Revolutionsrhetorik oder radikaler Wandel?

Letztes Jahr hatte Oberst Gaddafi angekündigt, seinen "Volksmassenstaat" umfassend zu modernisieren. Doch beim jüngsten Volkskongress wurden Teile der Entscheidungen wieder zurückgenommen. Beobachtungen von Beat Stauffer

Im vergangenen Jahr hatte Oberst Gaddafi angekündigt, seinen "Volksmassenstaat" zu modernisieren. Beim jüngsten Volkskongress wurden Teile der Entscheidungen aber wieder zurückgenommen. In der Bevölkerung herrscht nun Verwirrung. Hintergründe von Beat Stauffer aus Tripolis

Revolutionsführer Gaddafi; Foto: AP
Politik als Unsicherheitsfaktor: Libyens Volkskongress hatte jüngst beschlossen, die von Gaddafi angeregte direkte Verteilung der Öl-Einnahmen an die Bürger bis auf weiteres nicht in die Tat umzusetzen.

​​ Anlässlich der Feiern zum 39. Jahrestag der Revolution kündigte der libysche Führer Gaddafi am 1. September 2008 zahlreiche tief greifende politische Veränderungen an, darunter die Abschaffung mehrerer Ministerien sowie die Teilprivatisierung zahlreicher staatlicher Unternehmen, allen voran im Bereich der Strom- und Wasserversorgung.

Die Bürger sollten darauf eingestimmt werden, in naher Zukunft für staatliche Leistungen der Grundversorgung wie für Dienstleistungen zu zahlen. Die Mittel sollten durch die direkte Verteilung der Erdölrente zur Verfügung gestellt werden.

Gaddafis Rede löste sowohl bei der libyschen Bevölkerung wie auch bei ausländischen Beobachtern Verwunderung und Verunsicherung aus. Bis heute rätseln die Menschen in Libyen darüber, was von den Äußerungen des Revolutionsführers zu halten ist und welche konkreten Auswirkungen zu erwarten sind. Die Verwirrung war perfekt, als dann der libysche Volkskongress im März Teile des Pakets wieder rückgängig machte.

Möglicherweise kommt diese neue Unsicherheit nicht von ungefähr, sondern entspringt dem politischem Kalkül des Revolutionsführers, um seine Macht in dem von ihm seit 1969 autoritär regierten Volksmassenstaat ("Jamahiriya") zu festigen.

Im vierzigsten Jahr der Machtübernahme durch Gaddafi deutet wenig auf einen Systemwechsel hin – die imminente Bedrohung durch einen extern herbeigeführten Regimewechsel hat Gaddafi jedenfalls durch seine außenpolitische Kurskorrektur 2004 abwenden können.

Mauer des Schweigens

Wer in Libyen aber etwas Genaueres über die Umsetzung der radikalen Reformpläne von Oberst Gaddafi sowie über die Stimmung in der Bevölkerung erfahren will, stößt meist auf eine Mauer des Schweigens. Die meisten Menschen in Libyen bekunden ein demonstratives Desinteresse an Politik und sind höchstens unter vier Augen bereit, sich zu solch heiklen Themen überhaupt zu äußern.

Gaddafi und Sarkozy auf dem EU-Afrika Gipfel in Lissabon 2007; Foto: AP
Außenpolitisch rehabilitiert, innenpolitisch isoliert? Seit Gaddafis internationale Isolation 2003 beendet wurde, ist er für die EU ein viel gefragter Handelspartner, in Libyen wiederum ist er als autoritärer Herrscher gefürchtet.

​​Kontakte mit Ausländern können immer noch unliebsame Konsequenzen nach sich ziehen und alles, was die Person des Revolutionsführers und de facto Staatsoberhaupts sowie die offizielle Staatsideologie betrifft, ist weitgehend tabu.

Hinsichtlich der unklaren Reformpläne scheint die libysche Bevölkerung in zwei Lager gespalten zu sein. Während die einen nach wie vor sehr beunruhigt sind und befürchten, der Revolutionsführer könnte das Land in ein neues Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürzen, sind die anderen davon überzeugt, dass es sich dabei bloß um eine neue Eskapade Gaddafis handle, die kaum Folgen nach sich ziehen werde.

