Abkehr von den Konventionen traditioneller Musik

"Wameed" ("Funkeln") heißt das neue Werk von Kamilya Jubran. Die palästinensische Sängerin, die seit einiger Zeit in Europa ansässig ist, verbindet orientalische Musik mit Elementen des Jazz und der elektronischen Musik. Saleh Diab stellt die Künstlerin vor.

Von Saleh Diab

​​Kamilya Jubran, die Jerusalem im Jahr 2000 verließ, um in Bern und Paris zu leben und zu arbeiten, sucht das musikalische Abenteuer. Auf ihren Konzerten in Europa präsentiert sie ihre musikalischen Experimente – ohne die Musikgruppe "Sabreen", der sie einen großen Teil ihrer Erfahrungen als Sängerin verdankt. Mit ihrer Musik reiht sich Jubran unter jene arabischen Sänger ein, die Europa zum Ort ihres musikalischen Schaffens gewählt haben. Dadurch ist es ihr möglich, ihr europäisches Publikum zu erreichen, zu dem auch Zuhörer arabischer Herkunft gehören.

Die Sängerin versucht, in ein für arabische Interpreten schwer zugängliches Terrain vorzudringen. Unter den arabischen Sängern gab es nur wenige, die sich an den Gesang auf Hocharabisch und an die Vertonung moderner arabischer Gedichte herangewagt haben. Auch fanden solche Versuche bislang nur wenige Zuhörer – meist blieb die Zuhörerschaft auf einen politisch interessierten Kreis beschränkt. Ungeachtet dessen geht Kamilya Jubran ein zusätzliches Risiko ein, indem sie auch ins Arabische übersetzte Gedichte vertont.

Die Bedeutung von Liebe und Frieden

Hören wir Kamilya Jubran zu, so nehmen wir die erstaunliche Präsenz ihrer Stimme und die stimmlichen Variationsmöglichkeiten wahr. Dies ist ihr großes Kapital, das sie in die Lage versetzt, die Texte mit den modernen Melodien in Einklang zu bringen, die sie für ihre Lieder wählt. Durch ihre künstlerischen Experimente, die sich jeweils über einen längeren Zeitraum erstrecken, drückt sie nicht nur das Leid der Palästinenser in der bekannten Form aus, sondern versucht ebenso, diesem Leid ein neues, tiefgründigeres Gesicht zu geben, das Gesicht von Liebe und Frieden.

Durch ihren Schritt, nach Europa zu gehen, hat sich Kamilya Jubran dafür entschieden, ausschließlich als Künstlerin in Erscheinung zu treten. Sie hat sich in ihrem künstlerischen Handeln von der Zugehörigkeit zum palästinensischen Volk gelöst und nimmt in ihren Liedern Abstand von dem Kanon des Widerstandes, von Begriffen wie "Steinewerfen", "Blutvergießen", "Mord" oder "Märtyrertum".

Das neue Leben in Europa bietet Kamilya Jubran offensichtlich die nötige Freiheit und Beweglichkeit. Das Album "Wameed", auf dem sie Gedichte von Khalil Gibran, Dimitri Analis, Paul Shaoul, Fadel al-Azawi, Aïscha Arnaout und Sousan Darawzi vertont, zeigt deutlich, dass Jubran Gelegenheit hatte, von der westlichen Musik zu profitieren und sich von dieser beeinflussen zu lassen.

Die Befreiung von musikalischen Konventionen

Kamilya Jubran untermalt ihre Konzerte zusätzlich durch Videoinstallationen, was ihre Experimentierfreudigkeit widerspiegelt. Ihr gesamtes Schaffen steht für das Streben, sich von den musikalischen Konventionen zu lösen, mit denen sie aufgewachsen ist und denen sich der arabische Gesang verpflichtet sieht. Damit steht sie in der Tradition einer experimentellen Bewegung innerhalb der arabischen Musikwelt, die in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm und zu der unter anderem Künstler wie Marcel Khalife und Ahmad Kaabour aus dem Libanon, Scheich Imam aus Ägypten, Samih Choqeir aus Syrien und Ahmad Bin Dhiab aus Tunesien gehörten.

Die Verwendung von elektronischer Musik und Videoinstallationen im Rahmen ihrer Konzerte steht für den Willen, aus den für arabische Sänger verpflichtenden Traditionen ausbrechen. Durch den Einsatz dieser Mittel beweist sie Mut, werden diese Mittel doch von den arabischen Sängern abgelehnt, die den Konventionen verhaftet bleiben.

Charakteristika orientalischer Musik werden beibehalten

Offensichtlich steht Kamilya Jubran den kulturellen und musikalischen Möglichkeiten ihrer neuen Umgebung aufgeschlossen gegenüber. Aufgrund der neuen Impulse hat sie einen eigenen Stil geschaffen, der von westlicher Musik geprägt ist, ohne jedoch die Charakteristika orientalischer Musik zu vernachlässigen. So kombiniert sie die arabische Laute, die Oud, die zur Grundausstattung eines orientalischen Ensembles zählt, mit der Musik des schweizerischen Elektronikmusikers Werner Hasler.

Kamilya Jubran stammt aus dem Dorf Al-Rameh bei Al-Jaleel, das zum palästinensischen Gebiet von 1948 gehört und dessen Bewohner die israelische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Sängerin, Jahrgang 1963, ist von klein auf durch Musik beeinflusst worden. Ihr Vater Elias, ein Instrumentenbauer, spielte die Oud und gab im Haus der Familie Musikunterricht. Mit vier Jahren begann Kamilya Jubran, auf der Oud und dem Qanun, einem zitherähnlichen Instrument, zu spielen.

Mit 19 Jahren stieß sie schließlich zur Musikgruppe "Sabreen", deren Musik sie bis 2002 entscheidend beeinflusste.

Alternative zum Mainstream

Mit "Sabreen" veröffentlichte sie vier Alben, die in der arabischen Welt als Ausdruck des Ausbrechens aus der arabischen Mainstream-Musik bekannt wurden. Ähnlich wie Kamilya Jubran versuchte auch "Sabreen", eine Alternative jenseits der Folklore und der traditionellen Musik zu finden. Die Lieder der Gruppe handeln vom Frieden und von der Liebe und vermeiden Themen wie Krieg oder Tod. Unaufdringlich und leise richten sie sich an den Zuhörer und rücken, trotz der blutigen Realität, die Liebe zum Leben, die Hoffnung und den Frieden in den Mittelpunkt.

Saleh Diab

© Qantara.de 2005

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri