Versöhnung mit der Vergangenheit

Pierre Jarawans Debütroman, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland unter dem Titel "Am Ende bleiben die Zedern" veröffentlicht wurde, fängt die vielschichtige Existenz von Menschen ein, die ihre Heimat verlassen mussten. Richard Marcus hat das Buch gelesen.

Von Richard Marcus

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Samir, dem Kind zweier Flüchtlinge aus dem Libanon, Brahim und Rana el-Hourani. In den 1980er Jahren flieht das Paar vor den Schrecken des libanesischen Bürgerkriegs und erhält in Deutschland Asyl. Samir kommt in Europa zur Welt und wächst mit den Gutenachtgeschichten auf, die ihm sein Vater allabendlich erzählt, den Abenteuern des Helden Abu Youssef zum Beispiel, der mit seinem Freund Amir, dem sprechenden Kamel, auf seiner Schatzsuche quer durch den Nahen Osten reist; einen besonders hohen Stellenwert hat dabei immer das magischen Königreich Libanon.

Es wird deutlich, dass der Sohn den Vater - und damit auch die mythische Version des Libanon, die der Vater in seinen Geschichten heraufbeschwört – heiß und innig liebt. Leider kann Liebe, selbst die Liebe zum Vater, zu Enttäuschungen und Verletzungen führen. Für Samir beginnt diese Erfahrung zunächst ganz harmlos mit einer Dia-Show von der Hochzeit seiner Eltern. Endlich wird das, was vorher nur in der Phantasie existiert hat, wenigstens bis zu einem gewissen Grad real.

Zwischen den Fronten

Doch in diese Realität schleichen sich Misstöne: Einige Gäste auf der Hochzeit tragen Uniform und Waffen. Darauf erkennt man ein Abzeichen mit einer Zeder in einem roten Kreis. Auf einem der Fotos steht Samirs Vater neben Bachir Gemayel, dem Anführer der christlich-maronitischen Milizen.

Buchcover Pierre Jarawans "Am Ende bleiben die Zedern" im Berlin Verlag
"Am Ende bleiben die Zedern" ist eines der seltenen Bücher, die ihre Leser auf die innere und die äußere Reise einer Figur mitnehmen. Wir verfolgen nicht nur Samirs emotionaler Entwicklung, sondern auch seine geografischen Reise, die er unternehmen muss, um erwachsen zu werden und um sich so akzeptieren zu können, wie er ist. Ein Roman, wie geschaffen für unsere Zeit.

In den 1980er und 1990er Jahren war der Libanon ein umkämpftes Kriegsgebiet. Palästinensische Kämpfer bereiteten dort Angriffe auf Israel vor, und als Reaktion stürmte und bombardierte Israel immer wieder Flüchtlingslager.

Während des Bürgerkriegs unterstützte Israel die christlichen Milizen, die Syrer nahmen sich, was immer sie bekommen konnten und ein Großteil der libanesischen Bevölkerung – Muslime wie Christen – geriet zwischen die Fronten.

Bald nach der Entdeckung der Dias treten beim Vater erste Anzeichen einer merkwürdigen Veränderung auf. Er distanziert sich immer mehr von seiner Frau und seinen beiden Kindern.

Dann erhält er geheimnisvolle Anrufe aus dem Libanon, angeblich von seiner kranken Mutter. Er entfernt sich innerlich zunehmend von der Familie, bis er eines Tages einfach verschwindet.

Verfolgt von der Vergangenheit

Samir ist am Boden zerstört. Das Kind, das seinen Vater abgöttisch liebt, kann nicht fassen, dass dieser fröhliche, erzählfreudige Mann, der ein so prägender Faktor seines Lebens war, einfach nicht mehr da ist. Als seine Mutter stirbt und seine Schwester kurz vor seinem Schulabschluss in eine Pflegefamilie kommt, verschließt er sich völlig.

Doch die Fixierung auf den Vater bleibt bestehen. Obwohl Samir jahrzehntelang nichts von ihm hört, wirft der Abwesende einen Schatten über sein Leben. Samir gibt sich selbst die Schuld am Verschwinden seines Vaters und dem anschließenden Tod seiner Mutter (obwohl sie an einem unentdeckten Aneurysma im Gehirn stirbt) und sein Leben kann sich nicht frei entfalten.