"Dies ist doch bloß eine große Show, mit der er einmal mehr seine revolutionäre Linie unter Beweis stellen will", meint etwa ein Unternehmer, der sein Aktionsfeld mittlerweile nach Europa ausgedehnt hat.

Ein anderer Firmenbetreiber aus Tripolis geht ebenfalls nicht davon aus, dass Gaddafis Pläne in nächster Zeit gänzlich umgesetzt werden. Dennoch ist er beunruhigt. " Gaddafi hat schon viele sonderbare Ideen in die Welt posaunt, für die wir anschließend teuer bezahlen mussten", so der Informant. Er traue ihm durchaus zu, auch in diesem Fall Schritte in die Wege zu leiten, welche das Land in große Schwierigkeiten stürzen könnten.

Abweichende Einschätzungen

Auch Libyen-Experten an europäischen Universitäten und Forschungsinstituten sind sich über den Stellenwert und die praktischen Konsequenzen von Gaddafis Ankündigung uneins. So weichen etwa die Analysen der beiden Politikwissenschafter Moncef Djaziri (Universität Lausanne) und Isabelle Werenfels (Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin) in einigen Punkten erheblich voneinander ab.

Einig sind sich die beiden Libyen-Experten darin, dass Gaddafis Rede auf jeden Fall ernst zu nehmen ist und dass sie keineswegs bloß als hohle Revolutionsrhetorik abgetan werden kann. Für Djaziri ist der Inhalt dieser Rede nicht wirklich überraschend – er entspreche durchaus der allgemeinen Linie Gaddafis, wonach das Volk sich angeblich selbst regiere.

Straßenszene in Tripolis; Foto: Beat Stauffer
Trotz des Endes der UN-Sanktionen und der wachsenden Gewinne aus dem Erdölgeschäft, scheint bei Libyens Bevölkerung nur wenig vom Reichtum des Landes anzukommen.

​​Der Revolutionsführer habe in den vergangenen Jahren immer wieder die staatlichen Institutionen kritisiert und sich dabei auf die Seite des Volkes gestellt, ganz so, als würde er selbst keine Macht ausüben. In dieser Hinsicht stelle die Rede somit nichts Neues dar, erklärt Djaziri, sondern zeuge vielmehr von politischer Kontinuität. Auch Werenfels weist darauf hin, dass Gaddafi bereits einmal verschiedene Ministerien abgeschafft hat, um sie wenig später wieder zu neuem Leben zu erwecken.

Eine Kontinuität erblickt Werenfels aber auch in der "permanenten Verunsicherung", die durch solche Ankündigungen in der libyschen Bevölkerung erzeugt werde.

Weitgehend einig sind sich die beiden Libyen-Experten auch darin, dass der Zeitpunkt der Gaddafi-Rede alles andere als zufällig gewählt war. Sie diagnostizieren innerhalb der libyschen Bevölkerung eine große Enttäuschung und Frustration darüber, dass sich die Öffnung in Richtung Westen und die gegenwärtig hohen Einnahmen aus dem Erdölgeschäft nicht durch eine wesentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse ausbezahlt haben.

"Gaddafi hat realisiert, dass die Institutionen nicht so funktionieren, wie sie sollten", erklärt Djaziri. In diesem Sinn sei diese Rede primär als Feststellung eines Missstandes sowie als Appell an die libyschen Bürger zu werten, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Ansätze für eine libysche Zivilgesellschaft?

Gleichzeitig sei in letzter Zeit eine gewisse Öffnung der libyschen Gesellschaft zu beobachten, so Djaziri. Es würden immer mehr Vereine und "Diskussionsforen" gegründet, in denen libysche Bürger "relativ frei" über gesellschaftliche Themen diskutieren könnten.

In diesem Rahmen würden auch immer wieder Reformen gefordert. Insgesamt habe sich auf solche Weise zumindest in Ansätzen eine libysche Zivilgesellschaft herausgebildet.

Diametral entgegen dieser These steht Werenfels' Einschätzung: Von einer unabhängigen libyschen Zivilgesellschaft könne zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt keine Rede sein, und unabhängige Diskussionsforen zu politischen Themen seien praktisch nicht existent.

Fasst der libysche Revolutionsführer wirklich ernsthaft eine konkrete Umsetzung seiner angeblichen Reformen ins Auge? Laut Werenfels' Ansicht ist Gaddafi tatsächlich von einer solchen Idee geradezu "besessen" und werde wohl auch versuchen, diese zumindest teilweise umzusetzen.

