Im Griff des Regimes

Wie lang kann die Al-Azhar-Universität noch über die orthodoxe islamische Lehre wachen, Sisis Kontrollversuche abwehren und gleichzeitig den Einfluss der Golfstaaten zurückdrängen? Antworten von Muhammed Nafih Wafy

Von Muhammed Nafih Wafy

Anfang diesen Jahres hat die ägyptische Al-Azhar-Universität, weltweit führende Autorität des sunnitischen Islam, eine internationale Konferenz zur „Erneuerung des islamischen Denkens“ ausgerichtet. Abdul Fattah al-Sisi, der autoritäre Präsident des Landes, propagiert diesen Ansatz bereits seit 2015 als Mittel gegen die Verbreitung des politischen Islam.

Aber die zweitägige Konferenz, an der Delegierte und Gelehrte aus 46 Ländern teilnahmen, endete in einem Fiasko; es gab viel Streit und wenig Substanz.

Dabei gerieten vor allem zwei prominente Wissenschaftler aneinander, die sich über die Form, die Methoden und den eigentlichen Zweck der Reformen uneins waren: Al-Azhars Großimam Ahmed al-Tayeb, seit der Mubarak-Ära ein loyaler Gefolgsmann der Elite und ein eingefleischter Gegner des politischen Islam, und Mohamed al-Khosht, der Präsident der Cairo University. Tayeb hat dabei Khoshts Vorschlag, eine neue Schule islamischen Denkens zu entwickeln, die sich vom islamischen Erbe und der traditionellen Lehre loslösen soll, strikt abgelehnt.

Ein versteckter Angriff auf Präsident Sisi

Unter dem tosenden Beifall des Publikums, das aus vor allem aus Tayebs Schülern und leitenden Mitarbeitern der Al-Azhar-Universität bestand, kritisierte der Großimam Khoshts „Unverfrorenheit“ und forderte „eine Erneuerung, die von den Schätzen der Religion profitiert und sie als Richtschnur für die Zukunft verwendet“.

Tayebs Kritik an Mohamed al-Khosht, der Sisi sehr nahe stehen soll, wurde weithin als versteckter Angriff auf den Präsidenten selbst interpretiert, der seine Kontrolle über Staat und Gesellschaft in Ägypten – Medien, Bildungs- und Kulturinstitutionen – gefestigt hat und nun versucht, auch die religiöse Debatte im Land zu bestimmen.

Die Konferenz im Januar und die anhaltende mediale Debatte über sie haben das  bereits seit fünf Jahren schwelende, zunehmende Misstrauen zwischen den ehemaligen Partnern deutlich gemacht. Die Al-Azhar-Universität, die 2013 bei Sisis Putsch gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens fest zu ihm stand, sieht nun die von Präsident al-Sisi angestrebte „Reform des religiösen Diskurses“ als einen Vorwand, um die Universität vollständig unter seine Kontrolle zu bringen.

Da Al-Azhar eine in Ägypten und in der ganzen muslimischen Welt geschätzte, moderate Einrichtung ist, haben das Regime und seine Institutionen bei ihrem Versuch, die Gelehrten der Universität zu kontrollieren, zunächst subtile Mittel verwendet.

Aber der Konflikt zwischen beiden Seiten kochte mehrfach hoch. Al-Sisi warf der Universität vor, Extremismus zu verbreiten und die Grundlagen des Islam falsch zu interpretieren. Einmal ging der Präsident sogar so weit zu sagen, er habe genug von Tayeb. Die Regierung hat sogar schon die Veröffentlichung offizieller Verlautbarungen der Al-Azhar verboten.Al-Azhar und das Reformdenken in Ägypten

Debatten über die Reform des islamischen Denkens sind in Ägypten nichts Neues. In den letzten 150 Jahren gab es eine Vielzahl einflussreicher und auch umstrittener muslimischer Reformdenker – von den Modernisierern Muhammad Abduh und Mahmoud Shaltut (während der Nasser-Jahre selbst Großimam von Al-Azhar) über Erweckungsprediger wie Hassan Al-Banna und Sayyid Qutub bis hin zu Bilderstürmern wie Muhammad Tawfiq Sidqi und Nasr Hamid Abu Zaid.

Die Al-Azhar selbst blieb allerdings während ihrer gesamten turbulenten Geschichte relativ immun gegenüber Reformtendenzen. Oft wird ihr vorgeworfen, sie vertrete immer die offizielle Linie und verbünde sich mit den jeweiligen Machthabern.

Al-Azhar wurde im 10. Jahrhundert während des Kalifats der schiitischen Fatimiden  gegründet und unter der von Saladin (1171–1193) ins Leben gerufenen Ayyubiden-Dynastie in eine sunnitische Lehreinrichtung umgewandelt.

