Verbaler Kreuzzug

Der französische Autor Pascal Bruckner beschreibt in seiner 2020 erschienenen Streitschrift antimuslimische Ressentiments als eine Fiktion. Der Begriff werde nur verwendet, um Kritik am Islam zu unterbinden. Alexandra Senfft nimmt sein Buch zum Anlass für einen Essay über die Widersprüche einer populären, aber wenig differenzierten Sicht auf Islam und Muslime.

Essay von Alexandra Senfft

Um seinen Schülern Meinungsfreiheit zu lehren, nutzte der französische Lehrer Samuel Paty ausgerechnet auch die „Mohammed-Karikaturen“, die 2015 zum Mord an zwölf Redaktionsmitgliedern des Pariser Satiremagazins Charlie Hebdo führten. Er bot seinen Schülern im Unterricht offenbar an, den Raum zu verlassen oder wegzusehen, falls sie die Karikaturen anstößig fänden. Denn viele Muslime empfinden deren „sexualisierte Häme“ (Charlotte Wiedemann in der taz) als Verletzung ihrer religiösen Gefühle. Paty kannte diese Sensibilitäten, sonst hätte er es seinen Schülern nicht freigestellt, ob sie sich mit dem Unterrichtsmaterial befassen mögen. Sein Engagement kann man als mutig bezeichnen, angesichts der Umstände jedoch auch riskant oder vielleicht naiv.

Gerade erst hatte das Gerichtsverfahren gegen die islamistischen Attentäter der Charlie Hebdo-Redaktion begonnen und die Satire-Zeitschrift hatte es zum Anlass genommen, die Karikaturen abermals zu veröffentlichen. Es war also zu erwarten, dass das die Spannungen in einer seit Jahren aufgeheizten Auseinandersetzung erhöhen würde. Zugleich war der Islamismus mit der Zurückdrängung der terroristischen Miliz „Islamischer Staat“ durch eine internationale Allianz, zu der auch die Franzosen gehörten, nicht vom Erdboden verschwunden.

Vielmehr schwelen narzisstisch aufgeladene Visionen eines dschihadistischen Islam, verbunden mit überwältigenden Gewaltfantasien, vor allem unter jungen, leicht beeinflussbaren Menschen weiter. Am 16. Oktober 2020 wurde Paty nahe seinem Wohnort niedergestochen und enthauptet. Der Mord an ihm war eine Art Kriegsführung in einer europäischen Hauptstadt: Terror und Barbarei mitten unter uns.

Außereuropäische Tote zählen weniger

Allerdings finden weltweit islamistische Anschläge statt, deren Opfer meist Muslime sind, ohne dass die breite Öffentlichkeit in Europa davon Kenntnis nähme. Ganz zu schweigen von den vielen anonymen, zivilen Opfern westlicher Kriegsinterventionen. „Was ein Menschenleben wiegt, bemisst sich weiter nach kolonial geprägten Maßstäben; außereuropäische Tote zählen weniger“, so Charlotte Wiedemann.

Patys tschetschenischer Mörder war fast noch ein Teenager: Er wuchs in einer Art Zwischenwelt auf, losgelöst von der Herkunft seiner eingewanderten Eltern und nicht verankert in der neuen Heimat. Wie fern seiner Gefühle muss ein 18-Jähriger sein, der sich zum Strafrichter und Vollstrecker einer Todesstrafe erhebt und fähig ist, einen Menschen zu enthaupten? Am Ende waren beide tot, der Lehrer und sein Henker. Mord ist Mord, die französische Justiz kümmert sich um die Anstifter und Mittäter, der Rechtsstaat ist Richtlinie und Handlungsmotor.

Trauer in Frankreich nach dem islamistischen Anschlag von Nizza. (Foto: DW)
Terrorismus im Namen Gottes: „In Frankreich starben in den vergangenen Jahren 250 Menschen durch islamistischen Terror. Für derlei widerliche Taten gibt es keine Rechtfertigung, schon gar keine religiöse. Dennoch verlangen die Abgründe dieses Verbrechens nach Erklärungen und einer kühlen Analyse des Kontextes, schreibt Alexandra Senfft in ihrem Debattenbeitrag.

Einfache Erklärungen für einen archaischen Gewaltakt

In Frankreich starben in den vergangenen Jahren 250 Menschen durch islamistischen Terror. Für derlei widerliche Taten gibt es keine Rechtfertigung, schon gar keine religiöse. Dennoch verlangen die Abgründe dieses Verbrechens nach Erklärungen und einer kühlen Analyse des Kontextes.

