Im Land der Sufis

Kein Land der islamischen Welt ist so stark von den Traditionen der Sufi-Kultur geprägt wie Pakistan. Doch sind die Sufis seit Jahren den Angriffen islamischer Hardliner ausgesetzt. Von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

"Ali Haydaaar“, schallt es über den Innenhof des Grabmals von Baba Schah Dschamal. Für einen Moment verstummen die ohrenbetäubenden Trommelwirbel, die die von Räucherduft erfüllte Luft zerreißen. Der langgezogene Lobpreis Alis stachelt Tänzer und Zuschauer an diesem Sufi-Schrein in der Altstadt von Lahore zu immer größerer Ekstase an. Ali (der Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed) gilt in der islamischen Mystik als Hüter der Weisheit und ist der Ursprung der meisten sufischen Initiationsketten — schließlich übertrug ihm der Prophet Mohammed vor seinem Tod die esoterischen Geheimnisse der Tradition.

Leicht schwankend stakst ein hagerer Malang-Derwisch über die Tanzfläche. Sein gelocktes Haar glänzt vor Öl. Um seinen Hals baumelt eine Kette mit bunten Plastikblumen. Die schläfrigen Augen lassen den trunkenen Tänzer wie weggetreten erscheinen. In seiner Hand hält er ein längliches Horn, in das er gelegentlich bläst. Neben ihm schüttelt ein weiterer Derwisch, gekleidet in eine mohnrote Tunika, seine lange Haarpracht durch die Luft.

Die Tanzbewegungen werden von einem Ensemble aus drei Trommlern untermalt. Mit Holzstäben schlagen sie auf massige Trommeln ein; mal behäbig, mal etwas schneller, und dann in rasanten Salven. Die Trommeln heißen dhol und erklingen jeden Donnerstagabend am Schrein von Baba Schah Dschamal, einem Sufi-Heiligen aus dem 16. Jahrhundert, über den aus historischen Quellen kaum etwas bekannt ist.

Der Schrein von Baba Schah Dschamal ist in der 14-Millionen-Metropole für wilde Nächte bekannt. Hier kann die Ekstase der Malang-Tänzer frei und ungebändigt ihren Ausdruck finden. Das Wort "Malang“ bezeichnet im Volksislam Südasiens eine Art mystischen Vagabund, der sich nicht den Gesetzen der Gesellschaft beugt und sich in den Augen der religiösen Orthodoxie verwerflich verhält.

Ekstase-Tanz im Innenhof des Schreins von Schah Dschamal: Foto: Marian Brehmer
Ekstatischer Tanz im Innenhof des Schreins von Baba Schah Dschamal in Lahore: An diesem Ort in der 14-Millionen-Metropole treffen sich die Sufis zu ihren Ritualen mit Musik und Tanz. Kaum ein Land in jenem geographischen Raum, den wir gemeinhin als "islamische Welt“ bezeichnen, ist so stark von den Traditionen des Sufismus geprägt wie Pakistan. Von den Himalaja-Gebirgstälern im Norden bis in die Wüsten Belutschistans, von den paschtunischen Stammesgebieten an der afghanischen Grenze bis in die Niederungen des Pandschab: Sufi-Volkskultur prägt zutiefst das religiöse Leben der Pakistaner, obwohl hier auch die Saat eines fundamentalistischen, mit Petrodollars finanzierten Islam aufgegangen ist.

An der Grenze zwischen haram und halal

Das Missachten von Konventionen und ein Verhalten an der Grenze zwischen haram (verboten) und halal (erlaubt) gehören zu den wiederkehrenden Motiven in Sufi-Traditionen zwischen Europa und Asien — ob bei den Meczup, den göttlichen "Verrückten“, auf den Straßen Istanbuls, oder den umherziehenden Wander-Derwischen Persiens. Mit der Malamatiya existierte im islamischen Mittelalter sogar eine mystische Bewegung, deren Anhänger sich zur Schulung des eigenen Egos gezielt der Kritik und den Schmähungen des Volkes aussetzten, etwa indem sie zu Gebetszeiten an der Türschwelle von Moscheen ein Nickerchen hielten oder öffentlich Wein tranken.

Kaum ein Land in jenem geographischen Raum, den wir gemeinhin als "islamische Welt“ bezeichnen, ist so stark von den Traditionen des Sufismus geprägt wie Pakistan. Von den Himalaja-Gebirgstälern im Norden bis in die Wüsten Belutschistans, von den paschtunischen Stammesgebieten an der afghanischen Grenze bis in die Niederungen des Pandschab: Sufi-Volkskultur prägt zutiefst das religiöse Leben der Pakistaner.