Von Zeit zu Zeit haben ägyptische Diktatoren versucht, der Azhar die Flügel zu stutzen oder ihren religiösen Segen für ihre eigene Agenda zu nutzen. Im 20. Jahrhundert versuchte die führende religiöse Institution des Landes dann, sich weitgehend aus den Debatten um Reform und Erneuerung des Islam in Ägypten und der ganzen muslimischen Welt heraus zu halten.

Der ägyptische Präsident Abdul Fattah al-Sisi beim Morgengebet zum Eid al Adha zusammen mit Großimam Ahmed al-Tayeb, Verteidigungsminister Sedky Sobhy und Premierminister Ibrahim Mahlab in der al-Sayeda Safeya Moschee; Foto: picture-alliance/dpa/Office of the Presidency
Die Reform des Islam als Wundermittel gegen religiösen Fanatismus? Al-Azhar hingegen betont, der radikale Islam sei weniger religiös als vielmehr politisch motiviert. Laut einer Studie eines Forschungsinstituts in Melbourne von 2017 waren über 95 Prozent der ägyptischen Jugendlichen, die sich dschihadistischen Gruppen angeschlossen haben, durch politische und soziale Umstände motiviert. Die Reform des religiösen Diskurses ist nicht der richtige Weg, um junge Muslime in Ägypten oder anderswo von dschihadistischen Gruppen fernzuhalten.

Die Reformbemühungen von Mohammed Abduh (1849-1905), der selbst ein enttäuschter Al-Azhar-Student war, während der britischen Besatzung, und von Mahmud Shaltut (1893 - 1963) Ende der 1950er Jahre stießen auf Kritik konservativer Kreise innerhalb der Universität.

Nach der Revolution von 1952 und dem Sturz der Monarchie wurde Al-Azhar dann zu einem Werkzeug der regierenden Generäle. Dieses Muster wiederholte sich auch beim Putsch von 2013, als al-Sisi Mohamed Morsis kurzlebige, demokratisch gewählte Regierung stürzte.

Religiöse Reform, politische Motive

Allerdings ist die momentane Reforminitiative, die seit 2015 vom autoritären Präsidenten und den überwiegend staatlich kontrollierten ägyptischen Medien ausgerufen wird, weniger ideologisch als vielmehr politisch motiviert. Weithin wird angenommen, dass Sisis Bemühungen, Al-Azhar seinem Willen zu unterwerfen, von seinen Verbündeten am Golf unterstützt wird.

Diese hatten bereits seinen Putsch von 2013 unterstützt und sehen religiöse Reformen vor allem als ein Werkzeug zur Repression vermeintlicher Sicherheitsrisiken und extremistischer Tendenzen.

Sisis angeblicher Reformeifer hat einiges gemeinsam mit demjenigen von Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien, der viele einflussreiche Gelehrte und Kleriker brutal unterdrückt und eingesperrt hat, weil sie sich weigerten, der offiziellen Linie zu folgen. Auch Sisis Kampagne, öffentliche Institutionen, Medien und die intellektuelle Elite von allen Elementen der Muslimbruderschaft zu säubern, wird nun im großen Stil fortgesetzt. So will er alle möglichen religiösen oder sonstigen Bedrohungen ausschalten – darunter auch Al-Azhar, die ägyptische Hochburg einer orthodoxen sunnitischen Lehre.

Al-Azhar wiederum weist die Argumente ihrer Gegner, der Extremismus stamme direkt aus den traditionellen islamischen Lehrbüchern, entschieden zurück. Außerdem betont die Universität, sie habe ihre Lehrpläne überprüft und einige Inhalte korrigiert, um den religiösen Diskurs zu reformieren.In der Abschlusserklärung der anfangs erwähnten Konferenz vom Januar, die auch auf den sozialen Medien der Universität veröffentlicht wurde, erklärte Großimam Ahmed al-Tayeb, Erneuerung (tajdid) sei zwar eine der grundlegenden Erfordernisse der islamischen Scharia, aber eine Veränderung der Grundlagen des Islam stünde  nicht zur Debatte.

Obwohl er alle fundamentalistischen Interpretationen des Islam, die von Islamisten oder Dschihadisten vertreten werden, zurückwies, warnte er jedoch davor, die Reform der religiösen Debatte jenen anzuvertrauen, die dazu nicht qualifiziert seien. Sonst bestehe die Gefahr, die Religion nicht zu erneuern, sondern sie zu verwässern.

Regimekampagne gegen den Großimam

Während der Konferenz, die überwiegend von Gelehrten sunnitischer und sufistischer Strömungen besucht war, zu denen auch der Großimam gehört, konnte sich Tayeb gegenüber Khosht argumentativ durchsetzen.

