Zeitenwende im Iran und Angst vor Bürgerkrieg

Hamideh Mohagheghi, islamische Theologin und Juristin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für islamische Theologie und Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Sie wurde in Teheran geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Hannover. Bundesweit engagiert sie sich im interreligiösen und interkulturellen Dialog. Auch in diesem Jahr hat sie wieder an der Deutschen Islam Konferenz teilgenommen. Hamideh Mohagheghi hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Isl
Hamideh Mohagheghi, islamische Theologin und Juristin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für islamische Theologie und Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn. Sie wurde in Teheran geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Hannover. Bundesweit engagiert sie sich im interreligiösen und interkulturellen Dialog. Auch in diesem Jahr hat sie wieder an der Deutschen Islam Konferenz teilgenommen. Hamideh Mohagheghi hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Isl

Die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi (68) sieht den Iran im Gespräch mit der Katholischen Nahrichten-Agentur (KNA) vor einer möglichen Zeitenwende.

Wie lange halten die islamistischen Hardliner in Teheran ihr Volk noch im Griff? Menschenrechtler sprechen inzwischen von mehr als 450 getöteten Demonstranten seit Beginn der landesweiten Proteste Mitte September. Auslöser war der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini in einem Gefängnis der Sittenpolizei - verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht regelkonform trug. Die islamische Theologin Hamideh Mohagheghi (68) sieht den Iran im Gespräch mit der Katholischen Nahrichten-Agentur (KNA) vor einer möglichen Zeitenwende. Doch bislang fehlten der Opposition charismatische Führungsfiguren. Als größte Gefahr befürchtet die Deutsch-Iranerin von der Universität Paderborn einen Bürgerkrieg.



Frau Mohagheghi, die Lage im Iran erscheint diffus. Offenbar gehen die landesweiten Proteste weiter, doch das Regime scheint fest im Sattel zu sitzen.



Hamideh Mohagheghi: Die iranische Gesellschaft ist gespalten. Noch nie haben so viele Menschen ihre Wut auf das System im ganzen Land auf die Straße getragen. Besonders Frauen fordern ihre Rechte jetzt mutiger denn je. Viele gebildete Iranerinnen und Iraner demonstrieren; aber der Protest kommt auch aus der Breite der Bevölkerung, auch aus den unteren Schichten. Immer mehr Menschen wollen nicht mehr unter Polizeiwillkür und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit leiden, während sich die Herrschenden bereichern und dabei von der sozialen Gerechtigkeit des Islam reden.



Dennoch ist die Gesellschaft gespalten?



Mohagheghi: Das System hat weiter eine starke Basis in der Bevölkerung: nicht nur die Revolutionsgarde, die auch die Wirtschaft kontrolliert, oder die Basidsch-Miliz, junge Männer, die bei der Niederschlagung der Proteste vor nichts zurückschrecken. Millionen Menschen, die unter Armut leiden, geben sich mit kleinen staatlichen Hilfen zufrieden und lassen ihre Stimme kaufen. Ihre Armut halten sie für eine Eintrittskarte ins Paradies und hoffen auf die Rückkehr des verborgenen 12. Imams. Mit simplen Heilsversprechen und antiwestlicher Propaganda werden sie manipuliert.



Gibt es Hoffnung für die tolerantere Seite des schiitischen Islam, der jahrhundertelang eine Tradition von Vernunft und geistiger Offenheit hochhielt?



Mohagheghi: Mehr denn je. Womit wir wieder bei der anderen Seite der iranischen Gesellschaft sind, die auch in die Millionen geht. Die Proteste entzündeten sich ja diesmal nicht etwa an Wahlbetrug wie 2009 oder wirtschaftlicher Not wie 2019, sondern ganz konkret am Kopftuchzwang. Im Koran ist die weibliche Bedeckung lediglich eine Empfehlung, keine Pflicht. Viele Iranerinnen und Iraner wollen keinen Islam mehr, der von Konformität und Regeln besessen ist.



Hier hat das System genau das Gegenteil von dem erreicht, was es wollte. Viele religiöse Menschen haben sich von einem Glauben entfernt, der sich ständig in einzelne Bereiche des Lebens einmischt, die nichts mit dem Glauben zu tun haben, und finden neue Wege der Spiritualität. Das darf man nicht mit Religionsfeindlichkeit verwechseln. Der spirituelle Islam ist in der Bevölkerung tief verankert, auch in der oppositionellen Jugend.



Wie reagiert der schiitische Klerus auf diese Herausforderung? Führt sie nicht zu einem Nachdenken?



Mohagheghi: Der Klerus denkt keineswegs homogen. Das zeigte sich schon früher, als namhafte Gelehrte das Konzept einer "Herrschaft der Rechtsgelehrten" für unzulässig erklärten. Vor kurzem haben Kleriker in Isfahan und Qom die harte Linie des Systems gegen die Proteste kritisiert. Die politische Macht des Klerus war ein Novum im schiitischen Islam, als Ayatollah Khomeini das staatliche Konzept der "Velayat-e Faqih" etablierte, der Herrschaft der Rechtsgelehrten. Damals war allerdings eindeutig die Rede davon, dass das Volk diese Herrschaft auch akzeptiert.



Welche Erfolgsaussichten haben die Proteste?



Mohagheghi: Der Staat geht bislang mit aller Gewalt vor. Solange die Revolutionsgarde und die Basidsch-Miliz die Menschen nicht unterstützen, kann es keine wirkliche Veränderung geben. Möglicherweise fehlen der Opposition charismatische Anführer, die den Widerstand formieren. Allerdings wäre ein Bürgerkrieg katastrophal und würde die ohnehin instabilen Verhältnisse im Iran weiter verschlimmern. Die schon erfolgte Bombardierung kurdischer Gebiete zeigt, was für brutale Zustände dann zu erwarten wären.



Wie sollte der Westen reagieren? Bisher hat man den Eindruck, außer den üblichen Appellen geschieht nichts.



Mohagheghi: Vor allem darf er sich nicht militärisch einmischen und die Lage eskalieren. Auch von weiteren Sanktionen halte ich nichts. Damit trifft man eher Menschen, die sowieso nicht wissen, wie sie die hohen Preise für Nahrung, Unterkunft und Medikamente bezahlen sollen. Sanktionen treffen die Menschen, die gerade auf die Straße gehen. Am besten hilft man ihnen, indem man in der Welt die Stimme der Proteste nicht verstummen lässt. (KNA)

 

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