Ein iranischer Geistlicher im Visier der Staatsmacht

Die Verfolgung eines kritischen schiitischen Geistlichen und seiner Anhängerschaft zeigt nicht nur, wie hemmungslos das Teheraner Regime vorgeht, sondern auch, wie stark der Widerstand gegen seine Herrschaft ist. Von Nazenin Ansari

Ayatollah Sayyid Hossein Kazemeini Boroujerdi mit seinen Anhängern; Foto: AP
Ayatollah Sayyid Hossein Kazemeini Boroujerdi: "Das Regime besteht darauf, dass man sich dem politischen Islam unterwirft. Sonst kann man nur ins Gefängnis oder ins Exil gehen ..."

​​28. September 2006, acht Uhr morgens, Avesta-Straße, Teheran: Sieben Frauen und 34 Männer zwischen 23 und 60 Jahren verlassen die bescheidene Heimstatt von Ayatollah Sayyid Hossein Kazemeini Boroujerdi. Wieder haben sie eine kalte Nacht im Hof des Klerikers verbracht, der den machthabenden Ayatollahs im Iran ein Dorn im Auge ist.

Was seine Beschützer nicht wissen: Geheimpolizisten in Zivil und staatliche Sicherheitskräfte folgen ihnen, um sie auf dem Heimweg einen nach dem anderen zu verhaften. Die morgendliche Reise endet im berüchtigten Trakt 209 des Evin-Gefängnisses.

Weitere 33 Personen werden am nächsten Tag festgenommen. 74 Personen also, die zu den Hunderten von Anhängern gehören, welche den Ayatollah seit dem 30. Juli vor der Verhaftung durch die Sicherheitskräfte beschützt hatten – seit dem Tag, da man in sein Haus eingedrungen war, seine Verwandten verhaftet und einundzwanzig Tage lang im Evin-Gefängnis gefoltert hatte.

Tatsächlich waren die Sicherheitskräfte schon am 3. August zurückgekehrt, um auch den Geistlichen selbst festzunehmen. Aber seine Anhänger hatten es nicht zugelassen.

Für eine Trennung von Religion und Politik

Ayatollah Sayyid Hossein Kazemeini Boroujerdi, der in Teheran geboren wurde und in Qom studierte, hat zahlreiche Bücher und Abhandlungen über ethische und spirituelle Fragen sowie über den Koran verfasst. Er gehört der offiziellen Staatsreligion Irans an, ist also Zwölfer-Schiit.

Der Glaube der Zwölfer-Schiiten oder Imamiten geht zurück auf die zwölf Imame, die nach dem Tod des Propheten Mohammed dessen rechtmäßige geistliche und politische Nachfolger wurden. Der zwölfte Imam, der Mahdi, lebt nach diesem Glauben im Verborgenen, wird aber dereinst wiederkehren und zum Führer der Gläubigen werden.

Bis dahin jedoch, so meinen Bouroujerdi und verwandte schiitische Denker, sollten politische und religiöse Macht im Staate voneinander getrennt bleiben.

Der von staatlichen Sicherheitskräften belagerte Kazemeini Boroujerdi bleibt dabei: "Es gibt nur einen, der nie geirrt hat, der frei von allen Fehlern ist. Er ist der König des kommenden Zeitalters, der Imam Mahdi. Nur er darf regieren und Recht sprechen."

Das bedeutet, dass eine Theokratie, wie es sie heute im Iran gibt, also eine Staatsform, in der die religiöse und die weltliche Ordnung deckungsgleich sind, ideologisch und theologisch illegitim sein muss, solange der Prophet nicht wiedergekehrt ist. Folglich sind auch die von diesen Machthabern erlassenen religiösen Gesetze null und nichtig.

Tatsächlich haben viele schiitische Geistliche und ihre Anhänger sich dem Fundamentalismus der politischen Machthaber entgegengestellt, der sich im Iran nach der Revolution von 1979 herausbildete. Sie wurden eingesperrt, gefoltert, öffentlich erniedrigt und unter Hausarrest gestellt. Außerhalb religiöser Kreise war viele Jahre lang nichts über das Schicksal dieser Personen bekannt.

Doch je größer die Spannungen zwischen Religions- und Staatsvertretern wurden, desto bewusster wurden die Differenzen auch der Öffentlichkeit, und immer mehr Menschen wandten sich von der Staatsversion des Islam ab und dem traditionellen schiitischen Islam zu.

Im Namen der Tradition

In der Öffentlichkeit stellte sich Kazemeini Boroujerdi den regierenden Klerikern erstmals 1994 entgegen. Bis dahin hatte er seinen Unmut für sich behalten. Doch als er merkte, dass der Religion immer weniger Respekt gezollt wurde – infolge der sich verschlechternden ökonomischen und sozialen Lage und der allgegenwärtigen Korruption der Regierungsvertreter, die sich selbst und ihren Angehörigen allerlei Vorteile verschafften – beschloss er zu handeln.

Der Fastenmonat Ramadan neigte sich seinem Ende zu, und in der Tradition des achten Imam Reza leitete er die Feierlichkeiten. Zum Zeichen des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der klerikalen Machthaber trug er dabei ein weißes Totenhemd und ein Schwert.

Die Probleme von damals sind dieselben wie heute. Trotz Millioneneinnahmen durch Öl ist das Pro-Kopf-Einkommen im Iran heute 30 Prozent niedriger als 1978, ein Jahr vor der Revolution. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Inflation katastrophal.

