Die mörderische Repression eines verzweifelten Regimes 

Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini verbreitet der Propaganda-Betrieb des Regimes unter Hochbetrieb Falschmeldungen, Behauptungen, Gerüchte.
Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini verbreitet der Propaganda-Betrieb des Regimes unter Hochbetrieb Falschmeldungen, Behauptungen, Gerüchte.

Der Tod von Mahsa Amini ist nur das jüngste Beispiel einer nicht abreißenden Kette staatlicher Unterdrückung und maßloser Polizeigewalt in Iran. Ein Essay des iranischen Schriftstellers Amir Hassan Cheheltan 

Essay von Amir Hassan Cheheltan

Der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini im Gewahrsam iranischer Moralwächter hat seit zehn Tagen landesweit Zorn entfacht und zugleich Trauer erzeugt. Wie tief diese Trauer reicht, sei durch die Tatsache illustriert, dass einige Iranerinnen sich die Haare abgeschnitten, diese Protestaktion gefilmt und die Videos im Internet veröffentlicht haben. Im alten Iran galt das Abschneiden der Haare als Trauerritual. 

Mahsa war zweiundzwanzig Jahre jung. Zu Herbstbeginn mit ihrer Familie aus der Kleinstadt Saghez in der Provinz Kurdistan nach Teheran gekommen, wollte sie dort ein paar freie Tage verbringen. Die Hauptstadt wurde ihr auf grausamste Weise zum Verhängnis. Fotos von ihr lassen erkennen, dass Mahsa eine schöne junge Frau war. Gab ihre Schönheit den Sittenpolizisten Anlass, sie zu verhaften und einzuschüchtern? 

Sechs Personen – zwei Männer und eine Frau – waren an ihrer Festnahme beteiligt. "Ich bin fremd hier“, hatte Mahsa ihnen erklärt, "lassen Sie mich gehen.“ Doch ihre Bitte traf auf taube Ohren. Mahsa wurde in ein Fahrzeug des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung verfrachtet und in ein Gefängnis gebracht. Keine halbe Stunde nach ihrer Verhaftung, in deren Verlauf sie ohnmächtig wurde, brachte man sie ins Krankenhaus. Was geschah mit Mahsa in dieser grauenvollen Haftanstalt innerhalb von nur knapp dreißig verfluchten Minuten? 

"Mahsa, eine junge Kurdin, wegen Verstoßes gegen das Verschleierungsgebot auf offener Straße verhaftet, liegt in einem Krankenhaus im Koma.“ Diese Meldung verbreitete sich kurz nach ihrer Bekanntgabe blitzartig im Internet. Ein Mediziner, der Mahsa untersucht hatte, teilte kurze Zeit später mit, die junge Frau habe bei ihrer Einlieferung in die Klinik keinerlei Vitalfunktionen mehr gezeigt.

Auf den Straßen von Teheran protestieren die Menschen; Foto: AFP
Der Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini hat im ganzen Iran eine Welle von Protesten ausgelöst. Die Behörden reagierten mit weitreichenden Beschränkungen des ohnehin zensierten Internets. "Und doch strotzt das Internet vor Videos, die uns Zusammenstöße zwischen Polizisten und Demonstranten vor Augen führen: kurze von Bürgerinnen und Bürgern mit Handykameras aufgenommene Filmsequenzen, die zeigen, in welch verzweifelter Lage das bis an die Zähne bewaffnete Regime steckt,“ schreibt Amir Hassan Cheheltan. "Man muss die maßlose Polizeigewalt in Iran aber gar nicht unbedingt filmisch festhalten. Ein Volk von achtzig Millionen Menschen erlebt sie seit Jahrzehnten live.“ 

Eine heimliche Bestattung wurde verhindert 

Drei Tage nach ihrer Verhaftung war Mahsa tot. Die sterblichen Überreste wurden in ihre Geburtsstadt Saghez überführt. Weil sie Menschenansammlungen befürchteten, planten die Sicherheitskräfte, Mahsa abends oder nachts beerdigen zu lassen, was ihre Angehörigen jedoch nicht zuließen. Und so sperrte man am folgenden Morgen die Zufahrtsstraßen nach Saghez, um solidarische Trauergäste aus anderen Städten abzuwehren.