Dies gilt besonders für Lahore, Pakistans kulturelle Hauptstadt und neben dem Regierungssitz Islamabad und Wirtschaftsmotor Karatschi eines der drei wichtigen urbanen Zentren des Landes. Die Metropole im Pandschab ist voll von Sufi-Schreinen. Sie sind eingebettet in eine Kulturlandschaft, die genauso wie das 425 Kilometer Luftlinie entfernte Alt-Delhi (der islamische Teil des indischen Dehli) durch das architektonische Erbe der Mogul-Dynastie geprägt ist. "Pandschab“ bedeutet "Fünf Wasser“ und leitet sich von den fünf Flüssen ab, die sich durch die seit 1947 zwischen Pakistan und Indien geteilte Region ziehen.

Auch auf der turbulenten politischen Bühne Pakistans trat der Sufismus in der Vergangenheit immer wieder in Erscheinung — so haben sich beispielsweise manche politisch-islamistische Bewegungen aus Sufi-Orden entwickelt. Pakistans letzter Premierminister Imran Khan, der im April 2022 durch ein Misstrauensvotum des Parlaments abgesetzt wurde, heiratete kurz vor seinem Amtsantritt in 2018 nach Jahren der Beschäftigung mit dem mystischen Islam die Sufi-Lehrerin Bushra Bibi aus Pakpattan.

Die Badschahi-Moschee, das berühmteste Beispiel der Mogul-Architektur in Lahore; Foto: Marian Brehmer
Die Badschahi-Moschee in Lahore, zweitgrößte Moschee Pakistans, gilt als eines der bedeutendsten Werke der indo-islamischen Sakralarchitektur der Mogulzeit (1526 bis 1858) auf dem Subkontinent. Das Kernland des Reiches reichte von Lahore bis nach Delhi. Heute gilt Lahore als Pakistans kulturelle Hauptstadt neben dem Regierungssitz Islamabad und dem Wirtschaftszentrum Karatschi. Architektur aus dieser Zeit prägt auch das 425 Kilometer Luftlinie entfernte Alt-Delhi, der alte islamische Teil der indischen Stadt Dehli.



Die Kleinstadt im Pandschab ist bekannt durch die Grabstätte von Baba Farid, einem der wichtigsten Sufi-Mystiker des indo-pakistanischen Subkontinents. Baba Farid gehörte der Chishtiyya an, einem Orden, der für seine Förderung von hingebungsvoller Musik als spiritueller Praxis bekannt ist.

Ein Ruf als Brutstätte für Intoleranz und Terrorismus

Pakistan leidet seit einigen Jahrzehnten unter dem hartnäckigen Ruf, eine Brutstätte für Intoleranz und Terrorismus zu sein. In den 1980er Jahren wurde das Land zu einer Kaderschmiede der Mudschahidin, als unter Federführung des Militärdiktators Zia ul-Haq und dank großzügiger Finanzierung der Vereinigten Staaten sowie Saudi-Arabiens Gotteskrieger im Kampf gegen die Sowjets ideologisch auf Linie getrimmt wurden. Die Saat eines fundamentalistischen Islam, der mit der synkretistischen Tradition Südasiens kaum etwas gemein hat, plagt Pakistan bis heute und ist mit dem Aufkommen der Taliban in Afghanistan weiter aufgegangen.

In den letzten Jahren wurden Sufis in Pakistan immer wieder zur Zielscheibe von gewalttätigen Extremisten, ob bei Anschlägen auf Heiligenschreine oder gezielten Tötungen wie bei der Ermordung des Qawwali-Sängers Amjad Farid Sabri, der 2016 in Karatschi auf dem Rückweg von einem TV-Auftritt erschossen wurde. Bei einem Angriff auf den Schrein des ikonischen Heiligen Shahbaz Qalandar im Sindh tötete der sogenannte Islamische Staat 2017 neunzig Menschen, über dreihundert wurden verletzt.

Solche Attacken gelten der synkretistischen Kultur aus Sufi-Dichtung, Musik und Tanz, welche jenseits von religiösen Dogmen und Gesetzen die unmittelbare Gotteserfahrung des Gläubigen zum Ziel hat. In den Augen der Extremisten gleicht die Verehrung von Heiligen der Götzenanbetung, die zu den größten Sünden im Islam zählt. Stattdessen verschreiben die selbsterklärten Hüter des Islam eine puritanische Orthodoxie, wie sie von den Wahabbiten in Saudi-Arabien gepredigt wird und angetrieben von Milliarden Petrodollars das religiöse Leben in vielen islamischen Ländern ideologisch vergiftet hat.

