Die Realität ist ein Abenteuer

Der deutsch-irakische Schriftsteller Sherko Fatah verbrachte die ersten Jahre seiner Kindheit in der DDR. Der Sohn eines Kurden aus dem Irak und einer deutschen Mutter hat früh gelernt, hinter die eigene Erfahrung zurück zu treten und den eigenen Standpunkt zu reflektieren. Ein Porträt von Volker Kaminski

Sherko Fatah ist ein Wanderer zwischen den Welten. Schon als Kind erlebte er das Aufeinandertreffen sehr unterschiedlicher Kulturkreise und Sprachen. Geboren wurde Fatah 1964 in Ostberlin, wohin sein Vater, ein kurdischstämmiger Iraker, wegen eines Übersetzerstipendiums gezogen war. Doch das Leben in der DDR war nicht von Dauer. 1975 verließen die Fatahs Ostberlin und zogen über Wien nach Westdeutschland.

Dieser Weggang – eine Ausreise, die naturgemäß ohne Rückkehr war – bedeutete für den Zehnjährigen einen tiefen Einschnitt. Er musste seine Freunde zurücklassen und wurde mit einem neuen Schulstoff konfrontiert, in dem ein vollkommen anderes Geschichts- und Menschenbild gelehrt wurde, als das, was er bisher kannte. Darüber hinaus reiste Sherko Fatah mit seinem Vater zu längeren Aufenthalten immer wieder in den Irak, wo er Zeuge und Zaungast einer im Vergleich zur DDR weitaus furchtbareren Diktatur wurde. Bis heute besucht er das Land regelmäßig, in das sein Vater inzwischen wieder zurückgezogen ist.

Radikale literarische Wende

Sherko Fatah, Autor von bislang vier stark beachteten und mit Preisen versehenen Romanen – zuletzt wurde sein Roman "Das dunkle Schiff" auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert –, bezeichnet seine Existenz als ein geistig-kulturelles Doppelleben. Nach dem Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin vollzog er bezüglich seiner literarischen Themen eine radikale Wende.

Fatah hatte früh zu schreiben begonnen, doch das Studium hatte zunächst keinen Einfluss auf sein literarisches Schaffen. Wilhelm Diltheys philosophische Hermeneutik und die Sprachanalyse Heideggers bildeten Schwerpunkte des jungen Studenten. Nun entdeckte Fatah – vor allem angeregt durch die in den 80er Jahren boomende Literatur der großen südamerikanischen Romane von Garcia Marquez, Vargas Llosa u. a. – gewissermaßen seine ureigenen Themen: die Erfahrungen eines Lebens zwischen den Kulturen, das schwierige Ankommen in der Fremde, der Umgang mit diktatorischen Verhältnissen.

Es reizt ihn, wie er sagt "in den Kopf eines Fremden zu springen" und dessen Erfahrungen in der Form eines Romans wiederzuspiegeln.

Schwierige Anpassungsvorgänge

Fatah ist nicht nur in seinen Romanen ein fesselnder Erzähler, er schildert auch im Gespräch anschaulich und analytisch zugleich, wie er die kulturellen Wechselbäder erlebt hat. Hört man ihm zu, wird einem klar, welche Kraft und Phantasie es erfordert, den Blick immer wieder zu wechseln, Kraft zehrende Schritte nehmen zu müssen, um schwierige Anpassungsvorgänge zu meistern. Obwohl er durch seine fortschrittlich eingestellten Eltern sicherlich begünstigt war gegenüber einem, der von Haus aus mit Vorurteilen und starren religiösen Bindungen kämpfen muss, weiß Fatah, was es heißt, sich in unbekannten Verhältnisse zu orientieren und zurecht zu finden.

Schwierig sei zum Beispiel, wenn die anfänglichen Erwartungen zu hoch gesteckt seien und man sich nicht genug der Mühe unterziehe, die nötig ist, um sich das Neue aktiv anzueignen. Die Gefahr "bequem zu werden" sei groß. Dennoch glaubt Fatah an Integration, auch wenn bei den Zugewanderten immer ein Gefühl der Fremdheit bleibe.

"Kulturelle Fremdheit spricht nicht gegen Integration", sagt er und glaubt: "Multikulti kann in Europa gedeihen." Dabei weist Fatah darauf hin, dass das Nebeneinander von Minderheiten auch in Europa trotz der schlimmen Erfahrung des Nationalsozialismus in der Geschichte immer Realität war.

Deutscher "Genre-Snobismus"

​​Um seinen Blick auf die Welt literarisch zu gestalten, bedient sich Fatah der Spielform des Abenteuerromans, der in der deutschen Literatur von ein paar Ausnahmen abgesehen ignoriert wird, bzw. als mindere Form des Groschen- oder Schundromans angesehen wird. Zu unrecht! wie Fatah meint. Der Abenteuerroman spiele etwa in der angelsächsischen Literatur eine große Rolle – z.B. in William Goldings berühmtem Roman "Herr der Fliegen". Es sei falsch und engstirnig auf ein Genre geringschätzig herabzublicken, das in der Lage ist einen Großteil unseres modernen Lebens abzubilden.

Von Geschichten wie gefährlichen Überfahrten, auf denen es für die unentdeckt einreisenden Passagiere um Leben und Tod geht, lesen wir jeden Tag in der Zeitung. "Warum soll man ein Genre, das von Fremdenlegionären, Piraten und um die Welt ziehenden Flüchtlingen erzählt, ganz und gar dem Fernsehen oder dem Film überlassen?"

Allerdings meint Fatah, sei eine Wende im Erzählen eingeleitet – und zwar seit dem Mauerfall, der ja eine weitaus globalere Wende nach sich zog. Es habe sich seither gezeigt, wie viel Mitteilenswertes es gibt und es sei ein neuer Blick auf Biographien möglich geworden. Spätestens seit dem 11. September 2001 ist jedem klar, wie brüchig und gefährdet unsere Welt ist. Da scheint es wenig hilfreich, das Erzählen mit Beschränkungen und Verboten zu belegen. Fatah jedenfalls ist der distanzierte Blick vertraut, mit dem man in einer sich ständig wandelnden Welt seine eigenen Lebensumstände betrachtet und zu verstehen sucht.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2008

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