In Bagdad spricht die Straße

Politischer Stillstand treibt wieder tausende Iraker zum Tahrir-Platz. Sie wollen erneute Wahlen, doch das Parlament will sich nicht auflösen. Die Volksvertreter werden nun vor dem Volk geschützt. Von Birgit Svensson aus Bagdad

Von Birgit Svensson

Immer wenn das Parlament in Bagdad tagt, werden die Brücken über den Tigris gesperrt und der Verkehr in der irakischen Hauptstadt erleidet einen Infarkt. Termine werden abgesagt oder verschoben und viele Beamte bleiben zuhause mit der Maßgabe, sie könnten ohnehin nicht vom einen ans andere Ufer gelangen. Das geht nun schon seit Juli so, seitdem Anhänger des einflussreichen schiitischen Geistlichen Moktada al-Sadr gleich zwei Mal ins Parlament eindrangen und es tagelang besetzt hielten.



Sie demonstrierten gegen die Nominierung eines Politikers zum Premierminister, den sie nicht mittragen wollen. Inzwischen hat al-Sadr seine Abgeordneten aus dem Parlament abgezogen und sich, wie er sagt, aus der Politik zurückgezogen. Doch die Proteste gehen weiter. Eine Regierung ist auch ein Jahr nach den vorgezogenen Neuwahlen nicht in Sicht – mit oder ohne Sadristen im Parlament.

Seit Anfang Oktober nun sind nicht nur die Anhänger al-Sadrs auf den Straßen Bagdads, sondern auch die Teshreenies. Teshreen heißt auf Arabisch Oktober und Tausende wollen an die Massendemonstrationen erinnern, die vor drei Jahren im Oktober im ganzen Land begannen und Oktoberrevolution genannt wurden. Jetzt soll die Protestbewegung weitergehen, nach zwei Jahren Pause. Zunächst stehen Sadristen und Teshreenies getrennt am Tahrir-Platz, die einen in der linken Ecke, die anderen in der rechten.

Doch je länger sich die Proteste hinziehen, desto mehr rücken sie zusammen, denn sie haben irgendwie alle die gleichen Forderungen. "Wir wollen Sicherheit, Jobs und unsere Bürgerrechte“, haben sie auf große Poster geschrieben. Fahnen mit diesem Slogan tragen immer auch Fotos von denen, die 2019 und 2020 bei den Protesten ums Leben kamen.

Protestierende auf dem Tahrir-Platz in Bagdad; Foto: Birgit Svensson
Nach zwei Jahren Pause soll die Protestbewegung jetzt weitergehen. Seit Anfang Oktober nun sind nicht nur die Anhänger al-Sadrs auf den Straßen Bagdads, sondern auch die Teshreenies. Teshreen heißt auf Arabisch Oktober und Tausende wollen an die Massendemonstrationen erinnern, die vor drei Jahren im Oktober im ganzen Land begannen und Oktoberrevolution genannt wurden. Zunächst stehen Sadristen und Teshreenies getrennt am Tahrir-Platz, die einen in der linken Ecke, die anderen in der rechten. Doch je länger sich die Proteste hinziehen, desto mehr rücken sie zusammen, denn sie haben irgendwie alle die gleichen Forderungen. "Wir wollen Sicherheit, Jobs und unsere Bürgerrechte“, haben sie auf große Poster geschrieben.

Politische Teilhabe und eine bessere Zukunft

Und das waren sowohl Sadrs Leute als auch Teshreenies, zumeist junge Irakerinnen und Iraker aus allen Schichten der Gesellschaft, die politische Teilhabe und eine bessere Zukunft forderten. Offizielle Zahlen sprechen von 600 Toten, die Teshreenies sprechen von weit über Tausend. Der Aufmarsch jetzt in Bagdad soll nur der Auftakt zu weiteren Protesten sein, die sich in diesem Monat ausweiten würden. Soviel stünde fest, sagt Alaa, der 32-jährige Bagdader, der schon vor drei Jahren dabei war.

In der Zwischenzeit wechselte die Regierung, ein neues Wahlgesetz wurde verabschiedet und Neuwahlen abgehalten. Die ersten Forderungen der Protestbewegung erfüllten sich. Die Teshreenis zogen sich zurück, tauchten unter, verließen das Land oder wurden getötet. Zu viele seien bei den Protesten ums Leben gekommen, sagt Alaa. "Sie taten alles, um unsere Revolution zu ersticken, uns zum Schweigen zu bringen.“ Es sollte keine Veränderung des politischen Systems geben, wie es die Demonstranten gefordert haben, ein Umbau der Machtverhältnisse, für Mehrheiten, die durch Wahlen zustande kommen und nicht durch Proporz und Klientelpolitik.