Verbreitung des Islam durch Wanderprediger und Sufi-Heilige

Doch auch wenn der Einfluss der Hardliner über die Jahre stetig zugenommen hat, ist die mystische Frömmigkeit tief in der Religionsausübung der Pakistaner verankert. Es waren Wanderprediger und Sufi-Heilige, die im Mittelalter den Islam auf dem indo-pakistanischen Subkontinent verbreiteten. Ihr gottbeseeltes Charisma und das islamische Versprechen von Gleichheit vor dem einen Gott kamen in der durch das hinduistische Kastensystem geprägten Gesellschaft gut an.

In Südasien nahmen Muslime das bestehende Brauchtum in ihren eigenen Glauben auf: Hinduistische und buddhistische Wunderlegenden wurden auf muslimische Heilige übertragen, Rituale wie das Darbieten von Blumen und Opfergaben, welche in den Hindu-Tempeln Indiens praktiziert werden, avancierten zu einem Teil des Volksislam.

Eine Straßenszene aus der Altstadt in Lahore: Foto: Marian Brehmer
Straßenszene aus der Altstadt von Lahore: "Gegen die allgemeine Polarisierung in den Gesellschaften Südasiens können die Lehren des Sufismus, der auf die Transformation des menschlichen Egos abzielt, heute kaum mehr etwas ausrichten,“ schreibt Marian Brehmer. "Zudem haben Kapitalismus und die Politisierung vieler Sufi-Orden dazu geführt, dass der ursprüngliche Weisheitskern der mystischen Lehre verwässert wurde. Dies schien jedoch bereits im Mittelalter ein Problem zu sein: Schon im 11. Jahrhundert zitierte der große persische Sufi Ali Hudschwiri, der als Schutzpatron von Lahore gilt, in seinem mystischen Klassiker 'Die Enthüllung des Verschleierten', einen seiner Vorgänger: 'Einst war der Sufismus eine Wirklichkeit ohne Namen, doch heute ist er ein Name ohne Wirklichkeit.‘"



Angrenzend an den Hof mit den Malang-Tänzern befindet sich ein Friedhof, in dem Grüppchen von Männern in der Dunkelheit zum Gespräch zusammengekommen sind. Ein süßlicher Dunst von Marijuana liegt in der Luft. Abseits der Trommelwirbel, inmitten der Gräber, intoniert ein Quartett aus Harmonium, Tabla und zwei Sängern eine klassische Hymne aus dem Qawwali-Repertoire. Vorgetragen mit reichlich Emotionen, schallen die Verse in den Nachthimmel und auch Umherstehende stimmen in den Refrain ein.

Das Gedicht "Sason Ki Mala Pe“, einst verewigt durch die Stimme des großen Qawwali-Maestros Nusrat Fateh Ali Khan, ist das Zeugnis jener religionsübergreifenden Spiritualität, die den Fundamentalisten ein Dorn im Auge ist. Denn ursprünglich verfasste die indische Mystikerin Mirabhai im 15. Jahrhundert die Ode als Liebeslied an den Hindu-Gott Krischna: "Mit jedem Atemzug singe ich den Namen meines Geliebten / Ich kenne mein Herz und Gott kennt das Herz meines Geliebten. / Dies ist mein Gruß und mein Gebet. / Ein Liebender ging in einen Tempel, ein anderer in die Moschee, doch für mich — versunken in der Gottesliebe — war beides eins.“

Die Poesie Mirabhais stammt aus einer Zeit, die durch einen fruchtbaren Austausch zwischen den Mystikern unter Hindus und Muslimen geprägt war. Angesichts der Extremisierung des religiösen Lebens in Pakistan und der Verfolgung von Minderheiten — heute sind nach Schätzungen nur noch weniger als zwei Prozent der Pakistaner Hindus — scheint dieses goldene Zeitalter um Lichtjahre entfernt.

Auch in Indien hat die Politik der Hindu-Nationalisten unter Premierminister Narendra Modi dazu geführt, dass islamisches Kulturgut systematisch verdrängt wird, während Muslime in einem Klima der Angst vor Anfeindungen, Angriffen eines Mobs oder sogar der Zerstörung ihres Wohnraums leben müssen.

Gegen die allgemeine Polarisierung in den Gesellschaften Südasiens können die Lehren des Sufismus, der auf die Transformation des menschlichen Egos abzielt, heute kaum mehr etwas ausrichten. Zudem haben Kapitalismus und die Politisierung vieler Sufi-Orden dazu geführt, dass der ursprüngliche Weisheitskern der mystischen Lehre verwässert wurde.

Dies schien jedoch bereits im Mittelalter ein Problem zu sein: Schon im 11. Jahrhundert zitierte der große persische Sufi Ali Hudschwiri, der als Schutzpatron von Lahore gilt, in seinem mystischen Klassiker "Die Enthüllung des Verschleierten“, einen seiner Vorgänger: "Einst war der Sufismus eine Wirklichkeit ohne Namen, doch heute ist er ein Name ohne Wirklichkeit.“

Marian Brehmer

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