Schließlich ermuntert ihn seine Geliebte, in den Libanon zu reisen und sich auf die Suche nach seinem Vater zu machen – oder zumindest dessen verworrene Biografie zu entwirren. Warum wurde er zusammen mit einem Milizenchef fotografiert? Gab es dunkle Machenschaften in der Vergangenheit seines Vaters? Oder existiert eine andere, komplexere Erklärung für sein überstürztes Verschwinden?

Durch die Schilderung von Samirs Leben mit dem Vater einerseits und seine hartnäckige Suche nach Antworten andererseits schlägt Jarawan einen großen Bogen, der zwei Länder und mehrere Jahrzehnte umspannt. Nicht nur Samir, sondern auch uns enthüllt sich nach und nach das wahre Bild des Vaters, und wir finden am Ende heraus, welches Geheimnis ihn innerlich zerfraß.

Das Trauma exorzieren

Durch das Erzählen seiner Familiengeschichte erweckt Jarawan die Erfahrung des Flüchtlingsdaseins zum Leben, wie es Samirs Eltern nach ihrer Ankunft in Deutschland erlebten. Zusätzlich stellt er sich einer noch schwierigeren Aufgabe: er zeigt, welche Auswirkungen die sentimentale Bindung von Vater oder Mutter an das Leben in der "alten Heimat" auf ein Kind haben kann.

In Samirs Fall ist das idealisierte Bild des Vaters untrennbar mit dessen betörenden Erzählungen vom Libanon verwoben. Als die Suche nach dem Vater den Sohn schließlich tatsächlich in den Libanon führt, wird er mit einer Wahrheit konfrontiert, die natürlich wenig mit dem Libanon zu tun hat, den er als Kind in der Phantasie vor sich sah. Denn der "neue" Libanon hat sich noch längst nicht erholt, weder vom Bürgerkrieg der 1980er Jahre noch von der darauffolgenden Besatzung durch fremde Mächte, vor allem Syrien.

Wo früher Religionen koexistierten, wo Christen und Muslime in guter Nachbarschaft wohnten, hat der Bürgerkrieg ehemalige Freunde voneinander entfremdet und – obwohl die Regierung sich um eine Rückkehr der Geflüchteten bemüht – ganze Viertel auseinandergerissen.

Jarawans Darstellung des Libanon wirft die Frage auf, ob nicht womöglich ein ganzes Land unter einem posttraumatischen Stresssyndrom leiden kann. Für all jene, die sich an die Vergangenheit erinnern, kann das Trauma von einer Sekunde zur anderen wieder aufbrechen.

Doch wirklich fesselnd wird der Roman durch die Menschen, mit denen Jarawan seinen Kosmos bevölkert. Mit Samir kann man sich mühelos identifizieren, seine Situation wird mit beeindruckender Präzision vorgeführt. Wir nehmen ihm jede seiner Freuden und Sorgen ab und lassen uns von seiner Suche so mitreißen, dass wir am Ende selbst der Lösung des Rätsels mit Nervosität und Bangen entgegensehen.

Auch wenn uns vielleicht manchmal die Ungeduld packt und wir nicht recht verstehen, warum Samir so besessen ist von einem Mann, der ihn als Kind im Stich gelassen hat, hoffen wir doch am Ende, dass er finden wird, was er sucht. Jarawan zieht uns so kunstvoll in Samirs Leben hinein, dass wir fast den Eindruck haben, es unmittelbar mitzuerleben.

"Am Ende bleiben die Zedern" ist eines der seltenen Bücher, die ihre Leser auf die innere und die äußere Reise einer Figur mitnehmen. Wir verfolgen nicht nur Samirs emotionaler Entwicklung, sondern auch seiner geografischen Reise, die er unternehmen muss, um erwachsen zu werden und um sich so akzeptieren zu können, wie er ist. Ein Roman, wie geschaffen für unsere Zeit.

Richard Marcus

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff

Pierre Jarawan: "Am Ende bleiben die Zedern", Berlin Verlag 2016, 448 Seiten, ISBN 9783827013026