Kein Masterplan in Sicht

Das Fehlen einer politischen Kultur des Kompromisses ist die größte Herausforderung Ägyptens bei der Bewältigung seiner Zukunft, meint Ronald Meinardus in seinem Kommentar.

Von Ronald Meinardus

Ägypter sind bekannt für ihren Optimismus. Kaum ein Gespräch über die Zukunft ihres Landes endet ohne den Hinweis, morgen werde besser sein als heute. Eine aktuelle Umfrage bestätigt diese Seelenlage: rund zwei von drei Ägyptern blicken voller Hoffnung nach vorne, sind überzeugt, ihre persönliche Situation werde im nächsten Jahr besser sein als heute.

Im Lichte von anhaltender Krise, wirtschaftlichem Niedergang, Gewalt und verbreiteter Verunsicherung ist diese Zuversicht erstaunlich. Irdische Hinweise reichen zur Erklärung nicht aus: Optimismus und Zuversicht der Menschen am Nil sind maßgeblich im Gottvertrauen begründet.

Muslime und Kopten verbindet eine tiefe Religiosität. Mit ihr geht der Glaube einher, dass eine übermenschliche Macht es gut meint und am Ende alles richten wird – das persönliche Schicksal wie die Zukunft der Gemeinschaft, ja der Nation. Inshaallah – so Gott will: kein anderer Ausspruch wird im ägyptischen Dialog häufiger bemüht als dieser. Der permanente Gottesbezug auch bei Banalitäten ist Bestandteil der ägyptischen Alltagskultur.

Hier und heute

Bei politischen Debatten in Ägypten geht es selten um die Langzeitperspektive. Der Fokus liegt hier und heute. Der Horizont reicht in die kommenden Wochen und Monate. Eher selten wird darüber darüber debattiert, was in ein paar Jahren oder Jahrzehnten sein wird.

Ägyptischer Ausschuss billigt neue Landesverfassung; Foto: dpa/picture-alliance
Politisches Ringen um neue Verfassung: In Ägypten hat der Entwurf für eine neue Verfassung am Sonntag eine wichtige erste Hürde genommen. Der Entwurf wurde durch die Verfassungskommission angenommen. Der Text soll die von den Islamisten beeinflusste Verfassung von 2012 ersetzen. Das Militär hatte sie nach dem Sturz des Präsidenten Mohammed Mursi außer Kraft gesetzt. Übergangspräsident Adli Mansur soll über den neuen Entwurf ein landesweites Referendum abhalten.

In Deutschland ist die politische Auseinandersetzung radikal anders: Hier beherrschen Zukunftsthemen den Parteienstreit; es findet eine ernsthafte, zum Teil hochkomplizierte Diskussion der Technokraten über Haushaltssanierung, Energiesicherung, Renten und Altenpflege statt. Die heutige Generation sorgt sich um die nächste und schmiedet Pläne für ihr Wohlergehen.

Nichts von all dem in Ägypten. Hier leben die Politiker von der Hand in den Mund. In diesen Tagen geht es um die neue Verfassung. Hinter verschlossenen Türen beraten demokratisch nicht legitimierte (von der Regierung eingesetzte) Delegierte über ein neues Grundgesetz.

Für die Menschen in den Kaffeehäusern (und auf den Sofas vor den Fernsehern) ist das eher zweitrangig. Sie interessiert weniger die wohlklingende Phraseologie über Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde. Die Menschen reden vor allem darüber, wer der nächste Präsident sein wird. Die Prioritätenordnung ist ein Reflex der kollektiven ägyptischen Erfahrung: Am Ende ist es wesentlich wichtiger, wer das Land regiert, als unter welcher Verfassung er dies tut.

Nicht, dass die Verfassungsberatungen belanglos wären. Hier stehen Festlegungen mit erheblichen Implikationen für die Zukunft des Landes an. So werden die Grundzüge des Wahlrechtes darüber Aufschluss geben, wie die Ägypter in Zukunft ihr politisches Führungspersonal auswählen.

