Ist das die Stadtplanung der Zukunft? 

In Saudi-Arabien soll eine futuristische Öko-Stadt gebaut werden. Schnurgerade, für neun Millionen Einwohner. Ein Traum? Ein Kommentar von Gerhard Matzig  

Von Gerhard Matzig

Mahavir Bhakta ist in den einschlägigen Foren einer der Skeptiker dieser superlativistischen Städtebau-Utopie, die einerseits absurd und wahnsinnig genannt wird (so die übellaunigen Skeptiker), aber auch grandios und futuristisch (so die euphorisierten Fans). Als "The Line" erfährt die Utopie gerade ein rauschhaftes, möglicherweise aber auch nur bewusstseinserweiterndes Update. Zum Beispiel in den sozialen Medien und auf diversen Designplattformen, wo gerade Alarm herrscht. Bhakta meint, etwas maulend, aber auch in erfrischend ironischer Distanz: "Als SimCity-Experte sehe ich Probleme mit dem Brandschutz vorher." Ein Smiley gibt es auch dazu. 

SimCity, zur Erinnerung, ist ein fast schon wieder historisches Computerspiel, bei dem man sich eine Stadt nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip baut. Fern aller realen Widerstände, in spielerisch verträumter Weise - "widdewidde wie sie uns gefällt". Pippi Langstrumpf ist in diesem Fall aber His Royal Highness Mohammed bin Salman al-Saud. Kurz MBS genannt. Was als Kürzel übrigens auch die Mittelbrandenburgische Sparkasse MBS meint. Um eine Menge Geld, überbordenden Machtwillen, visionäre Gaben und delirierende Renditeträume wie unter Drogeneinfluss geht es möglicherweise nicht in beiden Fällen. 

Als Kronprinz Saudi-Arabiens und als Chefplaner der saudischen Planstadt Neom am Roten Meer, zu der "The Line" als Herzstück gehört, hat MBS - der nach Auffassung des CIA außer als Königliche Hoheit korrekt auch als mutmaßlicher Auftraggeber eines Auftragsmords anzusprechen wäre - soeben die weitere Planung der immer noch staunenden Weltöffentlichkeit präsentiert. Immer noch staunt die Weltöffentlichkeit, weil das Gebilde als futuristische Idealstadt schon seit 2017 bekannt ist.

Und weil der zentrale Baustein der Planung, es ist die titanische Koks-Linie "The Line", die einmal wirken könnte, als hätte der liebe Gott sein Lineal zwischen der Stadt Tabuk und dem Roten Meer in der Wüste liegen lassen, offenbar nun wirklich als 170 Kilometer langes, 200 Meter breites und 500 Meter hohes Raumkontinuum realisiert werden soll. Gedacht für bis zu neun Millionen Einwohner.

Städteprojekt Neom The Line; Foto: NEOM/AFP
"The Line", das Herzstück von Neom: Der zentrale Baustein der Planung der Öko-Vorzeigestadt ist die titanische Koks-Linie "The Line", die einmal wirken könnte, als hätte der liebe Gott sein Lineal zwischen der Stadt Tabuk und dem Roten Meer in der Wüste liegen lassen. Offenbar soll sie nun wirklich als 170 Kilometer langes, 200 Meter breites und 500 Meter hohes Raumkontinuum realisiert werden, gedacht für bis zu neun Millionen Einwohner. 



Was schon letztes Jahr angekündigt wurde, damals noch als Abfolge von unterschiedlichen Raumzentren (analog zur Bandstadt-Idee der Städtebaugeschichte), heute als einziger titanischer Bau aufscheinend, der einmalig wäre sogar in der Welt des Wahns, ist der autokratische Fiebertraum von einer autolosen Öko-Stadt, gespeist aus erneuerbaren Energien im Postpetro-Übermorgenland. Die Pläne davon wurden soeben konkretisiert.

Was soll man sagen? Das Vorhaben ist einerseits realistischer, andererseits aber sogar noch verrückter geworden. Allerdings geht es um eine Form der Verrücktheit, die interessant ist. Vor ihrem Hintergrund lässt sich die Frage stellen, ob die Stadt, wie wir sie kennen, vor ihrem absehbaren Ende als Klimakiller Nummer Eins steht. Falls sie sich selbst nicht neu erfinden kann: ja. 

Die euphorisierten Fans im Netz sehen das Ende der Tradition schon jetzt gekommen. Ein kurzer Abriss der Begeisterung liest sich so: "this is brilliant", "amazing", "go for it MBS!", "wow", "great", "this is the future". Ist es das, markieren Neom und darin "The Line" die Zukunft des Städtebaus in den postdemokratischen, furchtbar anstrengenden und zeitraubenden Teilhabe-Zeiten des Klimawandels

Eine Stadt, groß wie Belgien 

Neom besteht als Kunstwort des stadträumlichen Marketings aus den Teilen "neo" und "m". Das eine ist dem Altgriechischen entlehnt und steht für das Neue, das andere bezieht sich auf das Arabische und meint die Zukunft (mustaqbal). Die Planstadt mit angeschlossenem Technologiepark und Flughafen im Nordwesten des Landes, gelegen unweit vom Golf von Akaba auf einer Fläche in der Größe von Belgien, ist also - denn mehr ist mehr ist mehr - der neuen, ja allerneuesten Zukunft verpflichtet. Erinnert aber doch sehr an die alte Zukunft der gigantomanischen Planstadthistorie. 