Die Wahlergebnisse vom letzten Oktober deuten in diese Richtung. Sieger wurde der schiitische Kleriker Moktada al-Sadr, der sich die Slogans der Oktoberrevolution zunutze gemacht hatte. Auch einige Teshreenis erhielten Direktmandate für die Volksvertretung. Doch es reichte nicht. Eine Koalition musste gefunden werden. "Und dann ging der Ärger los“, kommentiert Alaa das Hickhack der letzten Monate. "Ein Jahr lang drehen sie sich nun schon im Kreis und nichts passiert.“

Steine fliegen, Gummigeschosse; Tränengas breitet sich über dem Tahrir-Platz aus. Eine Mörsergranate explodiert auf der anderen Seite des Tigris, wo sich die Regierungsgebäude befinden und das Parlament, auf das so viele Demonstranten wütend sind. Denn die einzige Lösung, die aus der Sackgasse führen könnte, wäre die Auflösung der "unfähigen“ Volksvertretung und erneute Wahlen. Doch das Parlament will sich nicht auflösen. Der Streit unter den Abgeordneten nimmt kein Ende.

Alaa aus Bagdad demonstriert mit seiner Fahne auf dem Tahrir-Platz: Foto: Birgit Svensson
Alaa, 32 Jahre alt, war schon bei der Protesten in 2019 auf dem Tahrir-Platz dabei. Jetzt steht er wieder mit seiner Fahne dort. In der Zwischenzeit wechselte die Regierung, ein neues Wahlgesetz wurde verabschiedet und Neuwahlen abgehalten. Die ersten Forderungen der Protestbewegung erfüllten sich. Die Wahlergebnisse letzten Oktober deuteten in diese Richtung. Sieger wurde der schiitische Kleriker Moktada al-Sadr, der sich die Slogans der Oktoberrevolution zunutze gemacht hatte. Auch einige Teshreenis erhielten Direktmandate für die Volksvertretung. Doch es reichte nicht. Eine Koalition musste gefunden werden. "Und dann ging der Ärger los“, kommentiert Alaa das Hickhack der letzten Monate. "Ein Jahr lang drehen die sich nun schon im Kreis und nichts passiert.“

"Ich stehe wieder hier. Ich kann nicht anders"

Aus Frust darüber hat sich Wahlsieger al-Sadr zurückgezogen, seine Parlamentarier abberufen. Zurück blieben diejenigen, die keine Reformen wollen und für ein "weiter so“ plädieren. "Jetzt wird die Straße sprechen“, rief Sadr seinen Gegnern beim Rückzug noch zu. So ist es gekommen. Und nun schützt man die Volksvertreter vor dem Volk. Premierminister Mustafa al-Kadhimi hat zur Besonnenheit aufgerufen. Die irakische Verfassung gebe jedem Iraker und jeder Irakerin das Recht, friedlich zu demonstrieren, doch müsse er die Sicherheitskräfte einsetzen, wenn es zu Gewalt käme, steht in einem Statement seines Büros, das in allen Medien gezeigt wird.

"Wir wollen den Sturz des Regimes“, schreien einige Frauen kurz vor Anbruch der Dämmerung, so wie sie es vor zwei Jahren schon gerufen haben. Und so wie sie vor zwei Jahren die Proteste unterbrochen haben, geht es jetzt weiter: Basra, Diwanija, Nasserija, Babylon, überall gibt es Demonstrationen. "Wir gehen nicht, so lange bis alle unsere Forderungen erfüllt sind, wir wollen eine Zukunft!“ Am 25. Oktober soll es die nächste Großdemonstration geben.

Khaled hat Angst. Seine Augen wandern hin und her, suchen den ganzen Platz ab. Schiitische Milizionäre hätten ihn vor zwei Jahren verschleppt, ihm die Augen verbunden und zehn Tage lang in ein Verließ gesteckt, von dem der Bagdader nicht weiß, wo es war. Es roch nach Erde, konnte also nicht unmittelbar in der Stadt gewesen sein, vermutet er. Das Handy wurde abgenommen und die Nummern darauf angerufen.



Von seiner Familie hätten die Kidnapper Lösegeld verlangt, zuerst eine Unsumme, schließlich eine Million irakische Dinar (etwa 700 Euro), nachdem sein Bruder beteuerte, sie hätten nicht mehr Geld. Als Khaled irgendwo in Bagdad freigelassen wurde, fühlte er sich wie ein alter Mann, der sein Leben schon hinter sich hat. "Doch jetzt stehe ich wieder hier“, sagt der 28-Jährige aufrecht, "ich kann nicht anders“. Irgendwann müsse es doch mal besser werden.

Am Rande der Proteste am Tahrir-Platz steht eine kleine, schlanke, ganz in Schwarz gehüllte Frau mit leeren Augen. "Meine Tochter ist hier vor zwei Jahren getötet worden“, sagt sie mit leiser Stimme. Sie sei Medizinstudentin gewesen und habe die Verletzten versorgt. Ein Gummigeschoss hätte sie an der Schläfe getroffen. "Sie war sofort tot.“ Nun ist die Mutter hier, um ihrer Tochter nahe zu sein. Das Bitterste für sie ist, dass niemand für die getöteten Teshreenies zur Rechenschaft gezogen wurde, die "Killer“ ungestraft blieben. Bis jetzt gab es am Tahrir keine Toten, 86 Menschen wurden zumeist nur leicht verletzt.

Birgit Svensson

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