Jahangir Amuzegar, renommierter iranischer Wirtschaftsfachmann und früheres Mitglied im Exekutivdirektorium des Internationalen Währungsfonds, meint, die Liste der sozialen Missstände im Iran werde Jahr für Jahr länger.

Derzeit werden sie in fünfundzwanzig Kategorien erfasst, darunter Gewaltverbrechen, Drogenabhängigkeit, Kindesmissbrauch, davongelaufene Mädchen, disfunktionale Familien, steigende Scheidungsrate, zunehmende Prostitution, steigende Selbstmordquote und sogar Sklavenhandel.

Vor den "Sondergerichtshof der Geistlichkeit"

"Das größte Opfer dieser Theokratie ist Gott selbst", betont Kazemeini Boroujerdi. "Die in seinem Namen begangenen Ungerechtigkeiten der herrschenden Kleriker haben dazu geführt, dass sich die Menschen scharenweise von Gott abgewandt haben."

Zwischen 1994 und 2001 ist der trotzige Ayatollah mehrfach vor den Kadi gezerrt worden, genauer gesagt vor den so genannten "Sondergerichtshof der Geistlichkeit".

Dieser ist 1987 eingerichtet worden und hat amnesty international zufolge zum Ziel, "antirevolutionäre Umtriebe, Korruption, Immoralität, gesetzeswidriges und sonstiges Handeln zu verfolgen, welches geeignet ist, das öffentliche Ansehen der Geistlichkeit zu schädigen"; zudem soll gegen "Verstöße von Pseudo-Geistlichen" vorgegangen werden.

Boroujerdi ist mehrfach verhaftet, eingesperrt und gefoltert worden, auch seine Moschee wurde ihm abgenommen. Doch sobald er wieder freikam, hat er stets wieder die Gebete geleitet, zunächst von zuhause aus und später, als seine Anhängerschaft größer wurde, von der Nour-Moschee aus, der Moschee seines Vaters.

Mysteriöser Tod

Kazemeinis Vater, Ayatollah Seyyed Mohammad Ali Kazemeini Boroujerdi, war im Iran vor der Revolution über fünfzig Jahre lang eine bekannte Größe. Zusammen mit vielen Zeitgenossen lehnte auch er bereits die Theokratie im Iran ab.

Dieser ältere Ayatollah starb im Jahr 2002 unter mysteriösen Umständen bei einem Krankenhausaufenthalt. Seine Anhänger begruben ihn heimlich in der Nour-Moschee, woraufhin diese zu einer wichtigen Gebetsstätte und einem weiteren Stein des Anstoßes für das Regime wurde. Bald wurde auch sie enteignet, das Grab des alten Ayatollah wurde entweiht.

Am 21. September 2006 wurde Kazemeini Boroujerdi nunmehr unmissverständlich mitgeteilt, er solle die sterblichen Überreste seines Vaters außerhalb von Teheran bestatten - auf Befehl des höchsten geistlichen Führers, Ayatollah Ali Khamenei. Wenn er dieser Anweisung nicht Folge leiste, so drohte man ihm, würde man die Nour-Moschee zerstören und an dem Ort ein Einkaufszentrum errichten.

Ein Hilferuf an die Welt

Obwohl er ständig überwacht und unter Druck gesetzt wird, hat der widerständige Ayatollah seine Botschaft bislang erfolgreich weiter verbreitet. Seine Anhänger kommen aus den unterschiedlichsten Schichten und politischen Lagern.

Im Juli 2006 stand er nicht nur über 100 Festnetz- und Mobilleitungen telefonisch mit ihnen in Kontakt, die Gläubigen, die ihn sehen wollten, füllten sogar ganze Fußballstadien, wenn er die Gebete leitete.

Am 7. September hat nun ein Abgesandter von Gholamhussein Mohseni Ezhei, dem iranischen Minister für Inneres und Information, das Sorgenkind besucht. Bei der Unterredung, in deren Verlauf es zu hitzigen Wortwechseln kam, wurde dem Ayatollah klar gemacht, dass er mit unangenehmen Folgen rechnen müsse, falls er sich weigere, vor dem Sondergerichtshof der Geistlichkeit zu erscheinen.

Kazemeini Boroujerdi erklärte daraufhin: "Das Regime besteht darauf, dass man sich dem politischen Islam unterwirft. Sonst kann man nur ins Gefängnis oder ins Exil gehen, falls man nicht umgebracht wird. Das ist dieselbe Geisteshaltung wie bei Osama bin Laden oder Mullah Omar."

Jetzt hat der Ayatollah sich an Pabst Benedikt XVI., Kofi Annan und Javier Solana gewandt und sie um Unterstützung gebeten. "Es geht hier nicht um mich persönlich", meint er, "sondern um die Glaubensfreiheit. Die internationale Gemeinschaft sollte die Iraner schützen, die ihren traditionellen Glauben nicht aufgeben wollen. Wir beten dafür, dass der UN-Sicherheitsrat bald eine Resolution für Frieden und Religionsfreiheit im Iran verabschiedet."

Dies sind keine politischen, sondern humanitäre Forderungen, betont Ayatollah Kazemeini Boroujerdi. "Ich will mit Politik eigentlich gar nichts zu tun haben. Aber derzeit herrscht im Iran ohnehin schon so viel Chaos, dass die Regierung jetzt lieber nicht noch eine Krise heraufbeschwören sollte."

Nazenin Ansari

Aus dem Englischen von Ilja Braun

© openDemocracy / Qantara.de 2006

Nazenin Ansari ist politische Korrespondentin der in persischer Sprache erscheinenden Londoner Wochenzeitung Kayhan.

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