Was die offizielle Propaganda über Iran verrät 

Iranische Aktivisten stellen zentrale Symbole der Islamischen Republik infrage und entreißen den Klerikern die Hoheit darüber, wer die Nation vertreten, ihre Gegenwart definieren und die Zukunft gestalten darf.
Iranische Aktivisten stellen zentrale Symbole der Islamischen Republik infrage und entreißen den Klerikern die Hoheit darüber, wer die Nation vertreten, ihre Gegenwart definieren und die Zukunft gestalten darf.

Iranische Aktivisten stellen zentrale Symbole der Islamischen Republik infrage und entreißen den Klerikern die Hoheit darüber, wer die Nation vertreten, ihre Gegenwart definieren und die Zukunft gestalten darf. Ein Essay von Kevin L. Schwartz und Olmo Goelz 

Von Kevin L. Schwartz & Olmo Goelz

Seit dem mutmaßlich gewaltsamen Tod von Mahsa "Jina“ Amini in Polizeigewahrsam und den darauffolgenden Protesten im September 2022 haben sich iranische Aktivistinnen und deren Unterstützer zu Lehrmeistern in zivilem Ungehorsam, Widerstand und Solidarität entwickelt. 

Die Reaktion des Regimes ließ zunächst auf sich warten. So dauerte es mehrere Wochen, bis das sonst so aktive Netzwerk von staatlichen und staatsnahen Agenturen eine gezielte Nachrichtenkampagne mit der Regimeversion der Ereignisse lancierte, obwohl man nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2009 und dem Aufstieg der Grünen Bewegung noch angekündigt hatte, sich in den Medien nicht mehr von den Aktivitäten der Opposition überrumpeln lassen zu wollen. 

Als der Propagandaapparat schließlich ans Laufen kam, griff man auf altbekannte Narrative zurück: Es seien ausländische Kräfte, die sich in die inneren Angelegenheiten des Iran einmischten. Das Leben in der Islamischen Republik sei ohnehin das bestmögliche. Diese Kampagnen erschienen zunächst auf den Instagram-Konten und Telegram-Kanälen verschiedener Agenturen und wurden später in den Medien verbreitet. Sie richteten sich an die Online-Netzwerke treuer Regimeanhänger in der Hoffnung, Teile der Bevölkerung, die sich noch keine abschließende Meinung zu den laufenden Protesten gebildet hatten, auf die Regime-Seite zu ziehen. 

Appell an den kleinsten gemeinsamen Nenner 

Kampagnen wie die von Khatt Media mit dem Titel "Alles ist ein Vorwand, der Iran ist das Ziel“ (Hameh chiz bahaneh ast, Iran hadaf ast), die im Oktober 2022 veröffentlicht und von der Medienagentur Owj verbreitet wurde, einem Unternehmen der Iranischen Revolutionsgarden, suggerieren die mögliche Zerstörung von wichtigen nationalen und historischen Stätten des Iran, darunter des Freiheitsturms (Azadi-Turm) in Teheran und des Mausoleums von Nationaldichter Hafez in Shiraz. 

Es ist eine gängige Taktik dieser staatlich gesponserten Bildpropaganda, nationale und säkulare Symbole wie die beiden zu zeigen und nicht solche, die konkret mit der Islamischen Republik, der Macht des Regimes oder dem klerikalen Establishment assoziiert werden. Man erhofft sich, dass diese Bilder ein breiteres Publikum ansprechen.



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Die Kampagne derselben Agentur mit dem Slogan "Wenn es keine Sicherheit gibt...“ (Agar amniyat na-bashad...), die sich auf eine Rede des Obersten Führers Ali Khamenei aus dem Jahr 2017 bei der Verleihung von Auszeichnungen an die Armee bezieht, rekurriert auf dasselbe Thema: Wenn die Proteste weitergehen, drohe die Zerstörung der iranischen Gesellschaft. 

Die Kampagne stellt Szenen aus dem Iran den Bildern von Zerstörung in Ländern gegenüber, in denen Krieg herrscht, wie beispielsweise Jemen, Syrien und Ukraine. Der Zynismus dieser Kampagne ist den Schöpfern möglicherweise entgangen. Denn der Iran ist an den Kriegen in diesen Ländern militärisch beteiligt und damit auch mitverantwortlich für die dortigen Zerstörungen. Beide Kampagnen zeigen die Schwierigkeiten, die die Verantwortlichen in den Regime-Medien damit hatten und haben, auf die Proteste zu reagieren.