Landesweit forderten Ärzte ihre Teheraner Kollegenschaft auf, öffentlich zu erklären, was Mahsa wirklich widerfahren war. Doch die Regierung drohte den Radiologen, Neurologen, Neurochirurgen und Notfallmedizinern, die die junge Frau behandelt hatten, an, dass jeder, der eine medizinische Stellungnahme zu Mahsas Computertomographie abgebe, seine Approbation verlieren werde.

Einige Ärzte erhielten Morddrohungen. Eine gemeinsam mit Mahsa verhaftete Augenzeugin sagte, die Kurdin habe im Streifenwagen gegen ihre Festnahme protestiert und sei deshalb geschlagen worden. Augenzeugen in der Haftanstalt äußerten sich so: "Als Mahsa hierhergebracht wurde, ging es ihr sehr schlecht, sie war völlig entkräftet. Ihre Hilferufe blieben ungehört, und als wir ihr helfen wollten, haben sich die Beamten auf uns gestürzt und uns verprügelt. Dabei bekam auch Mahsa Schläge ab. Bis sie schließlich ohnmächtig zusammengebrochen ist.“ 

Die Regierung ließ nach Mahsas Tod verlauten, sie wäre herzkrank gewesen und einem Infarkt erlegen. Mahsas Vater widerspricht dieser Behauptung vehement: "Meiner Tochter hat nichts gefehlt. Sie wurde umgebracht.“ Und Mahsas Mutter sagt: "Sie haben meinen Engel ermordet.“ 

Ärzte, die in sozialen Medien verfügbare Fotos und Videos von Mahsa Amini geprüft haben, erklärten: Mit Blick auf die erkennbaren Verletzungen in Mahsas Gesicht und eingedenk der Tatsache, dass Blut aus ihrem Ohr austrat, könne keinesfalls nur Herzversagen der Grund für ihre Einlieferung in ein Hospital gewesen sein. Derartige Verletzungen deuteten vielmehr auf heftige körperliche Gewalteinwirkung hin. Unabhängige Ärzte, die die Cytoskopie von Mahsas Gehirn gesehen und Blut in ihrer Lunge festgestellt hatten, sehen darin den Beweis dafür, dass sie heftig auf den Kopf geschlagen worden sei, und widerlegten mit dieser Diagnose die offizielle Verlautbarung eindeutig. 

Eine Opferliste des Schreckens 

In Irans Gefängnissen finden seit vielen Jahren Menschen einen gewaltsamen Tod. Zahra Kasemi, eine iranisch-kanadische Fotojournalistin, wurde 2003 bei Studentenprotesten verhaftet, während sie vor dem berüchtigten Ewin-Gefängnis über eine Versammlung von Angehörigen dort inhaftierter Demonstranten berichtete. Während eines Verhörs wurde sie ermordet. Sie war auf Befehl der Teheraner Staatsanwaltschaft verhaftet worden.

 

Iran's security forces have been using unlawful force, killing dozens of people, and injuring hundreds more.



Hadis Najafi, 22, was killed on 21 Sept in Karaj after security forces fired birdshot at her in close range, hitting her in the face, neck & chest. #مهسا_امینی pic.twitter.com/Zn5TdJ0rOt

— Amnesty Iran (@AmnestyIran) September 26, 2022

 

Ein Mediziner in Diensten des iranischen Verteidigungsministeriums, der Zahra Kasemis Leichnam obduziert hatte, erklärte damals, ihr Tod sei durch heftige Schläge verursacht worden und aufgrund einer Schädelfraktur nebst Nasenbeinbruch eingetreten. Überdies sei sie vor ihrem Tod vergewaltigt worden. Dieser Arzt ging wenig später ins kanadische Exil. 

Ein weiteres Beispiel für den gewaltsamen Tod von Häftlingen iranischer Gefängnisse bieten die Ereignisse rund um Proteste gegen den Wahlbetrug im Jahr 2009, die damals auch in der Haftanstalt Kahrisak stattgefunden hatten. Dort verloren fünf Häftlinge ihr Leben. In der für zweihundert Insassen ausgelegten Einrichtung hielt man mehr als 920 Menschen gefangen. Nach Angaben des iranischen Berichterstatter-Komitees für Menschenrechte verweigerte man Häftlingen ihr Recht auf Hofgang; Toilettenbesuche waren nur einmal am Tag gestattet und die Essensrationen sehr klein.Gefangene wurden bei der Ankunft in Kahrisak mit Schlägen traktiert, jeder Insasse hatte weniger als einen Quadratmeter Platz zur Verfügung. Zuvor kaum bekannt, gelangte das Gefängnis nach Bekanntwerden der fünf Todesfälle weltweit zu zweifelhaftem Ruhm. Ein dort Inhaftierter schilderte, dass es vor der Folterung von Häftlingen üblich sei, ihre Körper zu benetzen, damit der durch Schläge mit Schläuchen oder Kabeln verursachte Schmerz tiefer ins Mark dringe. 