Die interdisziplinäre Melange von Politik, Geschichte, Wirtschaft, Religion, Gesellschafts- und Individualpsychologie liefert hier keineswegs immer eindeutige Antworten. Die Komplexität der unterschiedlichen Erklärungsansätze ist angesichts eines solchen archaischen Gewaltaktes noch schwerer auszuhalten, und der Reflex, einer Logik von Gewalt zu verfallen, ist stark. Schnell sprachen auch hier zu Lande Meinungsmacher von Missionierungseifer, Eroberungssucht und der unterdrückerischen Natur des Islam und reduzierten ihn damit auf Verschleierung und Terror. Derlei grobe Generalisierungen nehmen alle Muslime in Sippenhaft. Das ist nicht nur ein Zeichen von Ratlosigkeit und Angst, sondern oft auch von Ignoranz und Alltagsrassismus, ob beabsichtigt oder nicht.

Auf der Gedenkfeier für Samuel Paty nannte Emmanuel Macron den Lehrer „das Gesicht der Republik“ und betonte, man werde die Freiheit und den Laizismus Frankreichs verteidigen. Paty sei das Opfer von Hass geworden – „einem Hass auf das, was wir zutiefst sind“. Der Staatspräsident skizzierte damit ein Wir und ein Ihr, eine gespaltene Gesellschaft. Das klingt nach dem „Kampf der Kulturen“, den der umstrittene amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington 1996 voraussagte. Die Mehrheit der französischen Muslime lebt allerdings weder abgeschottet von der Gesellschaft noch antagonistisch zu ihr.Macron und sein Fünf-Punkte-Plan: Wir und Ihr

Anfang Oktober hatte Macron seinen Fünf-Punkte-Plan gegen den „islamistischen Separatismus“ vorgestellt. Mit einem breiten Maßnahmenkatalog will er den Extremismus bekämpfen und in einen „französischen Islam“ umwandeln. Der laizistische Staat will also künftig entscheiden, wie eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ihre Religion auszuüben habe. Viele muslimische Franzosen befürchten, dass diese staatlich herbeigeführte Spaltung die weit verbreiteten antimuslimische Ressentiments weiter nährt.

Dass die Republik auch in Zukunft nicht auf verunglimpfende Karikaturen verzichten wird, machte auch Charlie Hebdo deutlich. Das Magazin hob sofort, trotzig, ein Cartoon vom türkischen Ministerpräsidenten Erdogan aufs Titelblatt, der den Schleier einer Frau lüftet. Darunter präsentiert sich ihr üppiger, nackter Hintern – das ist vulgär und nicht einmal witzig. Erdogan hatte Macron zuvor der Islamfeindlichkeit beschuldigt und zum Boykott französischer Waren aufgerufen. Die französische Tragödie wurde umgehend von der Weltpolitik vereinnahmt, eine Provokation mit der nächsten beantwortet, Feindbild gegen Feindbild in Stellung gebracht.

In einer befremdlichen Form von Selbstkasteiung glaubten nun sogar deutsche Linke von Kevin Kühnert über Sascha Lobo bis Dietmar Bartsch, sich durch Ignoranz gegenüber dem Islamismus schuldig gemacht zu haben – ohne diese jedoch angemessen zu belegen. Hauptsache, so dachten sie wohl, Linke schweigen jetzt nicht, so wie jene, die den Terror von rechts viel zu lange nicht wahrhaben wollten.

Demonstration gegen rechte Gewalt und Rassismus nach dem Attentat in Hanau im Februar 2020. (Foto: Reuters/K. Pfaffenbach)
Hoher Grad an Islamophobie in Deutschland: Deutschland sollte nach Einschätzung europäischer Experten stärker gegen Hass und Islam-Feindschaft im Netz vorgehen. "Die ständige islamophobe und fremdenfeindliche Rhetorik der extremen Rechten hat sich auf den politischen Diskurs hierzulande niedergeschlagen", beklagt die Antirassismus-Kommission des Europarats. In seinem am 17.03.2020 veröffentlichten Bericht benennt das Expertengremium nach wie vor bestehende Defizite bei der Erfassung von Hassreden im Internet wie in der Alltagswirklichkeit.

Darf man Charlie Hebdo „rassistisch“ und „islamophob“ nennen?