Das liegt auch daran, dass man nicht wie bei den staatlich gelenkten Kampagnen sonst üblich, einen klaren Feind zu benennen vermochte, wie beispielsweise den Westen, den IS, die Sanktionen oder COVID-19. Denn der vermeintliche Feind wären die iranischen Mitbürger gewesen, die allerdings auf den Straßen gefeiert wurden. Das hätte einen großen Teil der Gesellschaft ausgeschlossen, den die Medienmaschinerie des Regimes anzusprechen hoffte. Bei Propaganda geht es ja meist darum, Herzen und Köpfe zu gewinnen. Die Islamische Republik bildet da keine Ausnahme.

Hohle Narrative  

Die Propagandamaschinerie der Islamischen Republik befindet sich in einer Zwickmühle und tut sich mit einer Antwort auf die aktuellen Proteste schwer. Die im Evin-Gefängnis inhaftierte iranische politische Aktivistin Behareh Hedayat schrieb kürzlich in einem Brief: "Keine einzige Forderung der Protestbewegung kann innerhalb der derzeitigen [Herrschafts-]struktur erfüllt werden“. Gegen den revolutionären Slogan "Frauen, Leben, Freiheit“, der den Kern der Islamischen Republik trifft, können die Propagandisten des Regimes keine wirksame Kampagne führen. 

Die üblichen Regime-Narrative, die innenpolitische Probleme seien auf ausländische Einflüsse zurückzuführen oder das Leben in einer "sicheren“ Islamischen Republik sei stets besser als alle Alternativen, klingen hohl angesichts der Forderungen nach weniger gesellschaftlicher und politischer Kontrolle, nach mehr Frauenrechten und gleichen Rechten für alle Ethnien. 

Der erste Versuch des Regimes, den Slogan "Frauen, Leben, Freiheit“ frontal zu konterkarieren, endete in einem PR-Desaster. Das Monumentalbild "Frauen meines Landes“, das am Teheraner Vali-Asr-Platz gezeigt wurde, war eine Collage aus Porträts von 60 herausragenden Frauen im modernen Iran, das belegen sollte, dass Frauen in der Islamischen Republik einen wichtigen Platz einnehmen und erfolgreich sein können - sofern sie einen Hidschāb tragen.

“Women of My Country”, version 1, 13. Oktober 2022 (Quelle: Mehr News)
PR-Desaster für das Regime: Das am Teheraner Vali-Asr-Platz gezeigte Monumentalbild "Frauen meines Landes“, war eine Collage aus Porträts von 60 bekannten Frauen im modernen Iran. Es sollte zeigen, dass Frauen in der Islamischen Republik einen wichtigen Platz einnehmen und erfolgreich sein können - sofern sie einen Hidschāb tragen. Die Reaktionen kamen prompt und waren verheerend. Tags darauf wurde das Wandbild entfernt und durch einen Schriftzug auf weißem Hintergrund ersetzt. Damit bestätigte sich eindrücklich der Vorwurf der Demonstranten: Wenn Frauen in der Islamischen Republik überhaupt gesehen werden wollen, müssen sie den Hidschāb tragen. Ansonsten verschwinden sie aus der Öffentlichkeit.



Die Reaktionen kamen prompt und waren verheerend. Einige der auf den Bildern dargestellten Frauen (oder deren Verwandte) lehnten die Verwendung ihrer Porträtbilder ab. Darunter die Schauspielerin Marzieh Baroumand. Auf Instagram schrieb sie: "Nehmt mein Bild von dieser Plakatwand, unter dessen Slogan ihr Kinder und Jugendliche unterdrückt.“ Des Weiteren ein Nachfahre von Bibi Maryam Bakhtiari, einer Aktivistin aus der Zeit der konstitutionellen Revolution (1906 bis ca. 1911). Er  ließ verlauten, dass seine Vorfahrin wohl eine der ersten gewesen wäre, die ihren Hidschāb verbrannt hätte, wäre sie heute noch am Leben. 

Das Wandbild wurde tags darauf durch einen bloßen Schriftzug auf weißem Hintergrund ersetzt. Eine beschämende Niederlage, die bewies: Wenn Frauen in der Islamischen Republik überhaupt gesehen werden wollen, müssen sie den Hidschāb tragen. Tun sie das nicht, verschwinden sie aus der Öffentlichkeit. 

Übertrieben männliche Symbolik 

Doch der Hidschāb ist nicht das einzige Symbol, gegen das sich die aktuellen Proteste richten. Sie wenden sich auch gegen andere Symbole der Islamischen Republik wie den Turban der Geistlichen und das Bild von Qasem Soleimani, des von einer US-Drohne getöteten Kommandeurs der Quds-Einheit. Die Protestbewegung will die übertrieben maskuline Symbolik des Regimes dekonstruieren, die den öffentlichen Raum und die Bürger Tag für Tag überflutet. 

