Radikalisierung auf Augenhöhe bekämpfen

In einer Kölner Initiative setzen sich junge Menschen - die meisten mit Migrationshintergrund - gegen Fanatismus ein. Sie leben selbst im Milieu der Jugendlichen und begegnen ihnen so als Gleichgesinnte. Nina Niebergall hat die Initiative besucht.

Von Nina Niebergall

Mourad will nur kurz im Büro der Initiative 180-Grad-Wende in Köln-Kalk vorbeischauen. Über seinem Polohemd trägt er eine schwarze Lederjacke, seine Haare sind ordentlich gescheitelt, der Bart gestutzt. Als er anfängt von seinen Erfahrungen auf dem Kölner Arbeitsamt und einigen Bewerbungsgesprächen zu erzählen, wirkt er kurz unsicher. "Irgendwie wurden mir immer alle Türen geschlossen", sagt er dann. "Ich habe keine Lösung gefunden." Diese Perspektivlosigkeit wollten schon einmal andere Menschen ausnutzen, erinnert sich der 22-Jährige. "Man weiß nicht, wer gut und wer schlecht ist."

Der Leiter der Initiative, Mimoun Berrissoun, hat seit der Gründung des Projekts 180-Grad-Wende im Jahr 2012 hunderte von Jugendlichen in ähnlichen Situationen erlebt. Es seien immer die gleichen Gründe, die dazu führten, dass junge Menschen sich radikalisierten, sagt der 30-jährige Sozialwissenschaftler. "Sie geraten auf die schiefe Bahn, wenn es in ihrem Leben nicht mehr weitergeht", erzählt er. Sie fänden in der Schule den Anschluss nicht mehr, seien beschäftigungslos oder gingen "irgendwo in einem Hochhausviertel unter".

Aus eigener Erfahrung

Vor knapp fünf Jahren fühlte sich Berrissoun angesichts solcher Geschichten so machtlos, dass er beschloss, etwas dagegen zu unternehmen. Denn, so sagt er: "Bei uns läuft es ja." Mit "uns" meint er Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland integriert und beruflich erfolgreich sind. Denn Berrissoun ist selbst Kind marokkanischer Gastarbeiter. Er ist in Kalk aufgewachsen, dem Kölner Stadtviertel, in dem sich das Büro der 180-Grad-Wende befindet - und wo der Ausländeranteil bei über 40 Prozent liegt.

Mimoun Berrissoun vor der Geschäftsstelle von 180 Grad in Köln- Kalk; Foto: N.Niebergall
"Wenn junge Menschen erfolgreich sind, kommen sie nicht auf die Idee, sich zu radikalisieren oder kriminell zu werden", sagt der 30-jährige Mimoun Barrissoun, Leiter der Hilfsinitiative „180-Grad-Wende“. Er und sein Team möchten nicht „mit erhobenen Zeigefinger“ belehren, sondern auf Jugendliche zugehen und mit ihnen gemeinsam Lösungen diskutieren und neue Perspektiven aufzeigen.

Berrissoun redet oft von "uns", wenn er über die Probleme junger Migranten spricht. Seine Mitarbeiter und die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer wollen den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen, sagt er. Die 180-Grad-Wende verfügt über ein Netzwerk von Schülern, Auszubildenden und anderen jungen Menschen verschiedener Nationalitäten, die sich im Umfeld potenziell gefährdeter Jugendlicher bewegen - in ihren Fußballteams, Moscheen und Jugendzentren. Sie seien daher mit den Problemen, dem Lebensstil und der Sprache der Zielgruppe vertraut, erklärt Berrissoun. "Das macht sie authentisch."

In einer Ausbildung werden die sogenannten Multiplikatoren für Radikalisierungsanzeichen bei Jugendlichen sensibilisiert: Schaut jemand gewaltverherrlichende Videos? Benutzt die Person eine andere Sprache? Nimmt sie bestimmte Drogen? Stellt ein Multiplikator derartige Veränderungen fest, kann er frühzeitig eingreifen.

Diesen Anspruch hat auch Alparslan Korkmaz. Der 22-jährige Student ist sogenannter Junior-Coach bei der 180-Grad-Wende und hilft anderen jungen Menschen, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. Einer von ihnen ist Harun Tunca. Der Schüler schreibt Bewerbungen für die Zeit nach seinem Abitur. Er komme nicht aus einer Akademiker-Familie, erzählt er, und sei daher dankbar für die Hilfe, die er von der Initiative bekomme. Alparslan und Harun verbringen heute den ganzen Nachmittag zusammen. Sie lassen sich Zeit, reden auch über andere Dinge.

Im System untergegangen?