In der täglichen französischen Show „28 Minuten“ auf Arte bezichtigte der Intellektuelle Pascal Bruckner unterdessen die Publizistin, Feministin und Antirassismus-Aktivistin Rokhaya Diallo der ideologischen Komplizenschaft mit den Mördern der Charlie Hebdo-Redaktion.

Diallo hatte 2011 – vier Jahre vor dem Anschlag – einen Text unterzeichnet, in dem die Redaktion als „rassistisch“ und „islamophob“ bezeichnet wird. Bruckner unterstellte der Aktivistin allen Ernstes, die Killer bewaffnet zu haben und forderte sie auf, dafür die Verantwortung zu übernehmen. „Ihr Status als schwarze Muslimin macht Sie zu einer Privilegierten“, fügte Bruckner unverfroren hinzu, und sie missbrauche dieses Privileg, um Hass auf weiße Männer zu schüren.

Der 71-jährige Essayist und Romancier Bruckner zählt zur französischen Nouvelle Philosophie, deren Vertreter immer wieder durch Provokationen auf sich aufmerksam machen. 2013 unterzeichnete er das „Manifest der Bastarde“, in dem 343 Männer „Hände weg von meiner Hure“ forderten und sich gegen rechtliche Schritte gegenüber Freiern aussprachen. Das Manifest bezog sich auf die feministische Kampagne von 343 Frauen, die sich 1971 für die Legalisierung der Abtreibung einsetzten. Vor diesem Hintergrund zeugt Bruckners aggressiver Auftritt gegen die Feministin Diallo von einer fast obszönen Schieflage.

2014 erschien Bruckners Buch „Un bon Fils“ (Ein guter Sohn) über seinen Vater René Bruckner, Zeit seines Lebens ein fanatischer Antisemit, der Frau und Sohn misshandelte. Irgendwann, sagte der Autor, habe er angefangen, sich mit denen zu identifizieren, die sein Vater so hasste: die Juden. Der französische Intellektuelle, 1979 bekannt geworden durch sein mit Alain Finkielkraut verfasstes Buch „Die neue Liebesunordnung“, wird selbst oft als Jude wahrgenommen.„Nichts als überzogene Vorwürfe und Klischees“

Letztes Jahr hat Bruckner den Band „Der eingebildete Rassismus“ veröffentlicht, in dem er eine Reihe von Artikeln und Vorträgen präsentiert, die er nach den Themen „Islamophobie und Schuld“ untersucht. Das Spannungsfeld zwischen Opfern und Tätern ist auch hier sein Thema. Enttäuschenderweise liefert Bruckner jedoch nichts als überzogene Vorwürfe und Klischees. Er führt die französische Misere pauschal auf die Borniertheit „der Linken“ zurück, wobei unklar bleibt, wen genau er damit meint. Als Beleg nennt er überwiegend einflusslose Splittergruppen, oder er echauffiert sich über Vertreter des Antirassismus. Er behauptet, die Linken hätten nach dem Niedergang des Kommunismus im Islamismus eine Ersatzideologie gefunden, den islamistischen Terror verniedlicht und sich mit dem Islam als Religion der Unterdrückten überidentifiziert. Linke idealisierten Muslime als Opfer, anstatt sie für ihre Taten in die Verantwortung zu nehmen, womit sie in Wahrheit selbst die Rassisten seien.

Antimuslimische Ressentiments sind gemäß Bruckner ein „eingebildeter Rassismus“ – für ihn existiert ein Rassismus, der sich gegen Muslime richtet, schlichtweg nicht. Das ist intellektuell unlauter. Die Linke, so Bruckner, agiere als „Sprachpolizei“, die alles, was nach Rassismus aussähe, sanktioniere und damit die Meinungsfreiheit zugunsten einer diktatorischen muslimischen Minderheit opfere. Der Essayist behauptet, Linke behandelten liberale Muslime, die ihre Religion kritisieren, wie Verräter. Damit meint er jene „Islamkritiker“, die mit Pauschalurteilen krude argumentieren, während er Reformer, die keine bequemen Antworten liefern, ignoriert. Er schießt am Ziel vorbei, wenn er den Islam per se für gescheitert erklärt und behauptet, die Muslime seien unfähig, mit Freiheit umzugehen. Zugleich vermengt er Islam und Islamismus, weil er zwischen beiden wohl keinen Unterschied sieht. „Alles, was an der islamischen Zivilisation so bewundernswert war.... wird seit dreißig Jahren hinweggefegt und zunichte gemacht durch die Ausschreitungen der Profikiller Gottes“, so der Autor, der von den islamistischen Tätern auf alle Muslime schließt. Der Islam erscheint ihm „als Religion der Friedhofsruhe“.

Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin, Publizistin und Autorin.. (Foto: Frank Dabba Smith)
Fehlende Differenzierung: „Bruckners Buch ist das Potpourri eines offensichtlich enttäuschten Alt-68ers, der sich von emanzipierten Musliminnen und verschleierten Frauen die Lust am Minirock und an Prostituierten nicht nehmen lassen will. Sein Hohelied auf die französische Freiheit, die Laizität, ist Ausdruck einer eurozentristischen und postkolonialen Haltung. Frankreich, Europa und die Welt brauchen konstruktive Gedanken und Kritik – Bruckners hasserfüllter, verbaler Kreuzzug gehört nicht dazu“, schreibt Alexandra Senfft.

Vorurteile statt Differenzierung

Bruckner unterstellt dem renommierten Kenner des radikalen Islam, Olivier Roy, mangelnde Wissenschaftlichkeit, trägt aber seine eigenen Argumente selbst unwissenschaftlich und einseitig vor: Er pickt sich populistisch jene Aspekte heraus, die seine Vorurteile untermauern, während er Tatsachen unterschlägt, die einem komplexen Bild und der Differenzierung dienlich wären. Hauptsache Provokation.

Übergriffig wird es, wenn Bruckner oberflächlich über Schleier, Burka und Burkini lästert – der Schleier ist für ihn ein „Leichentuch“. Es ist außerdem chauvinistisch, wenn er Feministinnen vorwirft, die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln zu verharmlosen und die angegriffenen Frauen in angeblich antirassistischer Verblendung im Stich gelassen zu haben. Dabei hatten die Feministinnen lediglich gefordert, diese „Verbrechen nicht zu instrumentalisieren“, um über die Betonung der Herkunft der Aggressoren davon abzulenken, dass Frauen global mit machistischer Gewalt konfrontiert sind.

Entspricht es ferner der Wirklichkeit, wenn Bruckner Israel als „Hafen des Friedens und Reichtums inmitten eines durch Anarchie verwüsteten Orients“ bezeichnet? Dieses Diktum zeugt von einer Idealisierung und Überidentifizierung mit einem Staat, den er offenbar für den Inbegriff alles Jüdischen, ja des Judentums schlechthin hält.

Bei nüchterner Betrachtung ist Israel gesellschaftlich tief gespalten, zerrüttet von ungelösten Konflikten, regiert von Rechten und Ultraorthodoxen. Seine Vision des Friedens stellt Bruckner einer postulierten Anarchie im „verwüsteten Orient“ gegenüber, ohne auch nur ein Wort über die Hintergründe und eine Dynamik zu verlieren, zu der der „Okzident“ vom Kolonialismus bis heute nicht gerade wenig beigetragen hat.

Streckenweise ist Bruckners Rhetorik martialisch, seine Gedanken sind vermischt mit den christlichen Leitgedanken von Erbsünde und Versöhnung. Er bedient damit den verlogenen Diskurs, der in Deutschland von Konservativen unter dem Etikett „christlich-jüdische Leitkultur“ vorangetrieben wird. Ein Mord wie der an Samuel Paty ist Wasser auf die Mühlen jener, die die Welt in einen aufgeklärten, freien Westen (mit Israel als Verteidiger westlicher Werte im Nahen Osten) und einen rückständigen, unterdrückerischen und eroberungswütigen „Orient“ aufspalten.

Bruckners Buch ist das Potpourri eines offensichtlich enttäuschten Alt-68ers, der sich von emanzipierten Musliminnen und verschleierten Frauen die Lust am Minirock und an Prostituierten nicht nehmen lassen will. Sein Hohelied auf die französische Freiheit, die Laizität, ist Ausdruck einer eurozentristischen und postkolonialen Haltung. Frankreich, Europa und die Welt brauchen konstruktive Gedanken und Kritik – Bruckners hasserfüllter, verbaler Kreuzzug gehört nicht dazu.

Alexandra Senfft

© Qantara.de 2021

Pascal Bruckner: Der eingebildete Rassismus: Islamophobie und Schuld, übersetzt von Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hesse & Uli Krug, Edition Tiamat, Berlin 2020.

Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin, Publizistin und Autorin. Zu ihren Büchern gehören u.a. "Fremder Feind so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis".



https://www.alexandra-senfft.de

 

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