Aber danach starteten die von der Regierung kontrollierten Medien und die regimetreuen Intellektuellen eine umfangreiche Kampagne gegen Tayeb. Sie deuteten seine Rede als einen Putschversuch gegen den Präsidenten und forderten nicht nur seinen Rücktritt, sondern sogar seinen vollständigen Ausschluss aus dem öffentlichen Leben. Weiterhin bestritten sie seinen Ruf als moderater Gelehrter, und einige von ihnen gingen sogar so weit, ihn als Unterstützer der Muslimbruderschaft zu bezeichnen, was er niemals war.

Tatsächlich war es Tayebs Ablehnung der Moslembrüder und sein Versuch, ihren Einfluss an der Al-Azhar-Universität zu begrenzen, nicht zu vergessen auch seine Mitgliedschaft im Polizeikomittee der National Democratic Party unter dem damaligen Präsidentensohn Gamal Mubarak, die dazu beigetragen haben, dass er 2010 überhaupt Großimam von Al-Azhar werden konnte.

Tayeb war immer ein überzeugter Unterstützer des Regimes. Nach dem Arabischen Frühling von 2011, den er später als „Teil einer großen Verschwörung des Westens, die (islamischen) Länder zu spalten, um sie zu rekolonialisieren“, bezeichnete, veröffentlichte Tayeb einige Erklärungen, die Sisis Putsch, die Gegenrevolution gegen Mohamed Morsi und sogar einige der brutalen Razzien gegen die Gegner des Putsches legitimierten.

Allerdings wird die Tatsache, dass Al-Azhar Sisis Putsch und sein brutales Vorgehen gegen die Unterstützer der Moslembruderschaft im Jahr 2013 befürwortet hat, seltsamerweise von den Unterstützern des Präsidenten heute dazu verwendet, die religiöse Legitimität der Institution und ihres Großimams in Frage zu stellen.

So wird Al-Azhars eigener Versuch, sich als populäre religiöse Institution und Wächterin über die islamischen Tradition neu zu erfinden, momentan durch einen  offensichtlichen Mangel an Glaubwürdigkeit in Frage gestellt, der auf ihre voreingenommene, regimefreundliche Haltung in der Vergangenheit zurückgeht.

Großimam Ahmed al-Tayeb bei der Konferenz „Erneuerung des islamischen Denkens“; Foto: Al-Azhar Alumni UK, https//www.facebook.com/pg/WAAGUK/photos/?ref=page_internal
Auf der Konferenz der Al-Azhar über die „Erneuerung des islamischen Denkens“ Anfang 2020 in Kairo betonte Großimam Ahmed al-Tayeb, Erneuerung (tajdid) sei zwar eine grundlegende Erfordernis der islamischen Scharia, aber eine Veränderung der Grundlagen des Islam stünde nicht zur Debatte.

Mit Reformen gegen den Extremismus?

In vielen Reden hat Sisi die Reform des Islam als Wundermittel gegen religiösen Fanatismus und das Gespenst extremistischer Ideologien im Land dargestellt. Al-Azhar hingegen betont, der radikale Islam sei weniger religiös als vielmehr politisch motiviert.

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Laut einer Studie eines Forschungsinstituts in Melbourne von 2017 waren über 95 Prozent der ägyptischen Jugendlichen, die sich dschihadistischen Gruppen angeschlossen haben, durch politische und soziale Umständen motiviert. Dies bestätigt, dass die Reform des religiösen Diskurses nicht der richtige Weg ist, um junge Muslime davon abzuhalten, dschihadistischen Gruppen in Ägypten – oder anderswo – beizutreten.

Die Menschen übernehmen dschihadistische Ideen, um ihre gewalttätigen Ziele zu rechtfertigen, und nicht anders herum. Wer sich einer derartigen Bewegung anschließen möchte, wird sich niemals vorher an Al-Azhar-Gelehrte wenden, die sie als Sprachrohr des Regimes betrachten.

Wie lang kann die Al-Azhar-Universität noch über die orthodoxe islamische Lehre wachen, Sisis Kontrollversuche abwehren und gleichzeitig den Einfluss der ölreichen Golfstaaten eindämmen? Es scheint, dass dieser Streit zwischen den ehemaligen Verbündeten nicht so bald geschlichtet werden kann.

In Ägypten bekennen sich die meisten Gläubigen zum orthodoxen sunnitischen Islam  in seinen sufistischen oder salafistischen Ausprägungen. So könnte sich jeder Versuch, das religiöse Gedankengut dadurch zu reformieren, dass man das gesamte, über Jahrhunderte gewachsene traditionelle islamische Gelehrtentum leugnet, als kontraproduktiv erweisen. Da die Beschädigung der Glaubwürdigkeit einer moderaten Institution wie Al-Azhar zu weiteren Brutstätten des Extremismus führen könnte, kann es durchaus sein, dass Sisi mit seiner Gratwanderung weitermachen muss.

Muhammed Nafih Wafy

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