Tiefe Narben

Mit Argusaugen verfolgen die Beobachter die Debatten über die Prärogativen des Präsidenten. Je mehr Machtbefugnisse die Verfassungsschreiber dem Staatsoberhaupt zuschanzen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Verteidigungsminister General Abdel Fatah Al-Sisi seinen Hut in den Ring werfen wird. Al-Sisi ist der mit Abstand heisseste Favorit und in den Augen sehr vieler Ägypter der einzige Mann, der das kriselnde Land zu neuem Ruhm und Einfluss verhelfen kann.

Bevor man Aussagen zur Zukunft macht, sollte man die Vergangenheit kennen. Und: Man muß mit der Vergangenheit im Reinen sein, um die Zukunft zu meistern. Dieser Zusammenhang gilt auch für Gesellschaften und Nationen. Ägypten blickt auf eine turbulente jüngere Geschichte zurück. Blutige Konflikte, Hass und Tot haben tiefe Narben gerissen. Wie immer gibt es Gewinner und Verlierer.

Die viel zitierte nationale Einheit hat nur auf der Grundlage eines inklusiven politischen Systems eine Chance. Hierfür sind politische Kompromisse nötig. Zu einem erfolgreichen Prozess der nationalen Aussöhnung gehört auch die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit.

Proteste gegen Militärgerichte für Zivilisten in Kairo; Foto: DW/A.Wael
Rechtstaatlichkeit und Demokratie sehen anders aus: Proteste gegen Protest gegen Militärgerichte für Zivilisten in Kairo. Besorgniserregend ist mit Blick auf die Meinungsfreiheit vor allem das geplante Anti-Terrorismus-Gesetz. Der Entwurf des Innenministeriums definiert Terrorismus so vage, dass darunter auch Aktivitäten friedlicher Oppositions- oder Menschenrechtsgruppen verstanden werden können.

Die Ägypter müssten gar nicht so weit blicken, nach Südafrika etwa oder nach Marokko, um erfolgreiche Verfahren der transitional justice zu finden. Hierzu bedarf es des politischen Willens. In einem Klima der politischen Polarisierung ist dieser in Ägypten weit und breit nicht sichtbar.

Das Fehlen einer politischen Kultur des Kompromisses ist womöglich die größte Herausforderung Ägyptens bei der Bewätigung seiner Zukunft. Zwar sind sich alle einig, das Land steht vor kolossalen Problemen. Darüber, wie diese anzupacken sind, gibt es aber wenig Konsens.

Das Fehlen einer nationalen Vision

Einen strategischen Plan, eine nationale Vision, wie Ägypten in zehn, zwanzig oder gar fünzig Jahren aussehen soll, sucht man vergeblich. Vielleicht gibt es einen solchen Masterplan in einer Schublade, im öffentlichen Raum hört man davon nichts.

Die einzig belastbare Projektion, die die Runde macht, bezieht sich auf die Demographie: Bis 2050 – ein Jahr, das die Mehrheit der heute jugendlichen Ägypter erleben wird – soll die Bevölkerung am Nil von derzeit rund 90 Millionen auf 150 Millionen explodieren. Schon heute ist das Land übervölkert.

Der ungebremste Bevölkerungsanstieg beflügelt die Schwarzmaler, die prophezeien, Ägyptens Probleme seien nicht in den Griff zu bekommen. Sie warnen vor weiterer Verelendung, Hungerrevolten und Chaos.

Um die Lage in den Griff zu bekommen, rufen die Massen am Ende nach einer knallharten Militärdiktatur. Für eine liberale Demokratie sehen diese Horrorszenarien wenig Platz.

Damit die dunklen Vorhersagen das bleiben was sie sind – dunkle Projektionen von Pessimisten – müssten in Ägypten radikale und strukturelle Veränderungen erfolgen – und zwar sofort. Das Problem ist, dass diese drastischen Maßnahmen nirgendwo erkennbar sind.

Ronald Meinardus

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Mittelmeerländer der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Kairo.