Das Projekt soll Hunderte von Milliarden kosten, womöglich auch Billionen, wobei es dann schon egal sein dürfte, ob es um Dollar, Euro oder Saudi-Riyal geht. Für diese Investitionen, die derzeit kein Mensch seriös beziffern kann, wünscht sich das saudische Königshaus eine als eigene Wirtschaftszone ausgewiesene First-Class-Fahrkarte in die Zukunft der verstädterten Welt. Dass die neue Zukunft eine grüne Zukunft oder doch eine grüneingefärbte Zukunft ist: logisch. 

Übersichtskarte zu Neom; Foto: NEOM
Neom ist eine Planstadt im Nordwesten Saudi-Arabiens. Das als Megastadt konzipierte Projekt soll eine Fläche von der Größe Belgiens einnehmen (siehe Karte oben). Es ist die Vision eines ultramodernen urbanen High-Tech-Lebensraums und einer grünen Stadt, die sich aus erneuerbaren Energien und grünem Wasserstoff speist. Die offizielle Website des Projekts wirbt dafür, Neom werde den "Fortschritt der Menschheit" beschleunigen.



Neoms Energiebedarf soll (!) ausschließlich aus Wind- und Sonnenkraft gestillt werden. Neom, so der Kronprinz vergangene Woche, soll insofern eine "zivilisatorische Revolution" sein, "die den Menschen in den Mittelpunkt der Stadtplanung" stelle. Endlich. Schon vergangenes Jahr sagte MBS: "Nach der industriellen Revolution haben die Städte Maschinen, Autos und Fabriken den Vorrang vor den Menschen gegeben." Entstanden seien, da hat Seine Königliche Hoheit durchaus recht, umweltvernichtende und zudem lebensfeindliche Steinwüsten. In Neom soll dagegen alles anders werden.

Der "Fußabdruck der Infrastruktur" (unterirdisch) sei auf ein absolutes Minimum zu begrenzen, individualmotorisierten Verkehr gibt es gar nicht, ebenfalls unterirdisch fährt eine Hochgeschwindigkeitsbahn von einem Ende zum anderen Ende. Angeblich in nur 20 Minuten. 

Aber man braucht eigentlich gar kein Transportsystem, denn Grünräume, Kulturstätten, Bildungseinrichtungen, Freizeiträume, Sportmöglichkeiten, Arbeitsplätze ... das alles sei für jeden Einwohner von Neom "The Line" zu Fuß "innerhalb von fünf Minuten" zu erreichen. Fast wie in einem mittelalterlichen Städtchen also. Fast. Aber trotzdem ist der Futurismus wie mit Händen zu greifen, weshalb Dienstleistungen zu "100 Prozent automatisiert", also von KI ausgeführt werden.

Unter einem einzigen Dach. "The Line" kann man sich als 170 Kilometer hohen Wolkenkratzer vorstellen, der sich, möglicherweise ermüdet von der eigenen Ambition, zum Schlafen erst mal hinlegt. MBS, so MBS, stelle sich "den Herausforderungen, vor denen die Menschheit im urbanen Leben steht". 

 

 

Städtebauutopien boomen - auch wegen Putin 

Man will ein "Licht auf alternative Lebensweisen werfen". Das alles wird aus einer Hand geplant, bald soll es Realität werden. Man kann entwarnen. Seit Jahren kursieren alle möglichen Ideen für Öko-Super-Städte. Und obwohl sich so etwas nirgendwo so leicht (und so menschenverachtend) realisieren lässt wie in Autokratien: Es sind immer noch Ideen. Wenn man lange gut von der Vergangenheit gelebt hat, etwa von Energieträgern wie Öl, greift man nach dem Futurismus wie nach einer Rettungsweste.

Insofern ist es auch kein Wunder, dass die aktuellen Pläne nun so aufgeregt herumgereicht werden: Putin dreht am Gashahn wie am Schraubstock, in dem die Einwohner des fossilen Zeitalters gefangen sind. Mit jeder Umdrehung wird der Ruf nach alternativen Lebensweisen und autarken Städten lauter. 

Man hätte allerdings auch hierzulande den klimawandelgerechten Umbau der Städte längst beherzt angehen können. Städte sind wahre Klimakiller. Vielleicht ist ja dies die wahre Lehre aus den eindrucksvollen, visionären und vor allem suggestiven Futurismen, die abseits unserer ermatteten Städte im Sand entworfen werden: Wenn wir uns der Zukunft nicht stellen, werden es andere tun.

Die Autokraten, die darauf Lust haben, weil sie darin ein neues Geschäftsmodell (und natürlich, eh klar: die Rettung der Welt durch ihre Gnaden) erkennen, stehen längst bereit. Ein 170 Kilometer langes, 200 Meter breites und 500 Meter hohes Raumkontinuum, das man aus dem Nichts hoch, wenn nicht in die Länge zieht, und das mutmaßlich aus Stahlbeton und nicht aus Lehm und Jute bestehen würde, ist definitiv nicht die Zukunft. Aber eine schöne Utopie. Noch utopischer wäre es, wollten wir die jahrtausendealte Erfindung der Stadt nicht ständig neu idealisieren, sondern endlich auch menschen- und umweltgerecht umbauen. Ganz real. 

Gerhard Matzig 

© Süddeutsche Zeitung 2022