Ein mittlerweile besonders populärer Akt des zivilen Ungehorsams besteht darin, ahnungslosen Geistlichen den Turban vom Kopf zu reißen. Plakatwände mit den Konterfeis von Qassem Soleimani oder Ayatollah Khomeini wurden beschädigt, verbrannt oder mit roter Farbe beschmiert. Dass das Bild von Soleimani als einem führenden Offizier der Iranischen Revolutionsgarde den Zorn der Demonstranten auf sich zieht, verwundert niemanden. 



Für die Propagandisten des Regimes aber ist Soleimani der Inbegriff des Märtyrers. Sein Leben und Sterben gilt als Sinnbild für die Geschichte und die Kämpfe der Islamischen Republik –  vom Iran-Irak-Krieg (1980 bis 1988) und dem Kampf gegen den IS bis hin zur Konfrontation mit den Vereinigten Staaten. Das Bild von Soleimani zu entweihen, heißt, die Geschichte, die Ideologie und die Mythen der Islamischen Republik zu zerstören. 

Als Ende Oktober 2022 ein Terroranschlag auf die bedeutende schiitische Pilgerstätte Schah Tscheragh in der südiranischen Stadt Schiraz verübt wurde, bei dem 15 Menschen starben und zahlreiche verwundet wurden, nutzte das Regime die Gelegenheit, seine Narrative über die Protestbewegung neu zu formulieren und zu definieren, wem das Recht zukommt, bei der Verteidigung des Landes zu sterben (und dabei gesehen zu werden). 

Zwar hatte sich der IS angeblich zu dem Anschlag bekannt, doch viele Regimekritiker zweifelten an dieser Darstellung, denn der Anschlag hat es der Islamischen Republik ermöglicht, ihre Unterdrückung der Proteste weiter zu rechtfertigen. Parallelen zum Brand im Cinema Rex im Jahr 1978 wurden gezogen, der als Wendepunkt vor der Islamischen Revolution im Iran gilt. Damals hatte der Schah Islamisten für den Brand verantwortlich gemacht, doch viele Iraner glaubten seiner Darstellung nicht.

Grundsätzlich ist die Maschinerie der Märtyrerproduktion im Iran stets zur Stelle. Doch wenn sich die Islamische Republik besonders bedroht fühlt, kommt sie richtig in Fahrt. Dem Regime nahestehende Propagandisten nahmen den Anschlag zum Anlass, ihre Kampagnen zu Märtyrertum und Männlichkeitskult nach altbewährten Mustern auszurollen.

Bilder von "Märtyrern der Sicherheit”, 5. November 2023 (Quelle: Khatt media, Telegram)
Märtyrertum und Männlichkeitskult: Das Regime propagiert "Märtyrer“ als Garanten für Sicherheit und innere Ordnung. Nur sie gelten als legitime Verteidiger der Nation in der Krise und auf alle Zeit. Sie stehen für einen männlichen Machtapparat, der im Leben repressiv ist und im Tode verehrt wird. Dies ist die Essenz des Regimes, das die Protestierenden herausfordern, ablehnen und letztlich stürzen wollen – und die direkte Antithese zu "Frauen, Leben, Freiheit“. 

"Märtyrer im Dienst der Sicherheit"

Die neuen Kampagnen wurden von dem härteren Vorgehen gegen Protestierende, Journalisten, Akademiker und Aktivisten im ganzen Land unterstützt, Festnahmen, Folter, Hinrichtungen und Scheinprozesse eingeschlossen. Nach dem Attentat lancierte die mit den Iranischen Revolutionsgarden verbundene Agentur Khatt Media die Kampagne "Märtyrer im Dienst der Sicherheit“ (shohada-ye amniyat). Gezeigt wurden Männer, die in Schah Tscheragh ums Leben gekommen waren, sowie solche, die angeblich von iranischen Aktivisten während der Proteste getötet wurden. 

Das Regime propagiert diese "Märtyrer“ als Garanten für Sicherheit und innere Ordnung. Nur sie gelten als legitime Verteidiger der Nation in der jetzigen Krise und auf alle Zeit. Diese radikale Variante einer militarisierten Männlichkeit ist das Herzstück des ideologischen Ethos der Islamischen Republik.

Die in der Kampagne dargestellten Männer sind gewiss nicht die idealisierten Märtyrer früherer Zeiten, jene unschuldigen Seelen, die sich freiwillig für das Vaterland opferten – wie zum Beispiel während des Iran-Irak-Krieges – und denen die Menschen vertrauten und dankten. Dagegen stehen die heutigen "Märtyrer im Dienste der Sicherheit“ für einen männlich dominierten Machtapparat, der im Leben repressiv ist und im Tod verehrt werden soll. Dies ist die Essenz des Regimes, das die Protestierenden herausfordern, ablehnen und schließlich stürzen wollen. 

