Ein Land in der Zwickmühle

Die Ergebnisse des ersten Wahlgangs der Präsidentschaftswahlen haben dem Traum vom tiefgreifenden Wandel in Ägyptern einen herben Dämpfer verpasst, denn in der zweiten Runde stehen sich die gleichen Kräfte gegenüber wie vor der Revolution des 25. Januar: Muslimbrüder und Vertreter des alten Regimes. Ein Essay von Hassan Nafaa

Es wäre wohl völlig absurd anzunehmen, dass das Ergebnis des ersten Wahlgangs der ägyptischen Präsidentschaftswahlen, das den Ägyptern nunmehr nur die Wahl zwischen zwei Übeln lässt, zufällig aus fairen Wahlen mit einem freien Wettbewerb und einer unparteiischen, zuverlässigen Wahlorganisation hervorgegangen ist.

Und weil es rational betrachtet völlig undenkbar ist, dass Ägypten ohne die im Hintergrund geschmiedeten Ränke wieder zum Status Quo vor der Revolution zurückkehrt, stellt sich die Frage was zu dem gegenwärtigen Dilemma geführt hat.

Das momentane Dilemma in Ägypten ist die unmittelbare Folge der heftig geführten Auseinandersetzung zwischen dem Obersten Militärrat der Streitkräfte und den Muslimbrüdern um die Kontrolle über eine Bürgerrevolution, die beide Akteure zwar überraschte, ihnen aber gleichzeitig Chancen eröffnete, die beide auf ihre eigene Weise nutzen.

Ahmed Shafik; Foto: AP
"Sollte Ahmed Shafik die Stichwahl gewinnen, bedeutet dies das Ende der Revolution und die Restauration des alten Regimes in neuem Gewand", warnt der ägyptische Politikwissenschaftler Nafaa.

​​Ebenso wie die Revolution dem Obersten Militär Rat die Möglichkeit geboten hat, die "Erbfolge Mubarak" zu durchbrechen und die planlose Politik seines Regimes neu zu strukturieren, so hat sie den Muslimbrüdern zum ersten Mal überhaupt seit ihrer Gründung 1928 die Chance eröffnet, an die Macht zu kommen und die Gesellschaft ihren islamischen Vorstellungen gemäß zu gestalten.

Und weil beiden Seiten jedes ihnen zur Verfügung stehende Mittel recht ist, um ihr Ziel zu erreichen, war zu erwarten, dass die hitzige Auseinandersetzung zwischen ihnen in die exakt gleiche Klemme führen musste, in die sie Ägypten bereits in der Vergangenheit gebracht hatten. Und diese lässt sich kurzum auf folgende Formel bringen: Entweder gibt man sich damit geschlagen, in alle Ewigkeit unter einem korrupten, despotischen Regime zu leben oder man lässt die Dominanz der Muslimbrüder zu und ebnet damit den Weg für einen ihren Vorstellungen entsprechenden religiösen Staat.

Parteiische Wahlkommission

Weder Mursi noch Shafik hätten jemals die zweite Runde erreicht, hätte nicht einerseits die Wahlkommission mitgemischt und andererseits die Muslimbrüder darauf bestanden, die einzigen und wahren Erben der Revolution zu sein.

Hätte nämlich die Wahlkommission das Gesetz richtig angewendet, hätte sie Shafik von der Kandidatenliste von vornherein ausschließen müssen, denn seine Kandidatur fällt unter die Bestimmungen des Gesetzes über das Ausscheiden früherer Regimeangehöriger aus dem politischen Leben (Gesetz über die Ausübung politischer Rechte).

Und weil ebendieses Gesetz, und sei es auch aus verfassungsrechtlicher Sicht mit Mängeln behaftet, weiter in Kraft bleibt, bis das Oberste Verfassungsgericht seine Verfassungswidrigkeit bescheidet, war die Wiederzulassung Ahmed Shafiks als Kandidat ein gewollter Rechtsbruch, der belegt, wie parteiisch und voreingenommen die Kommission ist.

Protest von Aktivisten der Revolution vom 25. Januar 2011; Foto: Viktoria Kleber/DW
Aufstand der Revolutionäre gegen die Vertreter des politischen Islam und des alten Regimes: "Liberale und linke Kräfte, die mit der Revolution ganz besonders eng verbunden sind, halten es für nicht unwahrscheinlich, dass sich Militärrat und Muslimbruderschaft gar verschworen haben, um einer wirklich demokratischen Revolution den Garaus zu machen", schreibt Nafaa.

​​Und hätten die Muslimbrüder nicht die Macht für sich allein beanspruchen wollen, hätten sie sich auch an ihre ursprüngliche Entscheidung gehalten, gar keinen Kandidaten aufzustellen. Stattdessen hätten sie sich dann mit den revolutionären Kräften zusammengetan – und nicht mit dem Militärrat, um einen Konsens-Kandidaten zu ermitteln.

Spekulation im Vorfeld der Wahl

Außerdem war es natürlich im Interesse beider beteiligter Seiten, ebendiese Endrunde so herbeizuführen, dass sie aus ihrer Sicht leichtes Spiel haben. Die Muslimbrüder glauben nämlich, dass ihnen angesichts eines Mannes des alten Regimes als Gegner der Sieg in der Präsidentschaftswahl schon sicher ist, während der Militärrat wähnt, nur dann obsiegen zu können, wenn der Gegner die Muslimbrüder sind.

Es ist glasklar: Ägypten steckt in einer Zwickmühle, aus der bisher keiner wieder heraus weiß.

Sollte Shafik gewinnen, bedeutet dies nur eins: Das Ende der Revolution und die Restauration des alten Regimes in neuem Gewand. Und sollte Mursi gewinnen, würde dies heißen, dass die Geschicke des Landes in Zukunft von der geistlichen Führung und einer sehr eng umgrenzten Elite der Muslimbrüder, nicht vom Präsidentenpalast aus und von weiter gefassten gesamtägyptischen Eliten gelenkt würden.

Hamdeen Sabahi; Foto: dpa
Hamdeen Sabahi, politischer Hoffnungsträger der Liberalen, Linken und Nationalisten: "Die Ägypter wollen eine demokratische Alternative!"

​​Während der Militärrat auf die abschreckende Wirkung der Angst vor den Muslimbrüdern und das Misstrauen gegenüber ihren Wahlversprechen setzt, zählen die Muslimbrüder auf den Hass des Volkes auf das alte Regime sowie auf die Schwäche und Uneinigkeit der anderen politischen Kräfte – insbesondere der Liberalen und Linken –, um das Erbe der Revolution im Alleingang antreten und so alle Schlüssel zur Macht in Händen halten zu können.

Dabei belegen die Ergebnisse des ersten Wahlgangs eigentlich vor allem ganz zweifelsfrei, dass die Ägypter weder den Kandidaten der Muslimbrüder noch den des Militärrats wollen, erhielten doch Abul Fotouh und Sabahi fast die doppelte Stimmenzahl.

Es zeichnet sich also durchaus eine Lösungsmöglichkeit ab, nämlich die Neuformierung dieser dritten Strömung als Herz und Kopf der Revolution. Allen Beteiligten muss klar sein, dass niemand in Zukunft Ägypten regieren können wird ohne diese Strömung – allerdings unter der Voraussetzung, dass sie sich zu einer wohl organisierten politischen Kraft etabliert und sich eine umsichtige Führung sucht.

Hassan Nafaa

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas

© Qantara.de 2012

Hassan Nafaa ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kairo

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de