Die junge Ärztin Zahra Bani-Yaghoub ist ein weiteres Todesopfer des iranischen Gefängnissystems; sie starb in einer Haftanstalt in Hamadan. An einem Herbsttag des Jahres 2007 schlenderte Bani-Yaghoub, ins Gespräch mit ihrem Verlobten vertieft, durch einen Hamadaner Stadtpark, wurde dort von den paramilitärischen Basidsch-Milizen verhaftet und in Gewahrsam der örtlichen Staatsanwaltschaft übergeben. 48 Stunden später erfuhren ihre Angehörigen, die beim in Hamadan stationierten Militär vorstellig geworden waren, um sich nach Zahras Befinden zu erkundigen, von ihrem Tod. 

Auch der Tod des jungen regierungskritischen Bloggers Sattar Beheschti im Jahr 2012 machte weltweit Schlagzeilen. Beheschti starb nur vier Tage nach seiner Festnahme an Lungenblutungen, Leber-, Nieren- und Rückenmarksverletzungen. Als seine Angehörigen sich nach der Todesursache erkundigen, bekommen sie zu hören: "Klappe halten. Das geht Sie nichts an.“ 

Der prominente iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan; Foto: privat
Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, ist einer der bekanntesten iranischen Autoren der Gegenwart und ein scharfsinniger Beobachter des politischen Systems in seiner Heimat. "Seit 43 Jahren gehen Irans Frauen gegen den Schleierzwang und für ihre Rechte landesweit auf die Straßen und werden deshalb von der Polizei bekämpft,“ schreibt Cheheltan. "In Teheran fand der erste große Frauenmarsch gegen die erzwungene Verschleierung am 8. März 1979 statt, dem Internationalen Frauentag, nur zwei Wochen nach dem Sieg der Revolution. Auf die friedliche Versammlung wurden Schlägertrupps der gerade erst ins Amt gelangten islamischen Regierung gehetzt. Und das, obwohl unverschleierte Frauen Seite an Seite mit schleiertragenden eine Schlüsselrolle im Kampf für den Sturz des Schah-Regimes gespielt hatten.“ 

Angesichts dieser Faktenlage lässt sich zwar nicht verallgemeinern, dass alle Häftlinge in Iran gefoltert würden. Mit Sicherheit aber kann man sagen, dass all diese Gefangenen, die in iranischer Haft gestorben sind, infolge schwerster Folterungen den Tod fanden. Und so wird es auch im Fall von Mahsa Amini gewesen sein. 

Die Kontinuität des Kampfs der Frauen um ihre Rechte 

Seit 43 Jahren gehen Irans Frauen gegen den Schleierzwang und für ihre Rechte landesweit auf die Straßen und werden deshalb von der Polizei bekämpft. In Teheran fand der erste große Frauenmarsch gegen die erzwungene Verschleierung am 8. März 1979 statt, dem Internationalen Frauentag, nur zwei Wochen nach dem Sieg der Revolution. Auf die friedliche Versammlung wurden Schlägertrupps der gerade erst ins Amt gelangten islamischen Regierung gehetzt. Und das, obwohl unverschleierte Frauen Seite an Seite mit schleiertragenden eine Schlüsselrolle im Kampf für den Sturz des Schah-Regimes gespielt hatten. 

Seit Jahren nutzen immer mehr Menschen in Iran das Internet, und es vergeht kein Tag, an dem kein neues Video dort auftaucht, das Fälle von Mädchen und jungen Frauen dokumentiert, die man verhaftet, weil sie nach offizieller Lesart nicht ordnungsgemäß verschleiert sind. Oft zeigen diese kurzen Filme, wie überaus brutal Beamte bei der Festnahme von Frauen vorgehen. Nur in wenigen Fällen gelang es Umstehenden, potentielle Opfer aus den Fängen der Häscher zu befreien. 