Diese Kampagne wird von Männern, Tod und Unterdrückung bestimmt und ist damit die direkte Antithese zum Slogan der Protestbewegung, "Frauen, Leben, Freiheit“. Nach monatelangen Protesten scheinen die oberflächlichen und letztlich erfolglosen Versuche der Propagandisten, die Rechte der Frauen in der Islamischen Republik in Szene zu setzen, bei den Menschen wenig Anklang zu finden. Im Gegenteil: Angesichts der größten Krise der Islamischen Republik in den fast 45 Jahren ihres Bestehens setzt das Regime noch stärker auf militarisierte Männlichkeit und Märtyrermythen. 

Mythenbildung auf Hochtouren 

Dieser Aspekt der Regime-Ideologie und seiner Selbstdarstellung wird seit langem kultiviert. Ein treibender Faktor ist die wohl wachsende Bedeutung der Iranischen Revolutionsgarden in Staat und Gesellschaft in der Spätphase von Ayatollah Khamenei als Oberstem Führer. Doch angesichts der aktuellen Proteste arbeitet der ideologische Apparat auf Hochtouren und prägt immer häufiger die Online- und Offline-Erzeugnisse der staatlichen und staatsnahen Propaganda. Es besteht wenig Grund zu der Annahme, dass dies nachlassen wird. 

Im Januar 2023 wurde in Teheran auf dem belebten Platz der Revolution eine gewaltige neue Plakatfläche mit Parolen des Regimes enthüllt. Mit 1400 Quadratmetern ist die neue Werbefläche die größte ihrer Art in der Hauptstadt. Größer als die Fläche am Vali-Asr-Platz, die seit 2015 vom Regime genutzt wird. 

Die Werbefläche am Platz der Revolution wird vom Teheraner Verschönerungsverein in Zusammenarbeit mit der Organisation für Islamische Propaganda (sazeman-e tablighat-e Islami) betrieben. Zu wichtigen Anlässen wirbt sie für nationale Solidarität und Identität.

Neue Wandplakate auf dem Revolutionsplatz in Teheran, 12. Januar 2023 (Quelle: Tasnim News)
Held der Islamischen Republik: Für die Propagandisten des Regimes ist Qassem Soleimani der Inbegriff des Märtyrers. Sein Leben und Sterben gilt als Sinnbild für die Geschichte und die Kämpfe der Islamischen Republik –  vom Iran-Irak-Krieg (1980-1988) und dem Kampf gegen den IS bis hin zur Konfrontation mit den Vereinigten Staaten. Das Bild von Soleimani zu entweihen, heißt, die Geschichte, die Ideologie und die Mythen der Islamischen Republik zu zerstören. 



Die erste Bildbotschaft auf der Werbefläche wurde zum dritten Todestag von Qassem Soleimani gezeigt. Vor der iranischen Flagge wird ein lächelnder Soleimani gezeigt, flankiert von zehn männlichen Märtyrern der Islamischen Republik, die stellvertretend für Helden, Geschichte und Kämpfe des Landes stehen sollen. Frauen sind bestenfalls schemenhaft im Hintergrund zu sehen. Verschleiert und als Beiwerk ihrer männlichen Mitstreiter. Die Botschaft ist eindeutig. Dies ist die Islamische Republik. Gestern, heute und in Zukunft. 

In ihrem Werk "Über die Revolution“ schreibt Hannah Arendt, Revolutionen könnten nur im Nachhinein als solche begriffen werden, wenn die historische Kontinuität tatsächlich gebrochen und ein Neubeginn erreicht wurde. Demnach ist es schwer oder gar unmöglich zu erkennen, ob man sich mitten in einer Revolution befindet. Einiges spricht dafür, dass die Proteste im Iran nicht zu einer Revolution führen werden

Indem das Regime auf althergebrachte Märtyrer- und Männlichkeitsmythen zurückgreift, um zu bestimmen, wer die Nation verteidigen und wer die Zukunft gestalten darf, macht es gleichzeitig deutlich, wie sehr der Ruf nach "Frauen, Leben, Freiheit“ eine direkte Antithese dazu ist. 

Bis auf weiteres ist keine Seite an Reformen interessiert. Daher scheinen die Positionen unversöhnbar. Wofür die Menschen auf die Straße gehen und wie sie sich gegen die propagandistischen Symbole, Bilder und Botschaften des Regimes hartnäckig wehren – das ist nichts weniger als ein Neuanfang. Das kann man nur als revolutionär bezeichnen. 

Kevin L. Schwartz und Olmo Goelz 

© Qantara.de 2023 

Kevin L. Schwartz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Forschungsleiter am Orientalischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Prag. Olmo Gölz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orientalischen Seminar der Universität Freiburg.

Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Gaby Lammers.