Der schmerzhafte, heilsame Prozess der Versöhnung

Der israelische Psychologe Dan Bar-On erarbeitet mit Nachkommen von Holocaust-Opfern und deutschen Tätern Modelle zur Verständigung. Mahmoud Tawfik stellt den Mann vor, der die Erfahrungen aus seiner Versöhnungsarbeit auch auf das gestörte Verhältnis von Israelis und Palästinensern überträgt.

Dan Bar-On, Foto: Martin Lengemann
Dan Bar-On

​​Der israelische Psychologe und Universitätsprofessor Dan Bar-On ist der Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer aus Hamburg. Für seine Arbeit auf dem Gebiet der Völkerverständigung wurde er unter anderem mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

1992 kam es zu dem ersten Treffen seiner Gruppe "TRT - To Reflect and Trust - Nachdenken und Vertrauen". Hier kommen Nachfahren von Holocaust-Opfern und Tätern zusammen, um von Angesicht zu Angesicht eine Annäherung zu versuchen.

Modell auch für den Nahostdialog nutzbar

Die Erkenntnisse und Arbeitsmethoden, die sich für Bar-On daraus ergaben, hat er auch für den Dialog zwischen Palästinensern und Israelis angewandt.

"Wenn ich mir beide Seiten so anschaue, die israelische und die palästinensische, glaube ich, dass wir im Moment diese Zwei-Staaten-Phase brauchen - obwohl es gegen jede Logik verstößt", sagt Bar-On. "Vielleicht nur für fünfzig Jahre, nicht länger. Psychologisch gesehen müssen wir leider über zwei Generationen die langjährigen Schäden des Konflikts aus der Welt schaffen, aufräumen, jeder für sich."

Der Psychologe glaubt nicht, dass die Menschen von heute auf morgen z.B. die Idee einer Föderation akzeptieren könnten oder dass die Juden Israels heute die Idee akzeptieren könnten, einen arabischen Ministerpräsidenten zu haben. Aber vielleicht in fünfzig Jahren.

"Wir haben ja bestimmte fixe Weltbilder im Kopf, über die wir uns selbst und die Welt um uns verstehen und wahrnehmen. So können wir leichter mit Unsicherheit und Unklarheiten umgehen", erklärt Bar-On. "Wenn sich aber die Welt verändert und unsere Weltbilder nicht mehr von aktueller Bedeutung sind, dann verschwinden sie nicht einfach so von selbst. Wir müssen daran arbeiten. Das kann ein schmerzhafter Prozess sein."

Holocaust wirkt bis in die dritte Generation nach

Umlernen und Umdenken als Rezept für ein besseres Zusammenleben - aber wie? Die Arbeit des Psychologen Dan Bar-On ist wohl am besten dort zu platzieren, wo sich Geschichtsforschung mit Tiefenpsychologie überschneidet. Sie lehrt, dass in Israel die Arbeitssprache eines jeden Therapeuten um einige Begriffe erweitert werden muss.

Neben Kindesmissbrauch oder lieblosen Eltern dürfen auch Holocaust, Diaspora und Krieg nicht fehlen. Die Erfahrungen der Großeltern und Eltern werden mitsamt einem Bündel an teilweise unverarbeiteten Ängsten weitergegeben. Nach jahrelanger Arbeit mit Nachkommen von Holocaust-Opfern und Tätern lautet Bar-Ons Fazit: der Holocaust wirkt bis in die dritte Generation nach.

Bar-On will den Menschen helfen, sich 'durch den Holocaust durchzuarbeiten'. Sie sollen verstehen, "dass nicht alles, was damals von Bedeutung war, heute immer noch von Bedeutung ist. Dass also das, was im Europa der Vierziger passierte, nicht immer im Nahen Osten von 2004 eine Rolle spielt."

"Man darf die Vergangenheit weder ignorieren noch vergessen. Aber auf der anderen Seite muss man nicht die gesamte Vergangenheit wiederaufleben lassen, wenn es ein Selbstmordattentat in Tel Aviv gibt."

Zielgruppe wurde schnell erweitert

"Nachdenken und Vertrauen" - das heißt nicht unbedingt Versöhnung. Aber man kann sich sowohl der eigenen Ängste und Beweggründe als auch derer des Gegenübers bewusst werden und dadurch Vertrauen aufbauen.

Das Rezept hierfür scheint verblüffend einfach zu sein: die eine Seite erzählt ausführlich über persönliche Erfahrungen. Die andere hört zu, reagiert, geht auf den Erzählenden ein.

Es dauerte nur einige Jahre, bis die TRT-Gruppe auch Menschen aus anderen Konfliktregionen einbezog: Südafrika, Nordirland. Auch Palästinenser werden zu den Treffen der TRT-Gruppe eingeladen - ein Kooperationsprojekt mit dem palästinensischen Akademiker Sami Adwan.

Eigene Identität muss erst gefestigt werden

Bei der Arbeit mit Israelis und Palästinensern kommt einmal mehr zum Vorschein, wie wichtig jene Komponente des Dialogs ist, bei der jede Seite sich erst einmal selbst zu ergründen versucht.

"Wenn sich Studenten von beiden Seiten - Israelis und Palästinenser - treffen, dann verbringen sie lange Zeit damit, sich darüber zu streiten, wer Recht hat, was den geschichtlichen Verlauf des Konflikts angeht, oder wer denn nun das Opfer des Anderen ist", berichtet Bar-On.

"In solchen Fällen, wo Menschen in ihrer Identität noch so unsicher sind, da muss man ihnen erst einmal eine Art Sicherheitsgefühl geben, was Leben und Zukunft angeht, was den Umgang mit ihrer eigenen Identität angeht." Erst dann kann man nach Bar-On von ihnen verlangen, sich mit den Anderen auseinander zusetzen.

Und auch hier spielt die unverarbeitete Geschichte eine Rolle: So wurden den "Kindheitstraumata" der israelischen Gesellschaft die historischen Traumata der Palästinenser entgegengestellt: die Flucht und Entwurzelung nach dem Krieg von 1948.

Ein neues Schulbuch für den Nahen Osten

Aus den Erfahrungen mit der erweiterten TRT-Gruppe entstand die Idee für ein Projekt von größerem Ausmaß: "Aus der Geschichte des Anderen lernen" - mit durchaus positiver Resonanz. Es wurde ein Schulbuch über die Geschichte des Nahost-Konflikts für israelische und palästinensische Kinder entwickelt.

Jede Seite des Buches ist in drei Spalten aufgeteilt. In der einen findet man den Konflikt aus der israelischen Perspektive, in der zweiten die palästinensische Sichtweise und zwischendrin eine leere, linierte Spalte. Sie dient der eigenen Geschichtsschreibung.

Für eine gemeinsame Geschichtsschreibung sei die Zeit noch nicht reif, so Bar-On. Bis sich das Augenmerk von der eigenen Spalte auf die gegenüberliegende Spalte richtet, und der leere Mittelteil mit einer neuen Geschichtsschreibung gefüllt wird, vergehen vielleicht noch fünfzig Jahre.

Mahmoud Tawfik

© Deutsche Welle 2004

Dan Bar-On erhielt 2003 zusammen mit dem palästinensischen Dichter Mahmoud Darwisch den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis. Lesen Sie dazu mehr auf Qantara.de.