Das hätte allerdings "verheerende Folgen" für die libysche Wirtschaft und Gesellschaft zur Folge, weil der private Sektor im Land noch zu wenig ausgebildet sei und über zu wenig "Know-how" verfüge.

Gewisse einflussreiche und verantwortungsbewusste Libyer hofften immer noch, Gaddafi davon überzeugen zu können, das Projekt nicht oder nur in sehr abgeschwächter Form umzusetzen. Werenfels prognostiziert im Fall einer Umsetzung von Gaddafis Plänen einen "Zusammenbruch" des Sozialwesens sowie einiger Bereiche des Dienstleistungssektors.

Kurswechsel in Richtung Pragmatismus

Eine weitere Frage betrifft den möglichen Widerstand gegen radikale Reformen. Schafft sich Gaddafi auf solche Weise nicht sehr viele Feinde unter den hunderttausenden staatlichen Funktionären und anderen Nutznießern des bisherigen Systems? Es gebe tatsächlich einen starken Widerstand gegen diese Pläne, erklärt Djaziri.

"Harte Reaktionen" seien, vor allem in den Mittelschichten, durchaus möglich. Es sei denn

Straßenszene in der Altstadt von Tripolis; Foto: AP
Alltag in Tripolis: Viele der rund sechs Millionen Libyer beschweren sich, dass die Entwicklung des Landes trotz milliardenschwerer Öleinnahmen nicht spürbar vorankommt.

​​auch kein Zufall, dass sich Gaddafi an die breite Bevölkerung und insbesondere an die schweigende Mehrheit im Land wende, um sie für seine Pläne zu gewinnen.

Schließlich stellt sich auch die Frage, ob Gaddafi mit seinen Reformplänen nicht das Risiko eingeht, die Basis seines eigenen Staatsmodells und der entsprechenden Ideologie zu unterminieren.

Im Grunde widerspreche eine derart radikale Privatisierungspolitik tatsächlich seinen Prinzipien, sagt Werenfels. Wenn man aber davon ausgeht, dass die existierenden Ministerien den Willen der libyschen Bürger "pervertierten", ließe sich das Ganze innerhalb des Ideologie Gaddafis noch rechtfertigen.

Djaziri weist darauf hin, dass im "Grünem Buch", Gaddafis politischem Manifest von 1975, keine klare Doktrin bezüglich des Verhältnisses zwischen Staat, Politik und öffentlicher Hand zu finden sei. Zudem zeichne sich Gaddafi seit seinem außenpolitischen Kurswechsel zunehmend durch einen gewissen Pragmatismus aus.

Vollständige Intransparenz

Eigentlich hätten die Reformen bereits bis Ende 2008 umgesetzt sein sollen. Doch beide Libyen-Experten sind sich darin einig, dass bis heute praktisch nichts geschehen ist. Die teilweise Rücknahme der Reformpläne durch den Volkskongress am 3. März 2009 deutet ferner auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Pläne hin.

Djaziri gibt sich aber immerhin überzeugt davon, dass Gaddafis ominöse Rede auf der Ebene der Institutionen einiges in Gang gesetzt habe. Sowohl in den Basiskongressen wie auch im Allgemeinen Volkskongress, dem "Parlament" des libyschen Volksmassenstaates, hätten zahlreiche Debatten über Reformen des Systems stattgefunden. Libyen befinde sich "am Anfang eines Übergangsprozesses", der im Westen zu wenig wahrgenommen werde.

Wesentlich skeptischer beurteilt Isabelle Werenfels die gegenwärtige Lage: Für die Reformkräfte sei insbesondere in den vergangenen Monaten die Situation schwieriger geworden, und zumindest in diesen Kreisen herrsche eine "gedrückte Stimmung".

Dies deckt sich mit den Einschätzungen anderer politischer Beobachter, die von einer vollständigen Intransparenz bei der Umsetzung der verkündeten Reformmaßahmen sprechen und in der libyschen Bevölkerung eine große Unsicherheit und Angst vor chaotischen Zuständen in den kommenden Jahren diagnostizieren.

Beat Stauffer

© Qantara.de 2009

Qantara.de

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