"Reinventing the Taliban"

Eine junge pakistanische Regisseurin reist nach Pakistan, um das Erstarken des islamischen Fundamentalismus zu dokumentieren. Ihr preisgekrönter Film wurde auch auf dem diesjährigen Münchner Filmfest gezeigt. Silke Kettelhake hat ihn gesehen.

Sharmeen Obaid-Chinoy; Foto: www.filmfest-muenchen.de
Sharmeen Obaid-Chinoy gewann als erste nicht-amerikanische Journalistin den Livingston Award

​​Peshawar, im Nordwesten von Pakistan, Hochburg der Fundamentalisten. Auf den Straßen nur Männer, auf den Märkten, Männer. Nur selten huscht eine völlig verschleierte Frau wie ein unerwünschter Fremdkörper um die staubigen Ecken.

Auf den Reklametafeln der Stadt sind die Gesichter der Frauen zerstört, zerschossen, verbrannt. Sie sollen nicht mehr zu sehen sein, haben keine Existenzberechtigung im Stadtbild.

Doch Sharmeen Obaid-Chinoy, eine junge Pakistanerin, aufgewachsen in den USA, ausgebildet an der Stanford University, blickt fest in die Kamera. Sie weiß, was sie tut. Sie ist jung, trägt ein farbenfrohes Kleid, mit leichter Hand zieht sie das Tuch übers Haar.

Sie fragt. Warum eine Hochzeitsfeier ohne Vorwarnung von der örtlichen Polizei gesprengt wurde, warum Musik verboten ist, in den Bussen jetzt drückende Stille herrscht anstelle des Volksweisengedudel, warum populäre Sänger nicht mehr auftreten dürfen, warum Musik- und Videokassetten verbrannt werden, warum Frauen nicht mit Männern zusammen arbeiten dürfen, warum ein Plakatmaler sagt: "Wenn ich nachhake, wieso meine Bilder verboten sind, werde ich eingesperrt."

Weltherrschaft der Taliban?

Zielsicher bewegt sich Sharmeen Obaid durch einen Landstrich, der zunehmend vom Terror der Taliban dominiert wird. Obaid ist in Jeans und mit der Musik von "Gun´s and Roses" im Ohr aufgewachsen, große Teile ihrer Familie aber leben in dieser Region Pakistans an der Grenze zu Afghanistan:

"Ich will nicht, dass meine Tochter in einem Land aufwächst, dass jegliche Humanität verloren hat", sagt sie im Interview. "Das, was die Taliban dem pakistanischen Volk antun, ist verantwortungslos und ungerecht. Ich wollte wissen, warum tun sie das, warum sind sie damit erfolgreich, und wer muss darunter leiden?"

Sie fragt die Initiatoren oder Meinungsmacher wie den Leiter einer Islamschule, Sami al Haqq: "Glaubst du nicht an die Scharia, glaubst du nicht an den Islam?", fragt er zurück.

Sharmeen Obaid bleibt hartnäckig. Von seinen geschlossenen Argumentationsketten lässt sie sich wenig beeindrucken. Dass die Taliban bald die gesamte arabische Welt beherrschen werden wie Sami al Haqq zuversichtlich prognostiziert, mag hoffentlich nur der Traum einiger alter Männer sein.

Osama bin Laden als Held auf Postern

Seiner Selbstgerechtigkeit begegnet sie mit Charme. Sie zeigt, wie es ist, wenn die Trennung zwischen Religion und Staat aufgehoben ist, sie ist dem waffenstarrenden Wahnsinn auf der Spur, wenn sie sich vorführen lässt, wie schnell per Hand todbringende Waffen hergestellt werden, wenn einfach so von einer Ecke des Marktes mit Schnellfeuergewehren Schüsse in die Luft gepumpt werden, dass die Häusermauern beben. Osama-bin-Laden-Poster verkaufen sich hier mit reißendem Absatz.

Angst scheint Sharmeen Obaid nicht zu kennen: "Doch, einmal hatte ich Angst, bei einer islamischen Demonstration. Unsere Kamera war auf mich gerichtet, ich war die einzige Frau auf den Straßen, überfüllt von aufgeregten Männern. Und nicht nur in Peshawar mögen sie keine Kameras ..."

"Die Burka macht dich blind"

Im Nachhinein schüttelt sie bei der Erinnerung an das Gespräch mit Razia Aziz, einem weiblichen Mitglied der Nationalversammlung, ungläubig den Kopf. "Eine Frau sollte ihre Grenzen kennen", meinte Aziz.

​​Sie behauptet, sie fühle sich frei in der Bewegung, frei, zu denken. "Was ist das denn für eine Freiheit, wenn man bis zu den Augen tief verschleiert ist?" entrüstet sich Sharmeen Obaid im Gespräch. Reaktionäre Worte, gerade von einer Frau, darüber kann sie sich auch zwei Jahre nach Fertigstellung des Films noch aufregen.

Da die Burka angeblich das "Fashion Statement" des Landes ist, hat sich Obaid in das trendy Plumeau mit dem Sichtfenster, das die Augen einsperrt, gequält:

"Unter der Burka konnte ich mir kaum vorstellen, wie Frauen darunter überhaupt Luft bekommen. Die Burka macht dich blind, du kannst nur die Dinge sehen, die genau vor dir auftauchen, du kannst nicht nach rechts oder links sehen, ziemlich gefährlich im Straßenverkehr. Ich fühlte mich nicht mehr wie ein menschliches Wesen, sondern wie ein verkleideter Alien. Dass die pakistanischen Frauen tatsächlich die Burka akzeptieren, kann ich mir nicht vorstellen."

Pakistan wird aufwachen

In Lahore, im Nordosten des Landes, schaut sie bei einer Modenschau hinter die Kulissen und befragt die Models, die westlichen Chic vorführen, über ihren Lebensstil, über ihre Erwartungen - weit weg von den staubigen Straßen mit schreienden männlichen Demonstranten.

Hier trifft Obaid Vertreter eines eher progressiven Islam. Zwar ist das Alhambra Art Center geschlossen, im Theater finden nur noch selten Aufführungen statt, und unabhängige Journalisten erhalten Todesdrohungen.

"Re-Inventing the Taliban" macht auch deutlich, wie tief die internationalen Verflechtungen des Konflikts sind, unterstützt doch Präsident Musharraf den Kampf der britischen und der US-amerikanischen Truppen in ihrem Feldzug gegen den islamistischen Terrorismus.

Und zudem ist Pakistan das bisher einzige islamische Land mit Nuklearwaffenprogramm. Sharmeen Obaid: "Die USA haben in der Region nicht konsequent ihre Ziele verfolgt, die Taliban können sich weiter entwickeln, im pakistanischen Parlament sitzen die Fundamentalisten. Pakistan kämpft anstelle der US-Regierung in einem Krieg, der so nicht gewonnen werden kann. Wir machen für sie die Drecksarbeit."

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brief@qantara.deDoch für ihr Land hat sie Hoffnung, Pakistan wird aufwachen, Schritt für Schritt, da ist sie sich ganz sicher: "Man muss daran glauben, nicht einfach aufgeben. Wir wollen keine Katastrophe in dieser Ecke der Welt! Pakistan hat die Atombombe!"

Ein gelungener Dokumentarfilm, der zu Recht viele Preise gewann: Special Jury Award, BANFF TV festival, Kanada, CINE Golden Eagle Award, American Women in Radio and Television Award. Außerdem gewann Sharmeen Obaid als erste nicht-amerikanische Journalistin den Livingston Award.

Silke Kettelhake

© Qantara.de 2005

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