"Lebenslauf-Tage" nennt Mimoun Berrissoun solche Tage, an denen Jugendliche wie Harun in das Büro der 180-Grad-Wende kommen, um sich bei ihren Bewerbungen helfen zu lassen. Auch das ist Teil der Präventivarbeit. Die Jugendlichen könnten zwar auch staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, aber "die Frage ist, ob sie von diesem Hilfssystem erreicht werden", sagt der Leiter der Initiative.

Mourad ist einer derjenigen, die sich oft unverstanden gefühlt haben. Überall habe man ihn "in einen Topf mit anderen geworfen" und eine Person in ihm gesehen, die nicht nach Deutschland gehöre. "Das bin ich gar nicht", widerspricht der 22-Jährige. "Ich bin in Deutschland geboren und fühle mich als Deutscher, aber ich bin ein Mensch aus zwei Kulturen."

Sozialwissenschaftler Berrissoun weiß, wovon sein Schützling spricht. Früher habe man oft über "den Türken" oder "den Marokkaner" geredet, heute heiße es "der Muslim", sagt er. Die gesellschaftliche Debatte gehe nicht an der Gruppe vorbei, über die sie geführt wird, ist sich Berrissoun sicher, insbesondere nicht an jungen Leuten, die hier aufgewachsen seien. Wenn sich die Jugendlichen von der Gesellschaft abwenden, sei das häufig eine Trotzreaktion. Radikale Gruppen hätten dann leichtes Spiel, indem sie signalisierten: Du gehörst zu uns.

Strategien gegen salafistische Bauernfänger

Am Nachmittag wird Berrissoun zu einem Gespräch gerufen. Ein ehrenamtlicher Helfer hat ein Problem mit einem Jugendlichen, der in die salafistische Szene abgerutscht ist. Das Thema ist sensibel, der Name des Jungen muss anonym bleiben. Berrissoun und der ehrenamtliche Helfer hören sich den Radiokanal an, über den der Jugendliche sich informiert. Zwei Prediger senden direkt aus Saudi-Arabien. Die Inhalte seien zwar religiös-konservativ, stellten jedoch keinen Aufruf zur Gewalt dar, erklärt Berrissoun. So distanzieren sich die Radio-Prediger etwa von der Terrormiliz "Islamischer Staat". "Das ist das kleinere Übel", sagt Berrissoun.

Trotzdem: die Mitarbeiter der 180-Grad-Wende wollen dran bleiben, und den Jungen in eine Gesprächsgruppe mit anderen Jugendlichen integrieren, die ähnlich sprechen und sich ähnlich kleiden - aber dennoch alternative Lebensformen für sich gefunden haben.Die 180-Grad-Wende ist auf ehrenamtliche Helfer angewiesen, nur ein paar feste Mitarbeiter kann sich die Initiative leisten. "Wir könnten noch viel mehr machen, wenn wir mehr Ressourcen hätten", meint Berrissoun.

Mimoun Barrissoun mit zwei Multiplikatoren in der Geschäftsstelle von "180-Grad-Wende" in Köln-Kalk;Foto:DW/M.Smajic
Ein Projekt, das bereits Schule macht: Immer mehr Jugendliche engagieren sich als Multiplikatoren bei „180-Grad-Wende“. Seit 2012 wurden über 200 Multiplikationen geschult. Darunter sind auch Jugendliche, die zuvor selber Hilfe der Initiative erhielten. „Sie stehen als Teil des Netzwerkes unter Schutz und tragen Verantwortung,“ sagt Barrissou. Zu den Aufgaben der Multiplikatoren gehört es Symptome von Radikalisierung und Kriminalität in ihren Umfeldern zu beobachten - und das Gespräch zu suchen.

Er stellt sich ein Netzwerk vor, das sich über ganz Nordrhein-Westfalen erstreckt. In einigen Städten wie in Bonn oder Leverkusen läuft das Projekt schon. Unterstützt wird Berrissoun dabei sogar vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan. Dessen Stiftung fördert die Arbeit der 180-Grad-Wende - und verhilft ihr zu mehr Bekanntheit.

Der Sozialwissenschaftler Berrisoun strahlt Optimismus und unerschöpfliche Motivation aus. Dennoch wünscht er sich mehr Entgegenkommen untereinander: Muslime müssten ein Zeichen gegen Terror und Radikalisierung setzen, sagt er. Umgekehrt fordert er die deutsche Gesellschaft auf, sich noch entschiedener gegen Ausgrenzung einzusetzen.

Der 22-jährige Mourad fühlt sich besser aufgehoben in Deutschland, seit er von der Kölner Initiative unterstützt wird. Gerade macht er ein Praktikum, das ihn auf eine Ausbildung vorbereiten soll. Nun will er die Hilfe, die er erhalten hat, selbst als Ehrenamtlicher für die 180-Grad-Wende weitergeben.

Nina Niebergall

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