sehen keinerlei Fortschritt - weder auf der einen, noch auf der anderen Seite." Seiner Ansicht nach könne man gar nicht mehr von zwei politisch monolithischen Blöcken sprechen. "Die libysche Gesellschaft lässt sich kaum mehr anhand politischer Linien erfassen." 

Abstand zu beiden Machtzentren

Einer der Protest-Organisatoren bestätigt dies gegenüber der DW: Es gebe in Libyen derzeit keine Konfliktpartei, kein politisches Gremium und keine religiöse Figur, die die Krise des Landes lösen könne, sagt Ahmed Abu Arqoub, einer der Sprecher und Gründer der "Harak al-Shabaab 23/08", einer am 23. August dieses Jahres gegründeten Jugendbewegung, die Teil der neuen Protestwelle ist. Am 23. August begannen auch die Proteste, zunächst im Westen Libyens.

Aktivist Arqoub betont, dass die Bewegung keinem der beiden libyschen Machtzentren nahestehe. Im Gegenteil: Die bislang prägenden Akteure auf beiden Seiten seien ein gewichtiger Teil des Problems. "Die Lösung kann nur darin bestehen, dass diese Personen sich aus der Politik zurückziehen. Wir lehnen jede politische Lösung ab, an der die alten Konfliktparteien beteiligt sind!"

Granaten und Munition in Libyen; Foto: picture-alliance/AA./H.Turkia
Libyen als Drehscheibe des Waffenhandels: Bei einer internationalen Libyen-Konferenz in Berlin hatten die beteiligten Länder im Januar eigentlich zugesagt, die Konfliktparteien nicht weiter zu unterstützen und das bestehende Waffenembargo einzuhalten. Es gelangten seither aber weiterhin Waffen ins Land. Die EU hatte im März diesen Jahres eine neue Marine-Mission zur Durchsetzung des Waffenembargos beschlossen. Der Militäreinsatz "Irini" überwacht dabei mit Schiffen und Flugzeugen insbesondere den Seeweg nach Libyen.

Mit ihren Anliegen stoßen die Demonstranten allerdings mitunter auf massiven Widerstand. In Tripolis wurden sie in der zweiten Augusthälfte laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wiederholt von bewaffneten Gruppen aus dem Umfeld der Regierung von Al-Sarradsch angegriffen. Laut HRW wurden 24 Demonstranten dabei verhaftet, nur 13 befänden sich inzwischen wieder in Freiheit. Diese berichteten unter anderem, sie seien in Haft geschlagen worden und hätten versprechen müssen, sich nicht an weiteren Protesten zu beteiligen. 

Gerade angesichts solcher Widerstände sei es der Protestbewegung wichtig, die Proteste nicht auf einen der zwei Herrschaftsbereiche in Libyen zu beschränken, betont Aktivist Arqoub. "Beide Teile der Bewegung stehen in engem Kontakt. Wir koordinieren uns und stimmen unsere Ziele ab."

Einfluss ausländischer Akteure

Doch die Demonstranten haben es nicht nur mit innerlibyschen Gegnern zu tun. Libyen steht auch immer stärker unter dem Einfluss ausländischer Akteure. Anfang September warnte Stephanie Williams, die UN-Sonderbeauftragte für Libyen, vor einer "kritischen Phase" in Libyen. Ausländische Kräfte fluteten das Land mit Waffen. Allein seit Juli seien 70 Versorgungsflüge mit Material für General Khalifa Haftar gelandet - er ist der Gegenspieler Al-Sarradschs, wird unter anderem von Russland, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt und ist dem Parlament in Tobruk verbunden.

Russlands Präsident Wladimir Putin und sein türkischer Widerpart Recep Tayyip Erdogan auf der Berliner Libyen-Konferenz im Januar 2020; Foto: picture-alliance/AP
Bürgerkriegsland Libyen als Spielball der internationalen Politik: Im Konflikt um Libyen in Nordafrika stehen Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten auf der Seite des Generals Khalifa Haftar. Die Türkei dagegen unterstützt die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch.

Im Westen des Landes hingegen hätten Kräfte der von Al-Sarradsch geführten Regierung Materiallieferungen aus insgesamt 30 Flugzeugen entgegengenommen. Zu den militärischen Unterstützern Al-Sarradschs gehören insbesondere die Türkei und Qatar. 

Die fortschreitende Militarisierung des Landes verlangt den Demonstranten Mut ab. Doch sie wollen sich davon nicht abschrecken lassen. "Wir sind uns der Komplexität der Lage bewusst", sagt Ahmed Abu Arqoub. "Uns ist völlig klar, dass Libyen unter dem Einfluss regionaler und internationaler Kräfte steht. Genau deshalb sind wir entschlossen, zu allen von ihnen auf Abstand zu gehen. Nur so können wir ihre Pläne durchkreuzen!" Man werde sich keineswegs von einem der beteiligten Akteure instrumentalisieren lassen.

Arqoub selbst lebt freilich im Exil in Moskau - und damit in der Hauptstadt eines ebenfalls zunehmend sichtbar und intensiv am Libyen-Konflikt beteiligten Landes. 

"Wir sind eine Bewegung, die nationale Versöhnung, Vereinigung und Wiedergutmachung für konfliktbedingt erlittene Schäden anstrebt", betont Arqoub. Seine Bewegung setze sich gemeinsam mit anderen Protestierenden für bürgerliche Rechte und rechtsstaatliche Prinzipien ein.

"Libyer müssen ihren Weg selbst bestimmen"

Eine Lösung der Konflikte in dem Land könne nur von den Libyern selbst ausgehen, meint auch Thomas Volk von der Adenauer-Stiftung. "Derzeit haben aber eine ganze Reihe ausländischer Akteure enormen Einfluss. Umso mehr kommt es nun auf die Rolle der UN an." Wichtig sei vor allem, die internationale Libyen-Mission (UNSMIL) zu stärken. Diese müsse dann mithelfen, Voraussetzungen für Friedensgespräche zu schaffen. "Welchen politischen Weg das Land dann einschlägt, das müssen die Libyer dann selbst bestimmen."

Aktivist Arqoub sieht dies ähnlich und kündigt bereits neue Demonstrationen an. 

Kersten Knipp & Khaled Salameh

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