Mahsa Aminis Verhaftung und Tod aber haben nun Unruhen und Empörung in einem bislang ungekannten Ausmaß ausgelöst. Die Todesnachricht war kaum bekannt geworden, da brach der auf Twitter stolz geteilte Hashtag #MahsaAmini mit zehn Millionen Retweets einen Rekord. Kurz darauf ging er um die ganze Welt, und Mahsas Konterfei wurde millionenfach gepostet. In Iran protestierten Frauen gegen den Tod der jungen Kurdin, indem sie auf offener Straße ihre Kopftücher abnahmen oder sogar in Brand steckten.

Zurzeit bebt es an vielen Universitäten, und Straßen im ganzen Land erzittern unter den festen Schritten derer, die sich gegen die herrschende Gewalt auflehnen. Künstlerinnen, Sportler und andere namhafte zivilgesellschaftliche Akteure haben wütend auf die staatliche Brutalität reagiert. Von außerhalb der Landesgrenzen verurteilten die kanadische Autorin Margaret Atwood und das palästinensisch-amerikanische Supermodel Bella Hadid den Tod von Mahsa, und die internationalen Nachrichtensendungen berichteten an prominenter Stelle über ihre Ermordung und die dadurch ausgelösten Unruhen im Land.

 

 

Mit ihren Parolen fordern die Demonstranten alle Teile der iranischen Regierung heraus. Diese bietet bei der Unterdrückung der Straßenproteste und der Unruhen an den Universitäten sämtliche Kräfte auf: neben Militär, Basidsch-Milizen und Beamten in Zivil sogar Scharfschützen, die in die Enge getriebene Protestierer ins Visier nehmen. Alle diese staatlichen Akteure sind auf dem Schauplatz präsent, etliche Demonstranten wurden verletzt oder ließen gar ihr Leben. Noch viel größer ist die Zahl der von den Einsatzkräften Festgenommenen. 

Manipulation am Video aus der Haftanstalt 

Unterdessen steht der ausgeklügelte Propaganda-Apparat der Regierung nicht still. Unter Hochbetrieb verbreitet er Falschmeldungen, Behauptungen, Gerüchte. Es hieß, Mahsa Amini hätte an Epilepsie, Lungen- und Hirnkomplikationen gelitten. Man gab sogar vor, sie hätte sich in jüngeren Jahren einer Gehirnoperation unterziehen müssen. Ihre Angehörigen weisen alle diese Behauptungen zurück. 

Das von den Verantwortlichen veröffentlichte bearbeitete Video von Mahsa in der Haftanstalt hat so gut wie niemanden überzeugt. Die Angehörigen der Toten forderten die zuständigen Stellen vergeblich dazu auf, ihnen die aus dem Video herausgeschnittenen Passagen auszuhändigen. Der kurze Film zeigt aber auch so, dass Mahsa den Vorschriften der Scharia gemäß gekleidet war. Deshalb behaupten die Verantwortlichen nun, sie hätte sich nach ihrer Verhaftung anders zurechtgemacht – eine absolut haltlose Behauptung. Die Beamten, die Mahsa festgenommen haben, hätten eigentlich Körperkameras tragen müssen, doch die hatten sie an diesem Tag nicht angelegt. 

Auf all diese Ungereimtheiten reagieren die Herrschenden in Iran, indem sie mal Internetverbindungen unterbrechen, dann wieder deren Geschwindigkeit reduzieren, weil sie es denen, die soziale Medien nutzen, schwer oder ganz unmöglich machen wollen, Informationen zu verbreiten. Und doch strotzt das Internet vor Videos, die uns Zusammenstöße zwischen Polizisten und Demonstranten vor Augen führen: kurze von Bürgerinnen und Bürgern mit Handykameras aufgenommene Filmsequenzen, die zeigen, in welch verzweifelter Lage das bis an die Zähne bewaffnete Regime steckt. 

Man muss die maßlose Polizeigewalt im Iran aber gar nicht unbedingt filmisch festhalten. Ein Volk von achtzig Millionen Menschen erlebt sie seit Jahrzehnten live. 

Amir Hassan Cheheltan  

© Franfurter Allgemeine Zeitung 2022

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich.  

 

Amir Hassan Cheheltanist Schriftsteller und lebt in Teheran. Sein jüngster Roman, "Eine Liebe in Kairo“, erschien zu Beginn des Jahres in deutscher Übersetzung bei C. H. Beck.